21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Da schon während der vergangenen Legislaturperiode die Große Koalition kein substanzielles Engagement zu einer grundlegenden Verbesserung des Verhältnisses zu Russland gezeigt und stattdessen aktiv zu den sicherheitspolitisch unsinnigen militärischen Verstärkungsmaßnahmen der NATO im Baltikum und in Polen beigetragen hat, ist es wenig überraschend, dass sich im Koalitionsvertrag für die nächste GroKo in dieser Frage außer weiter so wie bisher nichts Zukunftsfähiges finden lässt. Insofern darf mit einer weiteren Verstetigung der Entfremdung zwischen Berlin und Moskau – auch zum Nachteil deutscher Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen – gerechnet werden. Es sei denn, die SPD-Basis machte ihrer Obrigkeit bei der Mitgliederbefragung zum Verhandlungsergebnis doch noch einen Strich durch die Rechnung …
Zwischenzeitlich hatten sich die ostdeutschen Ministerpräsidenten über Parteigrenzen hinweg mit der Forderung nach Abbau der Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland zu Wort gemeldet. Einer ihrer Beweggründe: Der Umfang der ostdeutschen Exporte nach Russland schrumpfte zwischen 2014 und 2016 um ein Drittel, und die entsprechenden Importe haben sich im selben Zeitraum fast halbiert – so Angaben des Statistischen Bundesamts. Insgesamt entgehen deutschen Unternehmen inzwischen Exportgewinne von 727 Millionen Dollar pro Monat, hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft ermittelt. Fast vierzig Prozent des gesamten infolge der Sanktionen verlorenen Handels des Westens mit Russland entfallen auf Deutschland, während etwa Großbritannien nur Exporteinbußen von rund acht Prozent wegstecken musste und die USA gar nur von 0,6 Prozent.
Seitens der amtierenden Bundesregierung haben sich die Ministerpräsidenten, und zwar umgehend, das eingehandelt, was man nicht nur beim Militär üblicherweise einen Anschiss nennt. Oberlehrerhaft verkündete die stellvertretende Regierungssprecherin: „Die Sanktionen sind kein Selbstzweck, sondern sie sind eine Reaktion einerseits auf die weiterhin bestehende völkerrechtswidrige Annexion der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim und andererseits auf die russische Destabilisierung der Ost-Ukraine.“
Ein Erfolg dieser Linie lässt allerdings nunmehr bereits seit 2014 auf sich warten, weswegen der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki – allerdings an einen anderen Adressaten gerichtet – das alternativlose Festhalten an den Sanktionen kürzlich „eine verantwortungsvergessene Naseweisargumentation“ nannte, „die nur konsequent tut, es aber nicht ist“. (Etwa weil die Bundeskanzlerin im Rahmen der EU von Anfang an ein Auge darauf hatte, dass etwa ein für beide Seiten tatsächlich strategischer Bereich wie die Energiekooperation überhaupt nicht erst zum Gegenstand von Sanktionen wurde.)
Zugleich erinnerte Kubicki an ein Wort des früheren Außenministers Hans-Dietrich Genscher, wonach Sanktionen wie eine Leiter seien – irgendwann sei man am Ende angelangt, und dann müsse man sehen, wie man wieder herunterkommt. Auch auf ein besonders erfolgreiches Kapitel altbundesrepublikanischer Außenpolitik richtete Kubicki in diesem Zusammenhang den Blick: „Die neue Ostpolitik Willy Brandts und Walter Scheels zeichnete sich dadurch aus, dass sie im Dialog mit dem Klassenfeind versuchte, Verbesserungen im Miteinander zu erreichen. Das ging selbstverständlich nur, weil man die nicht sofort lösbaren Fragen ausklammerte und sich zunächst am gegenwärtigen Status orientierte – um auf dieser Grundlage langfristig die größeren Problemfragen überhaupt erörtern zu können. […] Es wäre gut, wenn sich einige an diesen außenpolitischen Weg erinnern würden.“
Ganz in diesem Sinne hatte der frühere außenpolitische Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und nachmalige Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Michael Stürmer, bereits vor einigen Wochen „für eine neue Ostpolitik“ plädiert, „sprich: ein anderes Verhältnis zu Russland“. Und gefragt: „Wie viel Sinn hat es […], angesichts steigender Unsicherheit, die Krim-Annexion zur Gretchenfrage aller westlichen Ostpolitik zu machen? Der Kalte Krieg war, dies nur zur Erinnerung, das größte aller Provisorien in Permanenz.“ Stürmer trug bei dieser Gelegenheit auch ganz Praktisches vor: „‚Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen‘ (VSBM) füllten am Ende des Kalten Krieges Aktenordner und wurden Tag für Tag beachtet. Jetzt hinterlässt das Großmanöver ‚Zapad‘ in westlichen Hauptstädten den Verdacht, es sei dem russischen Generalstab um mehr als Routine gegangen, vielleicht ‚Hybridkriegsführung‘. […] Es kostet nicht viel, die OSZE-Regeln wieder gemeinsam zu praktizieren. Damit wäre im konventionellen Bereich schon viel Berechenbarkeit zurückgeholt.“
Frank Elbe – 1990 als damaliger Büroleiter Genschers Teilnehmer der 2+4-Verhandlungen über die internationalen Aspekte der deutschen Vereinigung, nachmals Botschafter – gab jüngst seine Einschätzung zu Protokoll: „Was uns die USA in Osteuropa zumuten, widerspricht jedem Geist einer partnerschaftlichen Beziehung. Es treibt einen Keil in das Bündnis. Es trägt nicht zu einer Verbesserung der Sicherheitslage in Europa bei. Es verbessert noch nicht einmal die militärische Situation an der Ost-Flanke der NATO, sondern schafft nur eine Sollbruchstelle: Wenn es mal knallt, soll es dort knallen.“ Auch Elbe hatte übrigens einen höchst praktischen Tipp zur Hand: „Wenn Russland ein so gefährlicher Partner wäre, wie fortlaufend insinuiert wird, ist die Forderung nach Beweisstücken nicht nur notwendig, sondern ‚überlebensnotwendig‘. Ich erlebe gelegentlich ein Stück beeindruckender amerikanischer Kultur, wenn ich die Anhörungen im Senat zu den Vorwürfen möglicher geheimer Absprache des Präsidententeams mit der russischen Regierung verfolge. Mit der allergrößten Geduld wiederholt der Kongressabgeordnete Trey Gowdy immer wieder die Frage nach den Beweisen für die Vorwürfe, bis schließlich so hochkarätige Zeugen wie der ehemalige CIA-Direktor Brennan […] entnervt und kleinlaut beigeben, dass sie keine haben.“

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Dank FAZ und gerade noch rechtzeitig vor Beginn der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz (16.–18.02.2018), auf der man sich bekanntlich stets besonders drängenden Fragen widmet, wissen wir jetzt wieder einmal, wie dramatisch die militärische Lage an der NATO-Ostflanke tatsächlich ist. Denn die FAZ blickt nicht nur über den Tellerrand, sondern auch über den großen Teich – bis zur Zentrale der RAND Corporation in Kalifornien. Von dort hatten die Kollegen schon 2017 gewarnt, dass russische Truppen maximal 60 Stunden bräuchten, „um die Außenbezirke von Tallinn und Riga zu erreichen“, wobei nicht so ganz klar wurde, wer die im Falle des Falles eigentlich so lange aufhalten sollte. Die Straßenverhältnisse im Baltikum, wie der Autor aus eigener jüngster Anschauung bestätigen kann, sind jedenfalls vorzüglich.
Nunmehr haben die RANDianer sich „den Fall einer überraschenden russischen Operation, die vom westlichen Militärdistrikt aus vorgetragen wird“, mal genauer angesehen. Titel der Studie: „Assessing the Conventional Force Imbalance in Europe“. Schockstarren Auges erfährt man via FAZ über die Kräfte, „die tatsächlich in den ersten Wochen im Baltikum eingesetzt werden könnten“: Schon bei der Truppenzahl sei Russland im Vorteil. „Während die baltischen Staaten zusammen mit […] Nato-Bataillonen und einer in Polen bereitstehenden amerikanischen Brigade knapp 32.000 Soldaten zur Verteidigung aufböten, könnte Russland 78.000 Soldaten ins Feld führen. Ein Ungleichgewicht, das sich bei den Hauptwaffensystemen am Boden weiter verschärft. Der Nato stünden gerade einmal 129 einsatzfähige Kampfpanzer zur Verfügung, Russland dagegen 757. Bei den Schützenpanzern sähe das Kräfteverhältnis ähnlich ungünstig aus, 280 Nato-Fahrzeuge stünden 1276 russischen gegenüber. Die größte Lücke aber klafft bei der Artillerie, die als Kampfunterstützung eine wichtige Rolle spielt. Das Verhältnis bei selbstfahrender Artillerie (knapp 1:11) und Raketenartillerie (1:270) spricht für sich.“
Bevor das an dieser Stelle als Aufforderung zu beschleunigter militärischer Aufholjagd missverstanden werden kann, soll eine gänzlich andere Empfehlung gegeben werden: Nämlich einen Klassiker zu Rate zu ziehen – die von Carl Friedrich von Weizsäcker 1971 herausgegebene Studie „Kriegsfolgen und Kriegsverhütung“. Die war seinerzeit unter anderem für den potenziellen Kriegsschauplatz Zentraleuropa – für den Fall, dass Landesverteidigung in Gestalt raumgreifender Kriegführung stattfände, – wegen der zu erwartenden gewollten und kollateralen Schäden durch den Einsatz moderner konventioneller und atomarer Kampfmittel zu folgenden zwei zentralen Schlussfolgerungen gelangt:
Erstens – „Die Bundesrepublik ist mit konventionellen Waffen nicht zu verteidigen.“
Zweitens – „Der Einsatz nuklearer Waffen in der Absicht der Verteidigung der Bundesrepublik würde zur nuklearen Selbstvernichtung führen.“
Inwieweit damalige Untersuchungsergebnisse für die BRD auf das vergleichsweise nur halb so große Baltikum übertragbar wären, mag man für eine offene Frage halten, die zu untersuchen wäre. In Kenntnis der Weizsäcker-Studie und weiterer damaliger wissenschaftlicher Expertisen soll hier aber schon einmal die These gewagt werden: Für die sicherheitspolitischen Probleme der baltischen Republiken und Polens im Verhältnis zu Russland gibt es nur die Alternative einer politischen Lösung – zu einem Ansatz dafür siehe zum Beispiel „Russland und Europa: Wie weiter?“ – oder einer fortdauernden vernichtungsträchtigen Konfrontation; wie zwischen Ost und West auf deutschem Boden während des Kalten Krieges.
Vor diesem Hintergrund kann „Rückbesinnung auf Landesverteidigung im Osten“ (so eine Formulierung bei Helmut W. Ganser, Wulf Lapins und Detlef Puhl in ihrer gerade publizierten Studie „Was bleibt vom Westen? – Wohin geht die NATO?“) schwerlich als sinnvolle sicherheitspolitische Option durchgehen. Und wer als Westeuropäer beim Verständnis der zwar historisch nachvollziehbaren Russophobie der baltischen Regierungen und Warschaus, die in den vergangenen Jahren immer mal wieder ins alarmistisch Hysterische umschlug, stehen bleibt, der tut weder den neuen NATO-Verbündeten noch sich selbst sicherheitspolitisch einen Gefallen.