21. Jahrgang | Nummer 10 | 7. Mai 2018

„sie denkt sich um amt und kragen“

von Ulrich Kaufmann

Der Brief vom 7. Juli 2012, den Sigrid Damm „Am Meer“ schrieb, reagiert auf Gespräche und Telefonate, in denen ich zu Beginn des Jahrzehnts den Vorschlag unterbreitet hatte, zu ihrem 75. Geburtstag im Dezember 2015 ein Bändchen vorzubereiten, das ihre Essays aus den siebziger Jahren enthalten sollte.
Die Begeisterung der Autorin, die in Schreib- und Recherchephasen zurückgezogen lebt, hielt sich in Grenzen. Wer wird schon gern an seine Jugendsünden erinnert, zumal sie unter anderen politischen Bedingungen, ja, unter Zensurzwängen entstanden. Erstaunlich ist, dass es sich bei den „Jugendsünden“ (die keine waren) um gut lesbare, mutige und engagierte Arbeiten handelt, die vergleichsweise wenig parteipolitische Verbeugungen aufweisen. Diese Essays heute mit Genuss lesen heißt auch, den damaligen Zeithorizont zu beachten.
Trotz ihrer „Bauchschmerzen“ schickte mir Sigrid Damm im Juni 2012 (vor dem genannten Brief) eine vorläufige, lückenhafte bibliografische Auflistung ihrer frühen Publizistik. Bevor sie als Schriftstellerin in der DDR an die Öffentlichkeit trat (1985 mit ihrer Lenz-Biografie „Vögel, die verkünden Land“), schrieb die promovierte Germanistin etwa seit 1973 Literaturkritiken, wie Jahre vor ihr Christa Wolf und Eva Strittmatter, die gleichfalls aus der germanistischen Zunft kamen. Über beide Autorinnen hat sich Sigrid Damm im Übrigen geäußert: 1973 besprach sie Eva Strittmatters ersten Lyrikband „Ich mach ein Lied aus Stille“, fünf Jahre später setzte sie sich in einem Verlagsgutachten für einen Christa-Wolf-Text ein. „Zur persönlichen Begegnung kam es 1978. Es war das Jubiläum des Reclam-Verlags, Jürgen Teller (der Philosoph arbeitete als Lektor des Verlags – U.K.) stellte mich vor. Ich hatte ihren Günderrode-Essay im Manuskript gelesen, war tief berührt, hatte, auf Bitten Franz Fühmanns, wenn ich mich recht entsinne, ein Gutachten geschrieben. Ich sagte Christa Wolf davon, auch daß es den Gepflogenheiten des Apparats beziehungsweise seines geistigen Pygmäentums folgend die obligatorische kritische Floskel enthalte, ich deutete sie in etwa an, sie verstand sofort, wir lachten beide.“
Damms umfangreicher Caroline-Schlegel-Schelling-Essay „Begegnung mit Caroline“, erschienen 1979, ist deutlich von Wolfs Essay und wohl auch von der Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ geprägt.
In ihrer frühen Essayistik setzte sich Sigrid Damm vehement für wesentliche und politisch brisante Bücher ein: Volker Braun, Franz Fühmann und Sarah Kirsch wurden jeweils gleich mit zwei Rezensionen oder Gutachten bedacht. Damm äußerte sich auch zum Werk Günther de Bruyns, Irmtraud Morgners, Wieland Försters und Alfred Wellms, mit dem sie in den Siebzigern fünf Jahre im mecklenburgischen Lohmen bei Güstrow zusammenlebte.
Mit de Bruyn, der 1976 „Tristan und Isolde“ für Jugendliche adaptiert hatte, und Gerhard Holtz-Baumert führte Damm längere Interviews. Unter dem Titel „Notate des Zwiespalts und Allegorien der Vollendung“ besprach sie gemeinsam mit Jürgen Engler den von Edith Anderson (1919–1999) herausgegebenen, viel debattierten Band mit Geschlechtertauschgeschichten „Blitz aus heiterem Himmel“ (1974).
Die Literaturkritik war für Sigrid Damm einige Zeit, vor allem nach Beginn ihrer Freiberuflichkeit 1978, zunächst auch „Brotarbeit“. Neben Lyrik und Prosa interessierte sich die Rezensentin als Mutter zweier Söhne nicht zuletzt für neue Texte der in der DDR hochentwickelten Kinder- und Jugendliteratur, für Autoren wie Holtz-Baumert, den literarischen Vater von „Alfons Zitterbacke“ (1958), Wellm und für die Kinderbücher ihres Mentors Fühmann.
In ihrem Brief erwähnt sie den Plan zu einem Interview-Band über Kinder- und Jugendliteratur, den sie mit dem Jugendbuchautor und Leiter des Kinderbuchverlags Fred Rodrian geschmiedet hatte. Die Interviews mit de Bruyn und Holtz-Baumert lagen vor, das zu Uwe Kant schien ihr wenig ergiebig. Vor einem geplanten öffentlichen Gespräch mit Alfred Wellm schrieb sie eine Rezension zu „Karlchen Duckdich“, die sie unter den Titel „Signale für Erwachsene“ stellte. Sensibel ging sie dabei gleichfalls auf die „zeichnerische Interpretation“ des großen Werner Klemke ein.
Der von Damm im Brief beschriebene abrupte Abbruch des Projekts aus politischen Gründen ließ sie weiter nach einem neuen, größeren Stoff suchen. So kam es 1979 im Reclam-Verlag Leipzig zu dem Caroline-Schlegel-Schelling-Buch, einer Briefedition, ergänzt um einen Großessay. Ich erinnere mich, dass Sigrid Damm, die damals noch keinen großen Namen hatte, diesen Band zu Beginn der achtziger Jahre vor kleinem Publikum im Jenaer Romantikerhaus vorstellte. Ihr erstes Buch stimmte in die vehement entfachte Debatte um eine neue Sicht auf die deutsche Romantik ein, es steht neben Büchern von Christa und Gerhard Wolf, Fühmann, Brigitte Struzyk und anderen.
Der Durchbruch zur Schriftstellerin gelang ihr 1985 mit der Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Biografie im Aufbau-Verlag, der zwei Jahre später die dreibändige Lenz-Leseausgabe des Leipziger Insel-Verlags folgte. Beide Lenz-Projekte machten auch bald im anderen deutschen Stadt Furore.
1992 erschien Damms autobiografischer „DDR-Roman“ „Ich bin nicht Ottilie“, in dem sie von der in Berlin lebenden Germanistin Sara erzählt, die täglich in ihr wenig geliebtes „Amt“ geht. Auch aus dem erwähnten Brief wird klar, dass dieses „Amt“ das Kulturministerium war. Im „Metzler Lexikon DDR-Literatur“ von 2009 und in ihrem Band „Auskünfte“ von 2010, dem sie den Titel „Einmal nur blick ich zurück“ gab, wird dieser Arbeitsabschnitt ausgespart. Zu Unrecht, wie ich finde, da Sigrid Damm, während dieser Zeit entscheidende Prägungen erfuhr und in ihren publizierten Arbeiten zeigt, dass sie in diesem „Amt“ wichtige Arbeit für ihre Schriftstellerkollegen leistete. Jahrzehntelange Freundschaften zu den Strittmatters, zu Fühmann, Braun und anderen wären sonst nicht möglich gewesen.
Im Kulturministerium arbeitete sie unter anderem an einer umfangreichen Analyse zur aktuellen Lyrik in der DDR. So wird einsichtig, dass ihre Rezensionen und Gutachten zur Lyrik von Sarah Kirsch und Volker Braun sehr detailliert und umfangreich ausgefallen sind. Die Passagen zur DDR-Lyrik der siebziger Jahre und zu Brauns Gedichtbänden, die sich im Band 11 der Literaturgeschichte des Verlags Volk und Wissen finden, stammen gleichfalls von Sigrid Damm. Diese „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“ war „hoch angebunden“, zumal sie am Vorabend des IX. SED-Parteitages 1976 erschien. Wer die Volker-Braun-Passagen dort nachliest, spürt deutlich, dass diese Sentenzen nicht allein aus ihrer Feder flossen. Rückblickend lädt sie sich die „Schuld“ allein auf. Sie schreibt über den ein Jahr älteren Freund und Kollegen Volker Braun 2014: „Heute wage ich nicht zu erinnern, in welch Prokrustesbett von Theorien und ideologischen Vorgaben ich ihn da gezwängt habe.“
Im Brief vom Juli 2012 schreibt Damm, sie habe eine Rezension zu Brauns Lyrikband „Training des aufrechten Gangs“ geschrieben, den der Redakteur Achim Roscher trickreich in der Neuen Deutschen Literatur „untergebracht“ habe. Bislang habe ich die Rezension nicht gefunden. Sicher ist, dass sie ein Gutachten zu Brauns Gedichtband geschrieben hat. In seinem Tagebuch notiert der Begutachtete am 1. Dezember 1977: „sigrid damm gibt mir ihr gutachten zu TRAINING DES AUFRECHTEN GANGS. was für eine schöne seele in der hauptverwaltung! (gemeint ist die Hauptverwaltung Verlage im Kulturministerium – U.K.) sie denkt sich um amt und kragen. ‚radikale subjektivierung, und auf das wesentliche des weltlichen zusammenhangs geführt.‘ ich glaube, noch die überwindung zu spüren, die es sie kostet. und sie vermisst das lächeln bei der ankunft der wahrheit, lese ich ernst.“
In ihrem Gruß zu Brauns 75. Geburtstag erinnert sich Sigrid Damm an ihren Abschied vom Kulturministerium, an dem sie acht Jahre arbeitete, eine „sichere Stelle“ hatte: „…es war der Einfluss von Werk und integrer Persönlichkeit von Franz Fühmann und Volker Braun, die mich dieser Behörde den Rücken kehren ließen. Als ich es 1978 tat, schrieb Braun mir unter sein Guevara-Gedicht die Zeilen:
‚Wir fühlen uns leben
Weit entfernt von den vorgedruckten Versammlungen und vollsynchronisierten Berichten
Da sind wir gestorben das ist die Wahrheit.‘
Damms Beziehungen zu Franz Fühmann wären ein eigenes, großes Thema. Im erwähnten Brief von 2012 erinnert sie daran, dass Fühmann 1973, auf dem VII. Schriftstellerkongress der DDR – der letzte, an dem er teilnahm – auf Sigrid Damms Kritik zu Sarah Kirschs Lyrikband „Zaubersprüche“ anspielte, ohne ihren Namen zu nennen. In seinem Referat „Literatur und Kritik“ sagte Fühmann: „…es werden, zumal bei der Wertung von Lyrik, bestimmte Gefühle in ein moralideologisches Koordinatensystem gelegt, für das Gedichte nicht bestimmt sind und das darum als Bett des Prokrustes erscheinen muß. Was soll es, wenn einer der bedeutendsten Lyrikbände deutscher Sprache der letzten Jahre in einer solchen Bilanz damit abgetan wird, dass man der Autorin – ich spreche von Sarah Kirsch und ihren „Zaubersprüchen“, die ja inzwischen ein erfreuliches Echo finden –, dass man diesem zauberhaften Buch also Schwermütigkeit vorwirft und durch diese Denunziation bereits die Kritik geleistet glaubt?“