von Wolfgang Brauer
„Diese sehr tendenziöse Autobiographie […] enthält viele antisozialistische Tendenzen“, zitieren die Herausgeber der nun endlich komplett erschienenen Autobiographie Rudolf Schottlaenders, Irene Selle und Moritz Reinighaus, in ihrem Vorwort einen Text aus dem „OV Schreiber“ der Bezirksverwaltung Berlin des Ministeriums für Staatssicherheit vom 8. November 1985. Der MfS-Mitarbeiter hatte recht. Das Buch ist tendenziös. Schottlaender bekennt sich zu seiner sehr persönlichen Sicht auf das eigene Leben und die Umstände, unter denen es ablief. Selle und Reinighaus formulieren es so: „Auch seine Autobiographie bildet nicht die tatsächliche Wirklichkeit eines Lebens ab, sondern stellt ein Verfahren zur Sinngebung dieser Wirklichkeit dar.“ Und „antisozialistische Tendenzen“ weist das Buch natürlich auf. Wie sollte es auch anders sein bei einem Menschen, der es mit einer menschlichen Gesellschaft ernst meinte. „Tendenzen“ wohlgemerkt; „antisozialistisch“ ist das tendenziöse Werk nicht.
Das Leben dieses Mannes war ungewöhnlich genug: Am 5. August 1900 in Berlin geboren, wuchs er in einer Familie mit großbürgerlichem Anspruch auf. Das „Jüdischsein“ spielte nach seinen Erinnerungen kaum eine Rolle. In erster Linie war man Deutscher. 1921 trat er aus der jüdischen Gemeinde aus. „Antisemitismus in persönlich verletzender Form habe ich in meiner Jugend nicht zu spüren bekommen“, schreibt er selbst. In Berlin, Marburg, Heidelberg und Freiburg im Breisgau studierte er Philosophie unter anderem bei Edmund Husserl, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Nicolai Hartmann. In den 1920er Jahren lebte Schottlaender als „Kleinrentner, Privatgelehrter und verlassener Ehemann“ in Berlin. Das „Goldene“ an den Zwanzigern interessierte ihn eher nicht – er hielt die kulturelle Blüte jener Jahre eher für eine Pflanze, die aus sumpfigem Boden und Treibhausklima erwuchs. Stattdessen wandte er sich neben der Philosophie der antiken Literatur und dem Werk Marcel Prousts zu. Von Rudolf Schottlaender stammt die erste deutsche Proust-Übertragung überhaupt. „Auf dem Weg zu Swann“ erschien 1926 im Verlag Die Schmiede“. Ernst Curtius, seinerzeitiger Säulenheiliger der deutschen Romanistik, verriss die Arbeit: „Eine liederliche Pfuscherei ist sein Machwerk.“ Schottlaender litt offenbar sein Leben lang unter dieser – durchaus materielle Wirkungen zeigenden – Zurücksetzung. Seine Autobiographie liefert dafür die Belege. In der 1986 bei Herder in Freiburg im Breisgau erschienenen Erstausgabe fehlen übrigens neben zahlreichen familiengeschichtlichen und das eigene Judentum reflektierenden Passagen die entscheidenden „Swann“-Abschnitte. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt…
Die Nazizeit überlebte Rudolf Schottlaender mit viel Glück, wie er selbst sagt, und dank einer „privilegierten Mischehe“. Die war zwar zerrüttet, aber seine Frau ließ sich erst nach dem Abgang des Dritten Reiches scheiden. Nach der Befreiung arbeitete Schottlaender als Lehrer in Berlin. 1947 folgte er einer Berufung zur Übernahme des Lehrstuhles für Philosophie an die Technische Hochschule Dresden. Lange blieb er da nicht. Am 1. Mai 1949 nahm er nicht an der Dresdner 1.-Mai-Demonstration teil, da er es ablehnte unter militanten Losungen zu marschieren. Er beging den Fehler, dies dem Rektorat schriftlich mitzuteilen. Kurze Zeit später erschien in der Sächsischen Zeitung ein ganzseitiger Artikel „Historische Gerechtigkeit? – Anglo-amerikanische Propaganda“, der sich mit seinem „Fehlverhalten“ auseinandersetzte. Die Kündigung erfolgte auf dem Fuße.
Schottlaender ging zurück nach Berlin, konkreter nach West-Berlin. Aber auch da erwies er sich als kalter Krieger unbrauchbar. Der Kammerton, den Arthur Koestler im Juni 1950 auf dem Westberliner „Kongreß für die Freiheit der Kultur“ anschlug, schreckte ihn ab. Immerhin war er einige Jahre als Gymnasiallehrer geduldet. Rudolf Schottlaender engagierte sich in der Friedensbewegung, er nahm das Gesprächsangebot des Kulturbundchefs Johannes R. Becher („Deutsche an einen Tisch!“) ernst – als er am 1. Dezember 1958 gar noch an einer Veranstaltung der Nationalen Front der DDR in Ostberlin teilnahm, war auch im Westen das Maß voll. Kurze Zeit später kam das Aus. „Ich wurde mitten aus einer Unterrichtsstunde herausgeholt, als ob ich ein Verbrecher wäre: Ich müsse sofort mit dem Unterricht aufhören!“ Es folgten die Suspendierung und die Aberkennung der Einstufung als „politisch-rassisch Verfolgter“ durch den Westberliner Innensenator Joachim Lipschitz (SPD).
Jetzt erwies sich Schottlaenders publizistische Tätigkeit zur antiken Philosophiegeschichte – zeitlebens war das Denken der Stoa eines seiner Hauptthemen – als Notanker. In der DDR galt er inzwischen dank der westlichen Verfolgung wieder als willkommen. Aber eine Philosophieprofessur dem erwiesenen Nicht-Marxisten Schottlaender anzutragen ging nun wirklich nicht. Also wurde er 1959 als „Professor mit vollem Lehrauftrag für römische Literatur“ an die Humboldt-Universität berufen. Hier arbeitete er bis zur Emeritierung im Jahre 1965. Neben seiner Lehrtätigkeit bahnte Rudolf Schottlaender antiken Autoren wie Sophokles (seine „Antigone“-Übersetzung haben wohl alle Abiturienten in der DDR gelesen, sie gilt trotz häufiger „Neuübertragungen“ bis zum heutigen Tag als unübertroffen), Plautus und Terentius den Weg zu den heutigen deutschen Lesern und Theatermenschen.
Und er mischte sich immer wieder in die aktuellen Debatten ein. Robert Havemann stand er in kollegialer Solidarität nahe. Freundschaft wurde nicht daraus – Schottlander stieß ab, dass die Diskussionen auch im kleinsten Kreis bei Havemann regelmäßig zu Monologen ausarteten, „da er unbequeme Argumente sowohl politischer als auch philosophischer Art einfach nicht aufnahm“. Der philosophisch geschulte Schottlaender – zudem mit den Erfahrungen von fünf deutschen Regierungssystemen des 20. Jahrhunderts auf dem Buckel – musste zwangsläufig mit dem illusionsgetränktem Gesellschaftsbild des Marxisten Havemann aneinandergeraten. Seine Beschreibung dieses Diskurses gehört zu den aufregendsten Abschnitten des Buches. 1978 – Havemann hatte gerade sein Buch „Ein deutscher Kommunist“ veröffentlicht – warf er schließlich Robert Havemann in Bezug auf dessen Prophezeiung eines baldigen Zusammenbruchs des poststalinistischen SED-Systems „standhaftes Wunschdenken“ vor, das „in gefährlicher Weise falsche Hoffnungen wecken“ könne.
Schottlaender wusste, wovon er sprach. Die „Unterdrückungsmechanismen hüben wie drüben“ hatten ihm das Leben schwer gemacht. In den 1970ern musste er schließlich erleben, dass auch der jüngste Sohn Rainer und der Enkel Peter in deren Räderwerk gerieten. Dennoch ließ er nicht davon ab „nach immer neuen Möglichkeiten [zu suchen], oberhalb des ideologischen Kalten Krieges zu Denkresultaten zu kommen, die der kollektiven Feindschaft Abbruch tun“. So formulierte er selbst den tieferen Sinn seines Tuns zwischen allen Mühlsteinen, in die man im späten 20. Jahrhundert der Deutschen geraten konnte. Den Band beschließt ein Erinnerungstext der Romanistin Brigitte Sändig, dessen Schlusssatz die Persönlichkeit Schottlaenders wohl auf den Punkt bringt: „Ich habe in Rudolf Schottlaender einen Intellektuellen kennengelernt, der Geist mit Mut zu verbinden wusste.“
Rudolf Schottlaender starb vor 30 Jahren am 4. Januar 1988 in Ost-Berlin. Seine „Erinnerungen eines Unangepassten“ sind in der momentan inflationär daherkommenden Memoirenliteratur ein Solitär an Aufrichtigkeit.
Rudolf Schottlaender: Deutschsein fünfmal anders. Erinnerungen eines Unangepassten, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2017, 224 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Autobiographie, Friedensbewegung, kalter Krieg, Philosophie, Robert Havemann, Rudolf Schottlaender, Stoa, Wolfgang Brauer