21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Nation, Heimat und Patriotismus

von Stephan Wohanka

In der Gedenkstunde zum 9. November sprach Bundespräsident Steinmeier vor dem Bundestag. Es ist schon vertrackt – die Novemberrevolution 1918, der Hitler-Putsch 1923, die Reichspogromnacht 1938 (15 Jahre nach dem Putsch), der Mauerfall 1989; alle diese Ereignisse tragen dieses Datum. Der Präsident sagte, dass dieser „Schicksalstag der Deutschen gemischte Gefühle“ auslöse „von Scham über die Pogromnacht bis zur Freude über den Mauerfall“. „Doch“ – so ein Kommentator weiter, der auch die Meinung anderer aufzugreifen meint – „Steinmeier ging das Wagnis ein, die beiden Stränge der deutschen Geschichte nicht nur gegenüberzustellen: Er verband sie.“ Wagnis deshalb, weil es scheine, „der Bundespräsident rufe am Holocaust-Gedenktag (der ist zwar am 27. Januar, aber das Gedenken an das Pogrom mag dafür stehen – St.W.) zu mehr Patriotismus und Nationalstolz auf“. Er reagiere damit auf den „Zeitgeist“ und wolle über Begriffe wie „Nation und Heimat Menschen“, ja mehr noch „Feinde der Demokratie zurückgewinnen“. Alles in allem: „… ein weiterer Schritt, diese Themen den Rechten zu entwinden und sie damit noch zu bedienen“.
Ich werte das anders. Ich vermag nicht einzusehen, weshalb Begriffe wie Nation, Heimat und Patriotismus „die Rechten bedienen“ sollten?
„Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen. Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. […] Ja, wir lieben dieses Land. Und nun will ich euch mal etwas sagen: Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich ‚national‘ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. […] Wir sind auch noch da. Sie reißen den Mund auf und rufen. ‚Im Namen Deutschlands … !‘ Sie rufen: ‚Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.‘ Es ist nicht wahr. Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.“
Als Blättchen-Leser wissen oder ahnen Sie wenigstens, wessen Worte Sie eben lasen; ja, die Tucholskys! Obwohl nicht sonderlich geschätzt – aber in Sachen Heimat, der Liebe zu ihr will ich doch den Autoritätsbeweis bemühen: Tucholsky ist über jeden Verdacht erhaben, irgendeiner Volkstümelei oder politischen Duselei rechts von der Mitte aufzusitzen; was sich zusätzlich noch daran zeigt, dass er Heimat gegen Patriotismus stellt.
Jedoch – sollten wir ihm in Letzterem, dem „Sich-übertreffen-lassen-im-Patriotismus“ auch (weiterhin) folgen? Ich meine nein, darin sollten wir heutzutage über ihn hinausgehen. Und zugleich auf die von Tucholsky aufgezeigte Differenz zwischen Patriotismus einerseits und „internationalem Fühlen“ andererseits rekurrieren: Patriotismus wird so zu einer politischen Kategorie, da in Beziehung zu anderen Ländern gesetzt; mit Wirkung nach innen natürlich. Das scheint im Widerspruch dazu zu stehen, dass über die Psychologenzunft hinaus nicht nur Nationalismus, sondern auch Patriotismus als Emotion verstanden wird, die aus Nationalstolz erwachse. Aber ist nicht jedwede menschliche Haltung und Handlung in mehr oder minder großen Teilen gefühlsgesättigt, emotional determiniert? Gefühl und Politik sind keine Gegensätze; mehr noch – heutzutage erleben wir geradezu eine zum Teil bis ins Unerträgliche gesteigerte Emotionalisierung, ja Hysterisierung von Politik.
Die Frage also: Müssen sich Patriotismus und Internationalismus – modern gesagt Globalisierung, Weltläufigkeit, Multilateralismus, das Eintreten für Stärkung und Vertiefung der EU – tatsächlich ausschließen? Ich denke – nein. Man kann sehr wohl als Patriot für die Eigenständigkeit, die Stärkung, den wachsenden Wohlstand seines Vaterlandes sein, wenn man derartiges Bemühen zumindest nicht mit Mitteln verfolgt, die gegen andere Länder gerichtet sind, sondern im besten Falle dieses Geschäft mit ihnen zusammen oder gemeinsam betreibt. Man hilft sich gegenseitig voranzukommen. In der Regel sind die Menschen, die Patriotismus so leben, und das ist wichtig zu betonen, auch „gute“ Demokraten. Aber auch Nationalisten erheben für sich den Anspruch, Patrioten zu sein; der Grad ist also tatsächlich schmal.
Sich eher links Verortende sollten davon abkommen zu meinen, Patriotismus falle zwingend in eins mit einem reaktionären, xenophoben Trachten als Grundlage nationaler Identität. Denn dass Patriotismus heute als Deckmantel für rechtes Gedankengut dient, liegt auch am Versagen der Genannten, eine progressive und offene Form der Vaterlandsliebe zu teilen. Einen schlagenden Beweis dafür liefert die am 13. Oktober in Berlin veranstaltete „Unteilbar-Demonstration“: Eine dort mitlaufende Gruppe trug eine Deutschland- und eine Europafahne mit sich – und machte deshalb viele „unerfreuliche“ Erfahrungen, ja traf auf blanken Hass. Beinahe unvorstellbar, sprachlos machend, aber doch Realität: „Übrigens offenbarten viele Rückfragen, dass Schwarz-Rot-Gold historisch völlig falsch eingeordnet wurde, etwa als Symbol des ‚Dritten Reichs‘. Eine Demonstrantin schrie, das sei die ‚Flagge des Holocaust‘“. Paradoxerweise kann diese Ignoranz nur Aufforderung sein, offensiv mit legitimen demokratischen Symbolen umzugehen …
Es ist mehr als an der Zeit für einen aufgeklärten Patriotismus – einen Patriotismus, der sich zum Geringeren am Mitführen der Deutschlandfahne festmachte, sondern vor allem am souveränen Umgang mit den Grundwerten unserer Verfassung und unserer demokratischen Kultur. Beides gilt es praktisch zu leben und nötigenfalls auch von anderen einzufordern oder gegen sie zu verteidigen. Daran mangelt es, allen lauen Bekenntnissen zum Verfassungspatriotismus zum Trotz. Die eben erwähnte Demonstration mag als kleines Zeichen für eine mögliche Trendwende stehen …
Natürlich können und dürfen die Abgründe unserer Geschichte nicht beschwiegen werden, das hat auch der Bundespräsident so gehalten. Heute ist das Wissen darüber – wieder – in Teilen vor allem der jüngeren Bevölkerung rudimentär, wie obiges Beispiel zwar seitenverkehrt, jedoch eindrücklich demonstriert. Da hilft nur, mit bildungspolitisch gut gewählten, prägnanten Inhalten konsequent gegenzusteuern. Aber diese Vergangenheit in ein Gebot münden zu lassen, Nation, Heimat und Patriotismus moralisch und politisch zu ächten, halte ich für falsch.
Es war die völkische Überhöhung des Heimatgefühls, die xenophobe Instrumentalisierung der Vaterlandsliebe, die zum Missbrauch des einen wie der anderen führten und die den Zivilisationsbruch förderten und letztlich ermöglichten. Diesem Missbrauch ist entgegen zu treten und die ausdauernde Neigung mancher linker Altvorderer, an die heutigen Debatten die Maßstäben von gestern anzulegen, hilft in der gegenwärtigen politischen Lage nicht (mehr) weiter. Wer darin Ein-dem-Zeitgeist-Hinterherlaufen sieht, sei’s drum…, ich sehe darin die – nach dem Missbrauch und den langen Schatten, die dieser bis heute wirft – notwendige Rehabilitierung von aufs Lokale bezogenen Gefühlen, Emotionen, aber auch reflektierten Bewusstseinsinhalten als mentales Korrektiv, als Anker für ein Leben in einer globalen Welt: Gerade als bewusst fühlender Deutscher kann ich ein überzeugter Europäer sein.
Besser als Max Tholl kann ich es nicht sagen: „Ein linker Patriotismus ist ein Eingeständnis, dass die Nation fehlbar und ungerecht ist. Er hinterfragt, anstatt zu glorifizieren. Aber, und das ist der Knackpunkt, er akzeptiert das Verlangen, sich über Nationalität zu identifizieren oder bei der Nationalhymne ein Wir-Gefühl zu verspüren. Will die Linke zu alter Stärke zurückfinden, sollte sie anfangen, Flagge zu zeigen.“