von Günter Hayn
Hans Heinz Holz, marxistischer Philosoph und Kronzeuge für die Geschichte der kommunistischen Bewegung in der alten Bundesrepublik, starb im Dezember 2011. Ein dreiviertel Jahr vor seinem Tod führten Arnold Schölzel und Johannes Oehme mit ihm mehrere längere Gespräche, die beide jetzt veröffentlichten. Der Band bringt interessante Einblicke in die Holzsche Biographie. Hans Heinz Holz erzählt zudem auf spannende Weise von Entwicklungsprozessen marxistischen Denkens in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeint sind dezidiert beide deutsche Staaten – und Holz geht geht mit seinen marxistischen Berufskollegen durchaus hart ins Gericht. Sie hätten bis 1989 nicht begriffen, „dass in einer Übergangs-Zeit auch Un-Klarheiten miteinander zusammengehen“. Das macht er übrigens nicht an den dogmatischen Zuständen der 1950er Jahre fest, sondern an Wolfgang Harichs wütenden Ausfällen gegen die in den 1970er Jahren einsetzende, sehr zurückhaltende Nietzsche-Rezeption in der DDR. Apropos „Übergangszeit“ – noch nicht einmal das hatten viele begriffen. Die Sprach- und Fassungslosigkeit, mit der die marxistische Philosophie auf die Implosion des „realen Sozialismus“ reagierte, besser: in ein Nicht-Reagieren abglitt, hat damit zu tun.
Holz erklärt diese geistige Stagnation damit, dass sich die marxistische Philosophie schon seit längerem vom Hegelschen dialektischen Denken weitestgehend verabschiedet habe und sich gegen Ende des Realsozialismus vollständig umorientierte: „Die ganze Entwicklung nach 1956 ging in Richtung eines Revisionismus, der auch die Aufnahme der ganzen neopositivistischen Philosophie begünstigt hat.“ 1956 war für ihn übrigens ein Schlüsseljahr, weil sich mit dem XX. Parteitag der KPdSU zwar noch nicht die Konterrevolution durchsetzte, die kam für ihn erst mit Gorbatschow, aber nach seiner Auffassung immerhin der Revisionismus in die bis dato festgefügte Front der kommunistischen Weltbewegung einbrechen konnte.
Hans Heinz Holz verweist allerdings in diesen Gesprächen auf (nicht nur) seines Erachtens zu Unrecht immer noch verschüttete Traditionslinien dialektischen Philosophierens, die er unter anderem bei Gottfried Wilhelm Leibniz sieht. Leibniz, dem er tiefschürfende Studien gewidmet hatte, ist für ihn in der „Situation einer Philosophie, die noch ganz offen ist“ stimulierender als Hegel mit seinem abgeschlossenen System. Holz ignoriert dabei weitestgehend, dass der Mainstream marxistischen Philosophierens eine Vorliebe für geschlossene argumentative Systeme Hegelscher Natur zeigte und zumindest dem oft und gern missverstandenen Leibnizschen Theorem von der „besten aller Welten“ bei seinen Welterklärungspirouetten über Zustände und Entwicklungswege des sozialistischen Weltsystems eine gewisse Sympathie nicht verweigern konnte und wollte.
Ich halte es allerdings für ein großes Verdienst dieses Gesprächsbuches, in einer Zeit, in der für viele an der Philosophie Interessierte Richard David Precht und Peter Sloterdijk den Olymp philosophischen Denkens ausmachen, wieder sehr nachdrücklich auf die klassische deutsche Philosophie hinzuweisen.
Natürlich ist Hans Heinz Holz da ganz nahe bei Lenin, dessen „Philosophische Hefte“ – entstanden nach dem in der DDR bis zum Erbrechen wiedergekäuten „Materialismus und Empiriokritizismus“ (1908) – in den 1980er Jahren durchaus Wiederbeachtung fanden und der ebendiese Philosophie zu den wichtigen Bestandteilen marxistischen Denkens zählte. Holz betont den Leninschen Begriff des „Bestandteils“, nicht den der „Quellen“. Das ist ein Unterschied. Michael Brie hat im vergangenen Jahr in einer kleinen Schrift („Lenin neu entdecken“) auf die in der Schweizer Weltkriegsdiaspora gewachsene andere Qualität Leninschen Philosophierens hingewiesen. Dessen Auseinandersetzung mit Hegels „Wissenschaft der Logik“ – er nimmt hier durchaus Leibnizsches Denken auf – habe um 1915 zum „völligen Bruch mit dem linearen Evolutionsdenken, wie es den Marxismus der Zweiten Internationale über weite Strecken geprägt hatte“ geführt. Ein Ansatz, der schließlich von Walter Benjamin wieder aufgegriffen worden sei und der nach 1945 in der DDR von Ernst Bloch versucht wurde weiterzuentwickeln – wäre hier noch hinzuzufügen. Dass nun ausgerechnet der Leninsche Denkansatz von den tonangebenden marxistischen Philosophen nach 1945 nicht weitergeführt wurde, sondern die eben jenes „lineare Evolutionsdenken“ (Michael Brie) weiter pflegten, registrierte Holz zwar, es schien ihn aber nicht sehr fundamental zu irritieren. Seine Gesprächspartner übrigens auch nicht: Wenn Holz ausgerechnet die 1950 in Moskau unter Stalins Namen veröffentlichten Texte über „Marxismus und Sprachwissenschaft“ als herausragende Beiträge zur Entwicklung marxistisch-dialektischen Denkens unwidersprochen klassifiziert, so bleibt zumindest mir die Spucke weg…
Spannend hingegen ist es Holz zuzuhören, wenn er die langen Linien der philosophischen Diskurse mit ihren politischen Implikationen entwickelt – egal, ob es sich um die Auseinandersetzungen zwischen Bernhard von Clairvaux, dem wohl bösartigsten Kreuzzugsprediger des Mittelalters, und dem Mitbegründer der Sorbonne Pierre Abaelard (der sich im Universalienstreit des 12. Jahrhunderts als glänzender Dialektiker erwies) handelt oder auch die lang andauernden Auseinandersetzungen um das Werk des Aristoteles, deren teilweise von ihm als schlampig klassifizierten Übersetzungen in der Werkausgabe des Akademie-Verlages der DDR für Holz kein Zufall waren: „Also im 20. Jahrhundert wurde der Streit des 13. Jahrhunderts ausgetragen.“ Holz bezieht sich zwar konkret auf die Versuche des Papstes der bürgerlichen Romanistik, Ernst Robert Curtius, seinen Berufskollegen Werner Krauss kaltzustellen – einen Kommunisten wollte Curtius nicht im Rosengarten der deutschen Philologie dulden. Dass er aber in diesem Zusammenhang auf die langen Kontroverselinien aufmerksam macht, ist ein Gedankengang, den auch Goethe entwickelt hatte und nicht zufällig im „Buch des Unmuts“ im „West-östlichen Diwan“ unterbrachte: „Wer nicht von dreitausend Jahren / sich weiß Rechenschaft zu geben, / bleib im Dunkel unerfahren, / mag von Tag zu Tage leben.“
So gesehen ist linkes Denken heute ausgesprochen defizitär. Da ist nur wenig von „dreitausend Jahren Rechenschaft“ zu spüren. Die geistige Trockensteppe scheint sich eher weiter auszubreiten. Es bedarf solch großer Anreger wie Hans Heinz Holz. Eine breitere Öffentlichkeit wieder auf ihn aufmerksam gemacht zu haben, darin besteht das Verdienst dieses Buches.
In hohem Maße ärgerlich sind jedoch seine holzschnittartigen Bewertungen der jüngeren Geschichte. Dass man den Auswirkungen des Zusammenbruchs des realen Sozialismus, der „Konterrevolution von 1990“ (Holz), praktisch den Klassenkampf entgegensetzen müsse – als ob dieser von der willkürlichen Beschlussfassung einzelner abhinge! – , steht nun wiederum in einem rabiaten Gegensatz zu den problemgeschichtlichen Analyseansätzen dieses großen Dialektikers. Auch wenn die bloße Erwähnung dieses Begriffes bei seinen Gesprächspartnern förmlich Pawlowsche Reflexe auslöst: „Klassenkampf“ im orthodox-marxistischen Sinne wird derzeit wirksam nur „von oben“, von Leuten wie Warren Buffett (aktuell mit circa 81,3 Milliarden US-Dollar der drittreichste Mensch der Welt) gegen die „ganz unten“ geführt. Die rhetorischen Verrenkungen der Meinungsführer kommunistischer Splittergruppen ändern an diesem Befund nichts. Wenn dann ausgerechnet eine so mörderische Unternehmung wie die chinesische Kulturrevolution „auch heute noch sehr positiv beurteilt wird“ (Holz), dann ist es wahrscheinlich besser für künftige sozialistische Versuche, die Philosophen – um den jungen Marx zu zitieren – beschränkten sich auf die verschiedene Interpretation der Welt und überließen die praktische Veränderung anderen, stärker am Maßhalten orientierten. Einer Dialektik, die Millionen Tote quasi en passant als Preis des Fortschritts akzeptiert, ist entschieden zu widersprechen.
Hans Heinz Holz: Die Sinnlichkeit der Vernunft. Gespräche mit Arnold Schölzel und Johannes Oehme Februar 2011, Das Neue Berlin, Berlin 2017, 336 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Arnold Schölzel, Günter Hayn, Hans Heinz Holz, Hegel, Johannes Oehme, Lenin, Marxismus, Philosophie, Realsozialismus