von Herbert Bertsch
In Kants Jahren konnte der Gelehrte nicht aufklären, weil man ihn nicht ließ; zu unseren Zeiten nicht, weil man ihn nicht liest, weil er die Massen nicht erreicht.
Ludwig Marcuse
„Aufklärung damals und heute“
(Die Zeit 6/1964)
Der USA-Tourist in Moskau, um 1975, fragt listig: Bei uns kann man vor jedem öffentlichen Gebäude den Präsidenten und andere Politiker angreifen, beleidigen, den Abtritt fordern – und hier? Der staatliche Stadtführer nickt: Hier auch.
Auch in der DDR? Im Prinzip ja; aber ganz freihändig konnte man nach dem 1. August 1975 nicht so verfahren, obgleich es gewiss Anlass dazu gegeben hätte. Am 4. September 1974 hatten die USA als 110. Staat diplomatische Beziehungen zur DDR aufgenommen, ohne besondere Auswirkungen. Jetzt aber waren aus Helsinki Bilder eingegangen, die bedeutende Staatsmänner im Vier-Augen-Gespräch und beim Unterzeichnen der Schlussakte zeigten: Helmut Schmidt, Erich Honecker, Gerald Ford, Bruno Kreisky. Das war und blieb die höchste politische Zusammenkunft USA-DDR. Dabei war es kein Geheimnis, dass der Staatsratsvorsitzende seine außenpolitischen Aktivitäten spätestens nach der Visite in Bonn durch einen Staatsbesuch in Washington gekrönt hätte. Das wusste man auch in der Chefredaktion des alten Neuen Deutschlands. So erfuhren USA-Präsidenten dort Nachsicht, eine Art Rabatt als potenzielle Gesprächspartner.
Daran dachte vermutlich niemand, als kürzlich im ND eine heftige Be- und Abwertung Donald Trumps durch Friedrich Schorlemmer erschien. So kommentierte der Evangelische Pressedienst (Ost): Schorlemmer fand bei Luther Worte, „die auch Trump verstehen könnte“: „Soll man denn zulassen, dass lauter Flegel und Grobiane regieren, wenn man’s sehr wohl besser machen kann?“ Und daraus abgeleitet: „Wir müssen zurück zu international verlässlichen Regeln in einer fragilen, multipolaren und globalisierten Welt …“
Damit sind wir im Normbereich bundesdeutscher Erörterungen. Eine Mischung aus Empörung, diffuser Angst und schließlich der Hoffnung: Trump bleibt ein Unfall der Geschichte; die personelle Revision sei im Interesse aller, und selbst der Mord von Dallas wird erörtert. Damit alles wieder so gut wird, wie es nie war. Was sind die „verlässlichen Regeln“ und was ist der prinzipielle Aspekt Trumpscher Regelverletzung? Welcher Präsident hätte dieses Amt wohl je erlangen können, ohne Versprechen und praktische Politik im Sinne von „America first“?
Die offene Verkündung dieses Sofortprogramms könnte also kaum das deutsche Echo begründen. Der Kern der Unzufriedenheit speziell in deutscher Interpretation, die Empörung lässt sich schnell und ziemlich genau erklären: Jetzt trifft der Präsident mit Ankündigungen und Aktionen andere als die bisher von der USA-Politik Betroffenen, die „üblichen Verdächtigen“. Jetzt trifft er einheitlich hemmungslos auch jene, die an der Ausgestaltung solcher USA-Entscheidungen als willige Helfer und Profiteure mitgewirkt haben.
Diese Mutation von Mittätern zu Opfern im großen Stil traf die Öffentlichkeit aber unerwartet. Die Enttäuschung wird ungefiltert kundgetan, auch wenn es zunehmend Stimmen gibt, die dies nicht für sonderlich klug halten. Verrat ist in der Witterung. „Wir“, so Schorlemmer, eine Gemeinschaft beanspruchend, waren doch fest auf Hillary Clinton und mit ihr auf „weiter so“ eingeschworen. Ist das der Dank für unsere uneingeschränkte Beihilfe auch bei dubiosen Aktionen?
Als die Bestrafungspolitik der USA mit „unserer“ moralischen Zustimmung und Mitwirkung andere traf: Wo, wann und wie haben die erbitterten Trump-Kritiker in Regierungen und Redaktionen bei seinen Vorgängern protestiert? Etwa, als das „Reich des Bösen“ definiert wurde und zumindest Europa vor unumkehrbaren militärischen Auseinandersetzungen stand? Oder als es in der frühen Deutschlandpolitik um die Zerstörung der deutschen Wirtschaftseinheit ging, um den Missbrauch von Handel und Wirtschaftsbeziehungen als Schläge auf den Magen ungeliebter Nachbarn, was schon unter das Rubrum Terror fällt. Ja, es gab Gegenmeinungen und Aktionen; die wurden folgerichtig national und „rechtens“ sanktioniert, ganz gemäß amerikanischen Erwartungen.
Embargos, Sanktionen, Handelskriege gibt es nicht erst seit Trumps Ankündigung, dass er an Autos als heiligstes deutsches Gut ran will. 1917 – in keinem Zusammenhang mit den Vorgängen in Russland – trat in den USA der „Trading with the Enemy Act“ in Kraft. Damit können Präsidenten Sanktionen gegen Staaten, Unternehmen und Privatpersonen verhängen und Verbündeten, Vasallen, aber beispielsweise auch der Schweiz, Wohlverhalten mit Auflagen verordnen. Derzeit sind rund 6000 Unternehmen und Personen betroffen. Das wird heute thematisiert, weil Trump im großen Stil rundum denunziert und praktiziert. Begonnen hat alles schon vor Jahrzehnten. Und immer gab es Opfer, aber uns betraf es ja nicht.
Ab jetzt gilt eine neue alte Ordnung, die von einer Zentralmacht ausgeht. Sind Interessen auf dieser Basis nicht zu harmonisieren, ist zunächst zu entscheiden, ob das jeweilige Projekt als unbedeutend eingestuft wird, weshalb es folgenlos bleibt. Anderenfalls sind alle Möglichkeiten zur Durchsetzung zu nutzen, auch ohne Abwägung aller Nachteile. Es gibt keinen Plan B – weder als, noch im Prinzip. Bei dieser Strategie sind jähe Wendungen fast die Norm, daraus erwachsende Unberechenbarkeit wird als Taktik positiv interpretiert. Man ist bei einer Revision schon rascher als der Gegenpart mit ersten Reaktionen.
Nehmen wir die Beziehungen von Staaten und Unternehmen zu Iran als Beispiel für die Neugestaltung, auch die Qualität internationaler Vertragstreue heute. Bei Airbus sind 100 Passagiermaschinen im Wert von 27 Milliarden Dollar bestellt. Für die Erschließung weiterer Erdgasvorkommen hat die französische „Total“ einen 5-Milliarden-Dollar-Auftrag. Siemens hat schon … mit Kraftwerksbauten begonnen. Jetzt fordern die USA, dass die europäischen Konzerne darauf verzichten, spielen aber zugleich mit der Idee, auch grundlegend eine eigene Politik gegen – eventuell mit – Iran zu installieren.
Kein Zweifel: Trump nutzt den Welthandel und die Verflechtungen der Volkswirtschaften als Waffe zur Neuordnung mit den USA im Zentrum. Ist das nicht Konsequenz bisheriger US-Weltpolitik, modernisiert für eine neue Konstellation der Weltmächte? Hat er gleichsam nur den Schleier weggezogen, der verhüllt, wie Kapitalismus funktioniert, eingeschlossen Wandlungsfähigkeit, Anpassung und Selbstdarstellung? Vor solchen Herausforderungen stehen nicht nur die USA; sondern jegliche „Kapitalismen“. Auch der in Russland und ehemaligen Sowjetprovinzen, welcher strategischen Ausrichtung auch immer. Gilt übrigens auch in der Rückschau. Unter der „Herrschaft der Nationalsozialisten“ – wie dieser Teil deutscher Geschichte zunehmend firmiert — hatte der seinerzeitige Kapitalismus seine spezifisch deutsche Ausprägung entfaltet. Ohne Demokratie, hinsichtlich der eigentlichen Funktion aber sehr ertragreich; auch langlebig im Ergebnis, wie zahlreiche heutige Vermögen in Deutschland beweisen.
Es gibt kein Lehrbuch und keine Verpflichtung, wie Kapitalismus sein muss, (jedenfalls sind wechselnde „Werte“ europäischer Staaten kein Maßstab). Irgendwann ist innerhalb des Systems die Zeit des „Regime change“ gekommen, früher gern mit militärischen Mitteln realisiert. Geht auch anders, möglicherweise wie jetzt mit der Losung „America first“ versucht.
Madeleine Albright sagt: „Donald Trump ist der am wenigsten demokratische Präsident in der modernen US-Geschichte.“ Aber er ist gewählt, mit oder ohne Putin. Was Frau Albright stört, bedeutet für einen Teil der Amerikaner offenbar keinen Makel. Gefragt, was denn Putin wolle, antwortet sie: „Er möchte Demokratie untergraben, wo immer es möglich ist: bei seinen unmittelbaren Nachbarn, in Europa, in den USA. Er sieht demokratische Regierungen als Feind für sein System. (…). Und er hat erkannt, dass Trump die Welt als Nullsummenspiel sieht, sie in Gewinner und Verlierer einteilt.“ Was Frau Albright hier stört, bedeutet dem Großteil der Russen offenbar keinen Makel.
Senator Lindsey Graham sagt: „Die Sowjetunion mag zerfallen sein; aber das Böse, das sie verkörpert, lebt und gedeiht in Putins Russland“. Deshalb lehnt er die erneuerte Mitwirkung Russlands bei den G8 ab. Trump dagegen: „Das wäre gut für die Welt, für Russland, für die USA, für alle G7-Länder.“ Vielleicht hat Trump mit seinem Herangehen an die Probleme der Weltpolitik richtig verstanden, was Putin seinen Kollegen Präsidenten in aller Welt immer wieder erklärt: „Es gibt keine Sowjetunion mehr, keinen Ostblock.“ Setzen wir hinzu, keinen Sozialismus in staatlicher Ausprägung und nur kärglich sozialistisch begründete Opposition in den kapitalistischen Ländern.
Da hat „der Westen“ seit 1917 an der historischen Aufgabe gewirkt, die alternative Gesellschaftsformation zu beseitigen. Aus inneren und äußeren Gründen kam es zum vollständigen Sieg. Was hat „der Westen“ damit angefangen, bei sich? Dem in seiner Weltherrschaft nicht mehr infrage gestellten Kapitalismus ist der Feind abhandengekommen, dessen Bekämpfung einen wesentlichen Teil der humanen und materiellen Ressourcen aller an der alleinigen Existenz des Kapitalismus interessierten Kräfte geprägt und gebunden hat. Diese Kräfte eint immer noch das Interesse am Feindbild. Und in diese Position haben sie deshalb das nunmehr turbokapitalistische Russland befördert, als sei es die Sowjetunion von ehedem. Ist es nicht an der Zeit, diesen Ballast „Feindbild“ abzuschütteln? Der Präsident twittert darüber.
Trumps Grundkonzept besagt, dass alle Staaten, Staatenbünde, Völker und auch die UN danach zu beurteilen, zu belohnen oder zu bekämpfen sind, wie das den wechselnden Interessen seines Staates nützt. Missionare kommen darin nicht vor, wohl aber Dienstnehmer, soweit sie seinen Interessen dienlich sind – auch zwecks Festigung seiner persönlichen innenpolitischen Position. Aber erst gesellschaftliche Akzeptanz macht dieses Programm möglich. Trump braucht dafür weder ideologisch begründete Todfeinde noch hemmungslos geliebte Freunde. Deshalb stellt er auch das überkommene Feindbild Russland infrage. Mit dieser veränderten Konzeption könnte der „Systemfeind“ Russland fortan als Gegner oder Partner, wie andere Staaten und ihre Führer auch, bewertet und behandelt werden. Das wäre Umdenken mit weitreichenden Auswirkungen. So könnten Trump und Putin gemeinsam überlegen, wie sie den Bestand an Massenvernichtungswaffen reduzieren. Das müsste nicht zulasten Dritter gehen. Vielleicht würden sie gelegentlich über Deutschland reden, auch über die NATO mit ihrem Gründungscredo: „Russians out, Americans in, Germans down“; was das bedeutet und bedeuten könnte, wenn Feindbilder fallen.
Henry Kissinger sagt: „Ich glaube, Trump könnte eine dieser Figuren der Geschichte sein, die am Ende einer Ära erscheint und diese zwingt, ihre alten Vorwände aufzugeben. Es muss nicht heißen, dass er das weiß oder dass er eine tolle Alternative im Sinn hat. Es könnte einfach nur ein Unfall sein.“
Die Persönlichkeit und das Psychogramm des Präsidenten sind ein dankbares Thema. Aber aus hauptsächlich persönlichen Eigenheiten Politik grundlegend abzuleiten ist nicht nur falsch und unklug, auch irreführend. Veränderte Umstände fördern neues Personal zu Tage, wie neues Personal auf veränderte Umstände hindeutet. Das ist dann eine Situation, die man Umbruch nennen kann. Ist Trump ihr Prophet?
Schlagwörter: Donald Trump, Herbert Bertsch, Interessenpolitik, Russland, USA, Welthandel