von Wolfgang Kubiczek
Was verbindet Russen und Deutsche und was hat sie im Verlauf der Geschichte getrennt? Welche Folgen hatte ihr Verhältnis für Europa, in guten wie in schlechten Zeiten? Und wie steht es heute mit dem Verhältnis der „fremden Freunde“ zueinander?
Antworten auf diese und andere Fragen suchte Katja Gloger, die russische Geschichte, Politik und Slawistik in Hamburg und Moskau studierte und Anfang der neunziger Jahre für den Stern aus Moskau berichtete. In ihrem Buch „Fremde Freunde“ schlägt sie einen weiten Bogen vom Kiewer Rus über die Eroberungszüge der Kreuzritter im 12. Jahrhundert, den Livländischen Krieg im 16. Jahrhundert, die „Modernisierung von oben“ durch Zar Peter I. im 18. Jahrhundert und die beiden Weltkriege bis in die Neuzeit. Vorweg: Selten hinterlässt ein Buch über Russland einen so widersprüchlichen Eindruck.
Eine tragende These ist die von der deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft, wobei die Deutschen als Helfer der Modernisierung und „der erzwungenen Europäisierung des russischen Reiches“ auftreten. Dabei wertet die Autorin die verbreiteten Stereotype von den unzivilisierten slawischen Barbaren im Osten, die eine Gefahr für den entwickelten Teil Europas darstellten, durchgängig kritisch.
Mit Hilfe der Deutschen Katharina der Großen, ihrer Südexpansion und der Eroberung der Krim vollendete Russland schließlich seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht. Am 8. April 1783 erklärte Katharina II. die Krim „von nun an und für alle Zeiten“ als russisch. Begeisterung brach in deutschen Landen aus, als Russlands Armeen 1813 Preußen von der napoleonischen Besetzung befreiten und Zar Alexander I. in Paris einzog. Am Rande zitiert die Autorin Clausewitz, der auf russischer Seite gegen Frankreich gekämpft hatte: Solange Russland nicht an eigener Schwäche zerbreche, sei es unbesiegbar. Der Zerfall der Sowjetunion bestätigte seine Voraussage.
Größte Aufmerksamkeit widmet Katja Gloger dem stürmischen 20. Jahrhundert. Von ideologischen Vorurteilen geprägte Wertungen mehren sich indes, je näher sie der Neuzeit kommt. Beispiel: die Oktoberrevolution 1917. Laut Gloger war eine Kriegslist der Deutschen ursächlich für den „Staatsstreich“, vollzogen mit Hilfe eines „skrupellosen kommunistischen Berufsrevolutionärs“ Lenin und finanziert mit deutschen Geldern. Ziel sei ein Separatfrieden mit Russland gewesen, zu dem es dann auch kam. Die eigentlichen Ursachen für die Übernahme der Macht durch die Bolschewiki – die Zerrüttung der Verhältnisse im zaristischen Russland, der Glaubwürdigkeits- und Machtverlust der Provisorischen Regierung, die entgegen allgemeiner Kriegsmüdigkeit die Kampfhandlungen an der Front fortsetzte – spielen im Buch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen werden spektakuläre Einzelheiten der Eisenbahnfahrt Lenins aus dem Exil in den Mittelpunkt gestellt.
Ähnlich aus dem historischen Zusammenhang gerissen wird der deutsch-russische Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) vom 23. August 1939. In der Sowjetunion war man sich seinerzeit bewusst, dass jeder Krieg gegen eine europäische Großmacht für das eigene Land vernichtende Folgen haben könnte. Oberstes Ziel war es daher, die schlimmste Konstellation – eine antisowjetische Front kapitalistischer Staaten – zu verhindern. Hatte man das bis zu Hitlers Machtantritt durch Sonderbeziehungen mit Deutschland versucht, orientierte man nun, da Nazi-Deutschland zur größten Gefahr geworden war, auf Kooperation mit den Westmächten. Die jedoch verhandelten nur halbherzig, wie die Autorin selbst feststellt. Unter Ausschluss der UdSSR und der Tschechoslowakei stimmten sie im Münchner Abkommen dem Anschluss sudetendeutscher Gebiete der CSR an das Deutsche Reich und damit seiner territorialen Expansion zu. Alarmiert von solcher Appeasement-Politik sah Russland als einzigen Weg, einer Isolation zu entgehen, die direkte Verständigung mit Hitler-Deutschland. Das führte zu obigem Vertrag und der allerdings verheerenden Absprache über die Teilung Polens und Osteuropas in Einflusssphären.
Die Autorin verleitet das zu Thesen, die einer Erika Steinbach würdig wären: „Hitler und Stalin: Sie waren nun Verbündete einer von ihnen geschaffenen Weltkriegsallianz.“ „An der Entfesselung des Krieges war, so kann man es sagen, auch die Sowjetunion beteiligt.“ Hinter der Weigerung der Westmächte, gemeinsam mit der UdSSR eine Anti-Hitler-Koalition zu bilden, und ihrem Verrat an den Verbündeten Tschechoslowakei und Polen stand jedoch die Absicht, Hitlers Aggression gen Osten zu lenken. Dazu fehlen im Buch ernsthafte Ausführungen.
Einen besonderen Platz nimmt der Krieg Nazideutschlands gegen die Sowjetunion ein. „Jahrzehnte blieben die monströsen Verbrechen der Deutschen im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eine Leerstelle der deutschen Erinnerungskultur“, schreibt Gloger. Abgesehen von der Unsitte, Westdeutschland mit Deutschland gleichzusetzen, ist es eine mutige Feststellung, zumal die „Leerstelle“ sich heute eher ausweitet. Katja Gloger jedenfalls ist bemüht, Erinnerungslücken zu schließen. Berührend schreibt sie über die Blockade Leningrads. „Wer weiß schon, dass allein in Leningrad doppelt so viel Zivilisten starben, wie während des gesamten Weltkriegs deutsche Zivilisten den alliierten Luftangriffen zum Opfer fielen?“
Die Autorin weist nach, dass den Befehlshabern der Wehrmacht die Ziele des Unternehmens „Barbarossa“ schon früh bekannt waren. Die Mehrheit der Generäle machte sich zu Komplizen dieses Planes. „Im darwinistischen ‚Vernichtungskampf‘ um das deutsche ‚Dasein‘ und dessen ‚Lebensraum‘ sollte die Sowjetunion nicht nur militärisch besiegt, sondern der sowjetische Staat und die slawischen ‚Untermenschen‘ insgesamt zerstört werden.“
Erst Mitte der neunziger Jahre debattierte man im Westen als Folge der Wehrmachtsausstellung über die Täter. „Doch die sowjetischen Opfer ihrer Verbrechen blieben weiterhin auf merkwürdige Art unsichtbar“, resümiert die Autorin. Es brauchte noch zehn Jahre, bis der Bundestag eine 45-minütige Debatte zum 70. Jahrestag des Überfalls ansetzte. Erstmalig wurde auch ein weiteres Kriegsverbrechen erwähnt: das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Wehrmacht ließ drei Millionen der über fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen elendig zugrunde gehen. „Bald nach Kriegsende vergaß man sie oder rechnete ihr Leid gegen das der deutschen Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern auf.“ Katja Gloger nennt es „Geschichtspolitik nach westdeutscher Art“. Während man in Berlin genügend Platz für die umstrittene „Einheitswippe“ fand, existiert kein Denkmal für die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, kritisiert sie.
Zu den in der DDR weitgehend ignorierten Opfern des Krieges gehörten Deutsche im sowjetischen Exil, die oft einer doppelten Verfolgung – durch den faschistischen deutschen Staat und den stalinistischen Machtapparat der Sowjetunion – ausgesetzt waren. Unter den 6000 deutschen Emigranten befanden sich 4800 KPD-Mitglieder. „Auch im wiedervereinigten Deutschland“, schreibt Gloger, „wollte sich lange niemand so recht an die deutschen Antifaschisten und Kommunisten im Moskauer Exil erinnern.“ 70 Prozent der deutschen KPD-Emigranten befanden sich 1938 in Lagerhaft oder wurden hingerichtet. Die KPD habe damit mehr Opfer durch Stalin als durch Hitler zu verzeichnen gehabt, rechnet die Autorin aus. Rückkehrern wirft sie vor, durch ihr Schweigen zu einer „der großen Lebenslügen der DDR“ – der unverbrüchlichen Freundschaft zur Sowjetunion – beigetragen zu haben.
Der Abschnitt „Wenn die Russen kommen“ hat es dem Rezensenten besonders angetan. Man lernt als erstes: „Echte Befreier waren sie nie – sonst wären sie wieder gegangen.“ Gilt das auch für die Westalliierten? Die Antwort bleibt offen. Oder meint die Autorin, die mehrheitlich von faschistischer Ideologie infizierten Deutschen hätten sich selbst entnazifiziert?
Wenig später heißt es: „Die Soldaten der Roten Armee kamen nicht als Befreier – sie kamen als Sieger voller Hass.“ Wie schizophren muss man denken, wenn man zuvor die Gräueltaten der faschistischen Wehrmacht in der Sowjetunion beschreibt, anschließend aber beklagt, dass sowjetische Soldaten voller Hass waren?
Nicht fehlen dürfen die „russischen Vergewaltigungen“. Zwischenzeitlich ist ausreichend dokumentiert (ZDF-Doku „Die Verbrechen der Befreier. Amerikas dunkle Geheimnisse im Zweiten Weltkrieg“), dass nicht nur „die Russen“ vergewaltigten. Eine unvergleichlich größere Zahl von Vergewaltigungen verübten deutsche Militärangehörige in der Sowjetunion. Katja Gloger räumt denn auch ein, dass die Wörter „Russe“ und „Vergewaltigung“ quasi zum Synonym wurden und „vor allem in der Bundesrepublik zur Rechtfertigung eines Feindbildes [dienten], mit dem man sowohl eigene Kriegsschuld verdrängen als auch antisowjetische Stereotype legitimieren konnte.“
Die Autorin versucht, das Verhältnis der Ostdeutschen zu den Russen zu ergründen. Sie stellt fest, dass für Stalins Besatzungspolitik Reparationen von entscheidender Bedeutung waren. Da der Westen Zahlungen verweigerte, hatte Ostdeutschland die Last allein zu tragen. Der Wert (geschätzt 35 Milliarden Mark) war zwar nur ein Bruchteil dessen, was Deutsche in der Sowjetunion zerstört hatten, aber die Demontagen erschwerten zweifellos den Wiederaufbau Ostdeutschlands. Die Ostdeutschen, so die Autorin, „leisteten die größten Reparationszahlungen des 20. Jahrhunderts.“
Heiterkeit erregt Gloger bei ehemaligen DDR-Bürgern gewiss, wenn sie beschreibt, wie sie sich in ein „sowjetisch-sozialistisches Utopia träumen“ sollten: Am Frauentag schenkte man den Damen angeblich „das fürchterlich süße Moskauer Einheitsparfüm Krasnaja Moskwa“, nach dessen „Veilchengeruch“ laut Fußnote „das ganze Imperium zwischen Wladiwostok und Marienborn“ duftete. Mit Verlaub: Unsinn! Überdies sind da noch, völlig unverständlich, die vielen Russland-Versteher. Matthias Platzeck etwa wird im Buch zur „Kremlhofschranze“ herabgewürdigt. In der jüngsten Debatte gehe es wohl eigentlich um „deutsch-deutsche Befindlichkeiten […] Als ob man einen letzten Rest DDR-Identität zusammenkratzen wollte.“ Angebracht wäre es gewesen, die Ursachen etwas tiefer zu ergründen, zumal auch Michail Gorbatschow zitiert wird: „Es war die DDR, die für uns Russen zum Tor zu den Deutschen wurde, die erste Schritte zur menschlichen Versöhnung ermöglichte.“
Die Ostpolitik – laut Autorin zum Mythos verklärt – hätte zwar unter Willy Brandt Aufbruch und Neubeginn bedeutet, sei später aber „zur realpolitischen Kungelei mit den Mächtigen“, zum „Appeasement mit den Regimen in Osteuropa und der Sowjetunion“ (Joachim Gauck) verkommen. Kritisiert wird der Begriff der „Sicherheitspartnerschaft“ aus den 80er Jahren genau wie Egon Bahrs These „Sicherheit ist der Schlüssel zu allem.“ Offenbar fehlt hier das Verständnis dafür, dass in einer Welt voller Massenvernichtungswaffen – so banal es klingen mag – Frieden das oberste Gebot bleibt, und den kann man nur durch vertragliche Vereinbarungen zwischen denen erreichen, die darüber verfügen, ob man deren Herrschaftsmethoden akzeptiert oder nicht.
Katja Glogers Buch durchzieht – man kann es nicht anders ausdrücken – eine schon pathologische Obsession gegen Wladimir Putin. Die Fixierung auf ihn als Bösewicht verhindert eine ausgewogen kritische Analyse der Verhältnisse im heutigen Russland. Allein die Feststellung, in „Putins Russland präsentieren sich […] Patrioten in einer kriegsbereiten Festung mit ihrem von Gott gesandten Präsidenten auf orthodoxer Erlösungsmission“, reicht dazu nicht.
Beigefügt ist dem Buch ein Interview mit Gerhard Schröder. Kernaussage: „Wir sollten im Westen nicht so tun, als würden wir nicht in Interessensphären denken.“ – offenbar gedacht als Ausgleich zur Anti-Putin-Polemik. Glogers Werk ist jedem zu empfehlen, der sich über die Geschichte des deutsch-russischen Verhältnisses informieren will. Vorausgesetzt ist ein kritischer Blick auf das Geschriebene.
Katja Gloger: Fremde Freunde: Deutsche und Russen – Die Geschichte einer schicksalhaften Beziehung. Berliner Verlag in der Piper Verlag GmbH. München 2017, 553 Seiten, 28,00 Euro.
Schlagwörter: Deutschland, Erinnerungspolitik, Geschichte, Katja Gloger, Russland, Wolfgang Kubiczek