20. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2017

Modellwelt und monetäre Realität

von Ulrich Busch

Theorien ändern sich gewöhnlich nicht, indem sie aus sich selbst heraus infrage gestellt und erneuert werden, sondern weil sie irgendwann nicht mehr in der Lage sind, die sich wandelnde Realität korrekt abzubilden und überzeugend zu erklären. Als hilfreich erweist sich dabei mitunter das Machtwort einer Institution von hoher Reputation und unumstrittener Autorität wie zum Beispiel der Deutschen Bundesbank. Dies gilt generell für ökonomische Theorien, namentlich aber für die Geldtheorie. So vermochte der in den 1950er und 1960er Jahren entstandene Neomonetarismus die Banken- und Finanzkrisen der Jahre 2000 und 2008 nicht mehr zu erklären, geschweige denn zu verhindern. Er verkam zunehmend zu einer wirklichkeitsfremden Modelltheorie.
Die Konsequenz war, dass Zentralbanken und Staaten sich in ihrem Krisenmanagement unorthodox und pragmatisch verhielten und seitdem eine anders geartete Finanz- und Geldpolitik praktizieren, als von der Orthodoxie vorgegeben. Dies zog eine aufgeregte Diskussion nach sich, bewirkte schließlich aber eine Revision der Theorie und eine größere Realitätsnähe derselben. Dazu gehört, dass man von alten Mythen, wie der Fortexistenz einer Geldware Gold nach dem Ende des Goldstandards, abrückt und dass neuere Erklärungsansätze des monetären Funktionsmechanismus Gehör finden, aber auch, dass geldpolitische Experimente gewagt und überholte Ansichten und obsolet gewordene Theorien überwunden werden. Dies bedeutet die Diskussion kontroverser Auffassungen und Streit um die „richtige“ Sicht der Dinge.
In einem solchen Umbruch- und Gärungsprozess, in dem theoretisch Neues entsteht und sich irgendwann durchsetzt, gelangt aber auch so manches Unausgegorene oder Unsinnige an die Öffentlichkeit. Auch sehen sich durch das Scheitern der Theorien von gestern nicht selten die Vertreter der Konzepte von „vorgestern“ in ihrem Denken bestätigt, was die Konfusion noch größer macht. Hinzu kommt, dass die professionellen Experten in der Regel nicht die ersten sind, die infolge eines Wandels der Realität theoretisch umsatteln. Sie neigen eher dazu, trotz erdrückender Gegenbeweise an ihren althergebrachten Überzeugungen festzuhalten. So sind es häufig weniger gut informierte Laien, die, unzufrieden mit den Theorien, nach „neuen“ Lösungen suchen und unkonventionell vorgehen. Dabei unterlaufen ihnen natürlich Fehler und sie sitzen häufig Irrlehren und Scharlatanerien auf. Insofern ist die Zeit von Umbrüchen und Innovationen immer auch die Stunde der Spinner und unseriösen Projektemacher, vor denen man sich hüten muss.
Wichtig ist auch die Einsicht, dass keineswegs alles, was jetzt als „neue Idee“ auf den Plan tritt, wirklich neu ist. Auch hier gilt der Satz von Hegel, wonach „das Erkannte“ nicht immer auch „das Bekannte“ ist. Und Vorurteile halten sich bekanntlich lange, während so manche richtige Erkenntnis einige Zeit braucht, um populär zu werden. Dies gilt zum Beispiel für die These, wonach die Kreditvergabe der Banken „Geldschaffung“ bedeute und keine „Umverteilung“ von vorhandenem Geld. Diese Erkenntnis der Geldschöpfung durch Banken mittels Kredit „aus Nichts“ geht zurück auf J. A. Schumpeter (1911) und ist damit alles andere als neu. Bezieht man sie auf das heutige Geld, das seit dem Ende des Gold-Devisen-Standards (1971) reines „Fiat Money“ und „Kreditgeld“ ist, so liegt es nahe, dieses als „ein Nichts“ zu definieren, das mittels eines komplexen zweistufigen Bankensystems und einer Vielzahl von Instrumenten und Regeln knapp gehalten wird und das seine Geltung und Stabilität allein dem Vertrauen in das solide Funktionieren von Wirtschaft und Staat verdankt (siehe Das Blättchen Nr. 2/2014).
So klar wie diese Auffassung formuliert ist, so provokant wirkt sie aber auch, denn sie stößt nicht nur die neomonetaristische Theorie vom Sockel, sondern widerspricht zugleich allen Vorurteilen und Halbwahrheiten rechter wie linker Provenienz über Geld, Kredit, Banken, Sparen, die Dichotomie von Finanz- und Realsphäre, Chrematistik …Wen wundert es da, dass sich sogleich Kritiker in großer Zahl zu Wort melden, auch im Blättchen (siehe 4/2014, 17/2016), und ihre Vorurteile, Halbwahrheiten und Weisheiten von vorgestern offerieren. – Die einen erinnern sich an das Gold und an J. W. Goethe, der vor 250 Jahren dichtete „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles.“ – Das kann doch nicht plötzlich überholt sein! Oder vielleicht doch? Andere besinnen sich auf Silvio Gesell und dessen „Schwundgeld“-Idee (1920): Was lokal einmal geklappt hat, müsste doch wohl auch volkswirtschaftlich funktionieren. – Welch ein Irrtum! Wieder andere propagieren das 100 Prozent-Geld von Irving Fisher (1935) als Vorbild für eine Geldreform. Sie übersehen dabei bloß, dass die historischen Bedingungen inzwischen gänzlich andere geworden sind. Und nicht alles lässt sich wiederholen!
Manche Autoren erblicken im juristischen Konstrukt eines „Staatsgeldes“ in Anlehnung an G. F. Knapp (1905) die Zukunftslösung, übersehen aber, dass es hier um Ökonomie geht und nicht um Politik und dass die Zentralbanken in der Europäischen Union keine „Staatsbanken“ sind wie einst im RGW. Ganz abgesehen davon, dass Knapps Theorie nie praktische Relevanz besessen hat. Hieran knüpft nun die moderne Vollgeld-Konzeption an. Ihr Hauptvertreter J. Huber erklärt, alles Geld in „staatliches Geld“ umfirmieren zu wollen. Dadurch würde die Stabilität der Finanzsphäre garantiert. Wirklich? Haben hier nicht gerade Staaten oft genug versagt? Ganz Schlaue sehen in den dadurch vermeintlich frei werdenden Milliarden, die sich die Banken bisher „für Nichts“ eingesteckt haben, die Finanzierungsquelle für ein bedingungsloses Grundeinkommen (T. Mayer/R. Huber). Dazu erübrigt sich jeder Kommentar. H. Hummel verbindet seine Polemik gegen die „Geldschöpfung aus Nichts“ mit der Behauptung, beim heutigen Geld handele es sich ohnehin nur um „Arbeitsquittungen“ und nicht um Geld. – Das kommt dabei heraus, wenn Marx retrospektiv „grundlegend“ weitergedacht wird: Proudhon! – Die Auflistung kontroverser Antworten und polemischer Entgegnungen zu der Frage, was heute Geld ist und wie es geschöpft wird, ließe sich beliebig fortsetzen.
Vielleicht erübrigt sich dies aber auch, nachdem sich im April 2017 die Bundesbank dazu zu Wort gemeldet und ausführlich dargelegt hat, wie die Geldschöpfung als ein Prozess komplexer Interaktion zwischen Banken, Nichtbanken und Zentralbank verläuft. Zugleich machte sie aber deutlich, dass dies kein willkürlicher Akt ist und welchen banktechnischen sowie volkswirtschaftlichen Begrenzungen er unterworfen ist. Diese wichtige Klarstellung ist nicht die einzige Wortmeldung der Bundesbank zu dieser Thematik, offensichtlich aber die erste, die von einem größeren Publikum wahrgenommen wird. Es ist natürlich nicht zu erwarten, dass davon eine ähnliche Wirkung ausgeht, wie von einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts. Die Diskussion über Geld, Geldreformen und Geldpolitik könnte sich nach dieser Veröffentlichung aber auf eine neue Grundlage gestellt sehen, hinter welche kein Diskutant mehr zurückfallen sollte. Dies wäre für alle ein Gewinn und zugleich ein großer Schritt in Richtung einer realitätsnahen Theorie.