20. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2017

Kohl – Honecker: „Auf Wiederhören“

von Herbert Bertsch

Vernünftiges Handeln in der menschlichen Sphäre
ist nur möglich, wenn man die Gedanken, Motive
und Befürchtungen des anderen zu verstehen versucht,
so dass man sich in seine Lage zu versetzen weiß.
Albert Einstein,
1947

Am 19. Juni wiederholte Phoenix aus gegebenem Anlass ein langes Interview von Ulrich Wickert mit Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl aus 1999, als schon mal galt, was gegenwärtig bei allen Nachrufen, auch Nachschreien, gleichsam „vor der Klammer“ steht: das Abonnement auf einen Platz in den Geschichtsbüchern. Dazwischen bis gegenwärtig war das keinesfalls so sicher, wie derzeit verkündet. Wickert hatte einen originellen Einstieg gewählt, was Person und Gegenstand durchaus behagte und dennoch auch von kritischen Kritikern nicht angegriffen werden konnte: Die Mitteilung an den Gast, dass es sich mit ihm um den letzten Bundeskanzler handle, der noch, wenn auch keine richtige Kriegserfahrung, so doch solche Prägung habe. Das konnte der Bundeskanzler a.D. aus langjähriger Übung gut und gern bestätigen, war dies doch im Kern die von ihm geliebte These von der „Gnade der späten Geburt“. Dieser Aspekt seiner Kanzlerphilosophie galt nicht nur mit Bezug zu Juden und dem Staat Israel; das war auch Kitt zu Gorbatschow und Honecker, selbst wenn diese Beziehungen aus später gegebenem Anlass der Revision unterlagen – bis hin zur Spurentilgung: War doch nichts, und wenn das nicht durchgeht, jedenfalls nichts Persönliches.
Vielleicht hatte Kohl es schon immer so empfunden. Aber in der Sache war doch allerlei. Geschichte wird wiedermal umgeschrieben. Irgendwie passt da eines der bleibenden Worte von Kohl, nicht nur auf sein Verhältnis zu manchen Journalisten und der Öffentlichkeit bezogen, sondern auf seine Schwierigkeiten mit der „Wahrheit“: „Das ist eine klassische journalistische Behauptung. Sie ist zwar richtig, aber sie ist nicht die Wahrheit.“ (ARD-Tagesthemen, 22, Februar 1994)
Man mag sich darüber mokieren, sollte aber nicht die durchaus zutreffende Kernerkenntnis ausschließen: Es gibt zwar Fakten an sich, die aber selten nur unabhängig „für sich“ existieren. Bereits mit der Wahrnehmung wirkt der Wahrnehmer als deren Bestandteil bis zu „Ich kann nicht glauben, was ich sehe“ – und so fort.
Da war ein Staatsbesuch am 7. September 1987. „Hier stock ich schon“. War das doch ein Staatsbesuch, „der keiner sein durfte“. So betitelt 20 Jahre später ein analytischer Bericht im Deutschlandfunk. Jedenfalls war Honecker in Bonn, und Kanzler Kohl hatte ihn eingeladen. Wenn man das später ungeschehen machen will, lässt sich das relativieren; denn „eigentlich“ war das nur die verspätete Gegenvisite zum Besuch von Bundeskanzler Schmidt bei Honecker, seinerzeit immer wieder von Nachfolger Kohl herzlich angemahnt. Das war redlich gemeint, denn er vermutete richtig, das bringt „Zoff mit den Sowjets“. Als es dann ernst wurde, gingen die ausgesuchten Spitzfindigkeiten bis zur verordneten Wortwahl. Ministerin Dorothe Willms, damals in der offiziellen bundesdeutschen Delegation, erinnert sich der Anleitung, wonach man beispielsweise den Gast mit „Herr Generalsekretär“ anreden solle; „Herr Staatsratsvorsitzender“ sei zu meiden.
Das gleiche Ereignis, unterschiedlich empfunden; was bleibt als „Wahrheit“ für die Geschichtsbücher, wenn es „jähe Wendungen“ – eine von Honecker gern gebrauchte Relativierung – gibt? „Zum ersten Mal erklang die Staatshymne der DDR in Bonn, der Staatsflagge wurde die ihr zukommende Ehre erwiesen“, erinnert sich Honecker in den „Moabiter Notizen“. Da war er wieder in dem Gefängnis, in das er schon vor Zeiten als Antifaschist eingeliefert worden war. Wenn wir schon mal dabei sind: Dass er nun dort vor Gericht stand, hat sehr mit seinem langjährigen Brief- und Telefonpartner Kohl persönlich zu tun. Bei der inzwischen sagenumwobenen Begegnung mit Gorbatschow im Kaukasus stellte Kohl auch die Frage, was mit seinen Genossen in Deutschland geschehen solle. Teilnehmer berichten, dass Kohl in dieser Situation persönlich und auch „vor der Geschichte“ bereit gewesen sei, allen Forderungen oder Wünschen von Gorbatschow dazu als einem Aspekt seiner grundsätzlichen Zustimmung zur deutschen Einheit zu entsprechen. Er selbst sieht das in seinen Erinnerungen auch so. Gorbatschow reagierte bekanntlich mit der Bekundung, dass die Deutschen das doch unter sich regeln können/sollen/werden. Sein Nachfolger Jelzin hatte – vielleicht auch deshalb? – im Dezember 1991 verfügt, Honecker müsse nach Deutschland zurück, zwecks Prozess. Da begab es sich, dass die Familie Honecker in Moskau kurzzeitig Asyl in der chilenischen Botschaft fand. Dort erinnerte man sich wohl dankbar. Jedenfalls, bis der chilenische Präsident die Aufhebung des Asyls verordnete. Das geschah auf persönliches Ersuchen von Bundeskanzler Kohl.
Zurück zum Besuch. Helmut Kohl über die gleiche Situation in seinen „Erinnerungen“: „Es war mir zutiefst zuwider, dass ich mir die DDR-Hymne anhören musste und die DDR-Fahne mit Hammer und Zirkel aufgezogen wurde. Seit Wochen hatte es mir vor diesem Moment gegraut, doch ich musste es über mich ergehen lassen.“
Unbeschadet solcher Befindlichkeiten kursierte im DDR-Volksmund: „Einer reist für alle.“
Das Verhältnis von Honecker und Kohl hatte zuvor Hochzeiten durchlebt, etwas kam auch noch danach. Persönliche Briefe, Mündliches von Emissären, Telefonate. Hier die Schlusssätze aus dem Telefonat der Herren Kohl (zumeist der Anrufer) und Honecker am 19. Dezember 1983; wie es sich um die Jahreswende gehört auch mit besonderer persönlicher Anteilnahme:
Kohl: Ja. Also ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Honecker: Ja, Ebenfalls einen guten Rutsch ins neue Jahr. Wie ich gehört habe, werden Sie in der Umgebung von Ludwigshafen sein, dem schönen Gebiet dort.
Kohl: Ich muss so viel reisen. Ich bin froh, wenn ich mal daheim bin.
Honecker: Ist ja auch schön. Also besten Dank. Dann ebenfalls einen guten Rutsch. Auf Wiederhören.
Kohl: Auf Wiederhören.
Nach offizieller Zählung gab es allerdings nur drei Telefonate, weil man wohl keine weiteren Dokumente gefunden oder vor wissenschaftlichem Zugang den Bestand ausgelichtet hat.
In Richtung West wirkt ja die Wahrung der Persönlichkeitssphäre. Das führte – hinsichtlich von Unterlagen aus dem Bestand des MfS zu Helmut Kohl – zu einem Ergebnis, das Marianne Birthler freudig verkündete, und schon 2005! Von rund 7000 Seiten würden jetzt etwa1000 Seiten in zwei Aktenheftern zur Einsicht vorbereitet. „Die Behördenleiterin betonte aber, dass der Nachrichtenwert der Dokumente überschätzt werde und keine Details über Wirkungsweise und Tätigkeit des Altkanzlers herausgegeben werden.“ (Zeit Online, 30. März 2005)
Also machen wir hier weiter ohne diesen Fundus, aus dem die meisten Informationen über deutsch-deutsche Zustände und Verhältnisse geschöpft werden. Hörensagen zufolge gab es, zu bestimmten Zeiten gehäuft, jedenfalls mehr und stetige Kommunikation zwischen beiden, als jetzt „nachgewiesen“. Rasch nach Kohls Amtsantritt wurde von ihnen festgelegt, man wolle persönlichen Kontakt an den Apparaten vorbei durch Mittelsmänner pflegen und benannte dafür die Herren Schäuble und Schalck-Golodkowski. Diese Vertraulichkeit hat ja an- und allerlei ausgehalten. „Geh zum Schmied und nicht zum Schmiedl“ lehrt Volksweisheit.
Dass Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 durch das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt nach langem Anlauf Kanzler wurde, lässt sich leicht erinnern. Weniger bekannt dürfte sein, warum und wie er fast zehn Jahre zuvor in die Spur kam: Durch das misslungene Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen Kanzler Brandt am 27.  April 1972. Kanzlerkandidat Barzel fühlte sich vorab als sicherer Sieger, so dass er sein Schattenkabinett bereits um sich herum zum Vorzeigen bereitgestellt hatte. Um 13.22 Uhr nach der Stimmenauszählung für fast alle überraschend als Ergebnis – zwei zu wenig. So war Brandt noch einmal durchgekommen. Aber noch jemand profitierte davon. Auflösung in Spiegel Online am 15. Oktober 2013 rückschauend: „Barzel erholte sich nie mehr von dem Rückschlag, der junge Helmut Kohl löste ihn bald an der Spitze der CDU ab.“ Nur so konnte es überhaupt zur späteren Kanzlerschaft von Kohl kommen. So wirkt Schicksal.
Widerstrebend passte sich die erneuerte CDU/CSU der neuen Lage im Entspannungsprozess an. Dazu gehörte eine veränderte Wahrnehmung der DDR, wie umgekehrt eine veränderte Wahrnehmung der CDU/CSU durch die DDR, nicht mehr oder wenigstens nicht nur als traditionell überkommener Feind. Auf beiden Seiten wuchs die Erkenntnis, dass die neue Ostpolitik der SPD, auch mit Teilen der FDP und beginnend bei den Grünen, sich als zukunftsträchtig erweisen würde. Wie stark der persönliche Anteil von Kohl für die veränderte Strategie bei der CDU tatsächlich war, ist schwer zu bewerten. Dass er „zum Jagen getragen werden“ musste, hörte man hinter vorgehaltener Hand oft. Hinzu kam, dass die Vereinigungsrhetorik auch nicht mehr trug. Den eigenen Verbündeten war sie überdies lästig und förderte deren Misstrauen, ein vereinigtes Deutschland könne als Preis dafür einen blockfreien Status einnehmen. Jedenfalls hatte Kohl zumindest nichts mehr gegen eine veränderte Strategie; zumindest ließ er sich auf eine Probephase ein.
Am 22./23. November 1973 gab es die 46. Begegnung vom „Bergedorfer Gesprächskreis“ unter dem Titel „Neutralität – Wert oder Unwert für die europäische Sicherheit“ in Wien. Einer der Hauptreferenten war der damalige Außenminmister und spätere Bundespräsident Österreichs, Rudolf Kirchschläger.
Zu dieser Tagung heißt es in der Dissertation von Michael B. Klein mit dem Zitel „Das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (abgekürzt IPW – H.B.) in seiner Gründungsphase 1971 bis 1974“, die 1999 bei Duncker & Humblot erschienenist, dass „[…] zahlreiche hochrangige Persönlichkeiten aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben Europas teilnahmen, so u.a. […] der luxemburgische Außenminister Thorn, für die EG Professor Ralf Dahrendorf […] Der anwesende IPW-Vertreter, Prof. Bertsch, nutzte die Gelegenheit und unterstrich nachdrücklich, dass eine entwickelte ökonomische Zusammenarbeit bis in die Bereiche der direkten Kooperation durchaus vorstellbar sei – eine Stellungnahme, welche Albert Norden in einer internen Anweisung ausdrücklich angeordnet hatte, einerseits, um das eigene Interesse an guten Beziehungen zu verdeutlichen und anderseits, um die ökonomische Stabilität der DDR zu verbessern.“
Wie bei solchen Treffen üblich, gab es verstärkt bundesdeutsche Teilnehmer, von denen in unserem Zusammenhang Theo Sommer, seit 1. Januar 1973 Chefredakteur der Zeit, und Walter Leisler-Kiep, Schatzmeister der CDU, der 1972 im Bundestag für die Ostverträge gestimmt hatte, besondere Beachtung verdienen. In der offenen Diskussion, ohne Begrenzung von Teilthemen und Zeit, mit der Freiheit zu Zwischenbemerkungen, wurde dem Thema große Zuwendung zuteil – mit dem Befund: Es gibt keine ernstlich tragfähige „neutrale“ Option für Ost oder West, logischerweise auch nicht innerhalb der gegebenen Bündnissysteme. Die bestätigende Position des Teilnehmers aus der DDR wurde von der Konferenz ohne besondere Überraschung „akzeptiert“, mit positiver Grundstimmung.
In diesem Zusammenhange empfahl mir Theo Sommer vor einer längeren Einlassung expressis verbis jetzt genau hinzuhören. Seine Kernsätze: „Hier kann ich mit aller Offenheit, oder mit einer offeneren Begründung, als es einem Vertreter unserer Regierung möglich wäre, sagen: […] Nun gibt es manche, auch unter unseren Freunden im Westen, die meinen, vielleicht sei die Ostpolitik, die in den letzten drei oder vier Jahren ins Werk gesetzt wurde, im Kern gar nicht die Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit, sondern in Wahrheit nur der getarnte Anhang einer neuen Wiedervereinigungspolitik, also bloß eine Durchgangsstation zum Neutralismus. […] Diese Politik bedeutet auf absehbare Zeit das Ende der Wiedervereinigungspolitik mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, die nun einmal neben einander entstanden sind, soweit wie möglich zu verbessern. Insofern bedeutet das das Ende der alten Illusionen und nicht den Anfang einer neuen Illusion.“
Ausklang der Konferenz war ein Empfang des Bürgermeisters im Wiener Rathaus, ohne Sitzordnung, jeder mit jedem nach Bedarf, oder auch nicht. Der Begleiter von Walter Leisler-Kiep suchte mich mit der Mitteilung, sein Chef möchte gerne mit mir sprechen. Und der Frage, ob ich auch? Wir waren rasch im Gespräch. Seine Botschaft: Ich möge die Führung der DDR wissen lassen, dass die CDU im Falle einer Kanzlerschaft dazu bereit und in der Lage sei, die Entspannungspolitik der gegenwärtigen Regierung gegenüber und mit der DDR nicht nur weiterzuführen, sondern auch weiter zu entwickeln. Er stünde jederzeit zu internen Gesprächen mit geeigneten, kompetenten Partnern der DDR bereit, gern in der DDR. Er beendete die Offerte nachdrücklich: Generalsekretär Biedenkopf und Parteivorsitzender Kohl seien von dieser Initiative informiert und damit einverstanden, auch, dass er mir dies bei dieser Gelegenheit unterbreite. Ich bedankte mich für das Vertrauen und fragte, wie er die Darlegungen von Sommer bewerte. Also weniger ob der Absage an Neutralität, sondern mehr hinsichtlich der betonten Akzeptanz der Zweistaatlichkeit. Er bestätigte, dass wir bei vertraulichen Gesprächen etwa diese Einstellung auch als seine Ausgangsposition voraussetzen könnten.
Das war’s. Wir mischten uns wieder unter die anderen Gäste, und ich hatte ein Problem. Kiep hatte weder eine Person noch ein Amt als gewünschten Adressat für sein Angebot genannt. Er und die Seinen wollten da zunächst was testen. Die erprobte Methode: Man wirft einen Stein ins Wasser und wartet die Wellen ab. Aus der erhofften Reaktion könnte man einen Hinweis gewinnen, wer in der DDR hinsichtlich der BRD „das Sagen“ hätte. Die Unsicherheit war nicht so abwegig. Nur zur Erinnerung: Honecker war am 3. Mai 1971 zum 1. Sekretär des ZK der SED gewählt worden, Stoph am 3. Oktober 1973 zum Vorsitzenden des Staatsrates. Als seinerzeitiger Ministerpräsident hatte Stoph die Beziehungen mit der BRD zu vertreten gehabt. Er war seinerzeit Partner von Kanzler Brandt und hatte danach auch die Initiative zum späteren Grundlagenvertrag ergriffen.
Der Direktor des IPW, Herbert Häber, zuvor schon als Stellvertretender Abteilungsleiter im ZK und als Stellvertretender Staatssekretär auch im Staatsapparat erfahren, leitete Kieps Angebot direkt, also nicht über den eigentlich für das IPW zuständigen ZK-Sekretär Alber Norden, an Parteichef Honecker weiter, inklusive unserer Einschätzung: „[…] dass die DDR im Zuge der Normalisierung der Beziehungen auch Gespräche mit der parlamentarischen Opposition in der BRD führen solle.“ Man hätte das auch so lesen können, dass dies noch Wiedergabe von Kiep war.
Der Parteichef fragte nicht weiter zurück, aber tat etwas, das manche in Erstaunen versetzte. Über seine „Vogelflug-Linie“ informierte er Herbert Wehner von dieser CDU-Initiative und fragte, ob man darauf eingehen sollte. Wehner reagierte zornig aus zwei Gründen: Einmal, dass Honecker darauf eingehen wolle, was er nicht wünschte, zum andern, dass er dazu um Rat gefragt wurde. Wörtlich, so die Fama: „Der muss doch mal was selbst entscheiden.“ Den Vorgang hielt Wehner aber für so wichtig, dass er am 22. Januar 1984 in einem Schreiben an Brandt den Sachverhalt schilderte nebst Vermutung, Honecker werde darauf eingehen. Ob Brandt das ebenfalls als eine Art Verrat an den SPD-geführten Exklusivbeziehungen zur DDR empfand, kann bezweifelt werden. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Ostpolitik in der bundesdeutschen Gesellschaft doch schon viel tragfähiger war und Brandt möglicherweise intern auch deren Protangonisten in der CDU zu eigenen Beiträgen ermunterte. Bahr jedenfalls fand das eher nützlich. Vermutlich teilte auch Kanzler Schmidt diese Einschätzung, als Wehner auch ihn informierte. Falls die CDU-Führung keine internen Kontakte zur Regierung gehabt haben sollte und irrtümlich Vertrauensbrecher suchte: Honecker war’s. Darauf bin seinerzeit auch ich nicht gekommen.
Am 14. Dezember 1973, also etwa zum Zeitpunkt der Information an Honecker – nicht dadurch veranlasst, aber passend – wurde Herbert Häber Leiter der Westabteilung im ZK und hatte damit auch den Status, um mit Honeckers Weisungen dauerhaft der kompetente Gesprächspartner für Leisler-Kiep zu sein. Im „Westen“ war damit zweifelsfrei angekommen, wer in der DDR „das Sagen“ hatte. Wie das weiterging, sich vernetzte, wer da einbezogen wurde, das kann man teilweise in den „Häber-Protokollen“ nachlesen; immer noch eine unbestrittene Hauptquelle der vertraulichen deutsch-deutschen Gespräche. Die Verbindung Häber/Leisler-Kiep übrigens hat als persönliche Beziehung die Zeiten überdauert und wurde bis kurz vor Kieps Ableben gepflegt; ein ziemlich singulärer deutsch-deutscher Vorgang.

*

Der Tod von Kohl und der Kampf um seine Unterlagen verweist auf einen Zustand, der für ein geschichtsbezogenes Volk in seiner Einheit und dessen Führung geradezu unerträglich sein müsste. Die Geschichte, zuvor das Geschehen, der deutsch-deutschen Beziehungen wird rund dreißig Jahre nach dem Beitritt noch immer und hauptsächlich auf der Quellenbasis erforscht, die der untergegangene Staat mit seinen Strukturen hinterlassen hat; die wiederum von den Geschichten- und Geschichtsschreibern der überkommenen Gesellschaft und deren Meinungsführern nach Belieben interpretiert werden, in der Regel ohne seriösen Vergleich mit den Partnerunterlagen. War deutsch-deutsch denn wirklich und hauptsächlich eine Angelegenheit der untergegangen DDR? Ist Geschichte noch Jahrzehnte später als nachträgliche Legitimation in der Systemauseinandersetzung verwendbar? Der aktuelle Anlass wäre eine gute Gelegenheit, Schriftengleichheit nicht nur einzufordern, sondern zumindest in der Materialbasis zu praktizieren. Das wäre doch eine angemessene Würdigung von Helmut Kohl, der abschließend das Wort haben soll: „Nationale Identität wird vor allem gestiftet durch das Wissen um die historischen und kulturellen Wurzeln. Nur so gewinnen wir die Orientierung, die wir brauchen, um uns in der Gegenwart zurechtzufinden und Perspektiven für die Zukunft vorzuzeichnen.“ Dies ist überschrieben mit „Weichenstellung für die Zukunft“, veröffentlicht in Die Politische Meinung 32/1987. Was damals galt, kann doch heute nicht falsch sein – war mal eine gern geübte Entschuldigung in der BRD …
Manche waren und sind verwundert, wie rasch und kompetent Honecker und Kohl zusammenfanden, als dieser endlich Kanzler wurde. Das hatte seine Vorgeschichte.