von Heino Bosselmann
Hamburg-Berlin: Die Fernverkehrsstraße 5 verband bis zum Bau der A 24 Hamburg mit Westberlin. Hier fuhr der Bundesbürger durchs künftige Beitrittsgebiet und an den Eingeborenen vorbei.
Durch meine Kindheit und Jugend verlief eine Straße, die mehr als andere Deutschland trennte und vereinte – die Bundesstraße 5, damals die Fernverkehrsstraße 5 der DDR. In einer Richtung, nordwestlich, Hamburg, in der anderen, südöstlich, Berlin.
Das eine unerreichbar, das andere fremd. In der Mitte meine spröde Heimat, die Prignitz, wo niemand angehalten hätte, würde sich dort nicht die einzige Raststätte für West-Transitreisende befunden haben. Mit „Intershop“. In Quitzow, einem Dörfchen, das seinen Namen vom berühmtesten, also berüchtigtsten Raubrittergeschlecht Brandenburgs hat, von Theodor Fontane im Band „Fünf Schlösser“ der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beschrieben.
Mein Vater war direkt an dieser Straße als Landarbeiterkind aufgewachsen, in Glövzin. Er hatte 1945 als Zehnjähriger zunächst erlebt, wie amerikanische Tiefflieger über der „Berlin-Hamburger“ dahinjagten und die langsame, nicht abreißende Prozession nach Westen ziehender Flüchtlingstrecks wie nach Lust und Laune in einem furchtbaren Spiel beschossen. Als die Rote Armee erwartet wurde, saß er mit einem Dutzend Leuten, die plötzlich verstummt schienen, in einem Bunker, wie man nur so sagte, denn vielmehr war’s eine eilig im Hof ausgehobene Grube, deren Boden mit Koffern voll Hausrat ausgelegt war, auf denen schließlich alle eingezwängt und verkrümmt kauerten. Verzagte Menschlein mit ihren über Generationen weitergegebenen Habseligkeiten, leise atmend, aber mit furchtsamem Herzschlag und kaltfeuchten ineinandergekrallten Handflächen eine werdende Großmacht erwartend, die ihnen allen wahrscheinlich den Garaus machen würde. So nahmen sie es vorbeugend an.
Arme Verlierer in einem kümmerlichen Rattennest. Den Tod auf ihrem bisschen brüchigen Besitz erwartend. Wo sonst? Nach oben war das Loch nur mit dünnem Wellblech abgedeckt. Draußen hörte man den Frühlingsruf der Meisen und das hohe Zirpen der vorbeifliegenden ersten Schwalben in jenem Jahr. So übersichtlich und einfach sah das Ende aus, das Ende des Reiches also und vermutlich überhaupt gar das Ende. Mein Vater hörte, wie jemand ein Gebet murmelte, was im protestantischen Glövzin bisher selten zu vernehmen war, am hellichten Tag schon gar nicht.
Am 2. Mai war die Rote Armee da. Zunächst weder mit Panzern noch auf Lastwagen, sondern auftauchend in einer riesigen Herde von Pferden, die von den Soldaten schon auf den anderen märkischen Dörfern und einfach vom Weideland herunter zusammengetrieben worden waren. Eine Wolke von dampfenden, stampfenden Pferdeleibern, ein Steppenereignis, das diese fremden Menschen mit ihren olivgrünen Uniformen heranwehte. Das kleine Dorf wimmelte plötzlich von Pferden, die wie herrenlos herumliefen, aber den wenigen Leittieren folgten, die beritten waren. So stellte man sich eine Kosakenaktion am Don oder Dnepr vor, weniger einen Krieg.
Nach den Kohl- und Kaschamahlzeiten der Feldküchen floss der Wodka, die Ziehharmonikas begannen zu spielen, und unter ihren Klängen wurden die Frauen gejagt, die sich aus den Verstecken gewagt hatten, um, gestern noch Herrinnen über Scheuer und Faß, sich mit verschränkten Armen vor ihren Besitz zu stellen. Am Abend des Sieges über Glövzin waren nicht wenige von ihnen geschändet und die Männer und Wohnzimmer ohne Uhren. Nichts tickte mehr, das Warten hatte ein Ende. Man war angekommen im ersten Jahr danach. Obwohl niemand wusste, wohin sie einen tragen würde, verging sie wieder, die Zeit, denn die Zeit brauchte gar keine Uhren.
Jahre später: Während der Transitverkehr im Süden über Autobahnen verlief, war die F 5 die einzige Transit-Landstraße und verband den westlichen Grenzübergang Heerstraße in Berlin-Staaken mit dem ebenfalls westlichen Horst/Lauenburg. Wir waren mit dem Fahrrad unterwegs, um zum Fußball zu fahren. Westwagen an Westwagen zog an uns vorbei, all die Opel Kapitän, Kadett, City, Ascona, Diplomat, Senator, Monza, die Ford Taunus, Granada, Consul, Capri und all die anderen Marken, die der reiche Westen auf Räder brachte. Sie überholten uns, ebenso wie sie die Autos unserer Eltern überholten, die Trabant und Saporoshez fuhren, meistens aber Bus.
In der Raststätte Quitzow konnte man richtige Bundesbürger sehen. Sie aßen dort sehr preiswert und kauften sich die ihnen vertrauten Waren im „Intershop“. Es gab die geföhnte Sorte mit langen Koteletten, jene mit einer gestickten schwarzen Rose auf dem Hemdbauch, und es gab deren Kindergeneration: Flower-Power, VW-Bulli, Kleidung, die uns an Harlekine erinnerte. Alle sehr locker drauf. Was wir dort erlebten, war ein ganz anderes Volk. Es hieß, sie gaben den Kellnern reichlich Trinkgeld. Manchmal luden sie einen von denen zu einer Westzigarette ein. Der sah sich kurz um und bekam dann flink Feuer. Kellner in der Raststätte Quitzow zu sein, das war schon was. Und der typische „Intershop“-Duft zog in die Kneipe. Riecht verdammt nach Westpaket, sagten die Leute. Alles „von drüben“ hatte auf sie eine phänomenale Anziehungskraft. Manche sammelten die aus den Westwagen in die Straßengräben geworfenen Bierbüchsen und stellte sich die ins Regal. Müll als Deko.
Die DDR-Führung fürchtete ständig „Kontaktaufnahmen“. Überhaupt war die DDR ein höchst furchtsamer Staat, vielleicht überhaupt der furchtsamste der Welt. Und da zudem der Westen schneller unterwegs sein wollte, als es auf der F 5 möglich war, kam es in den Siebzigern zum Bau der Transitautobahn A 24, die in etwa der Route der schon in den Dreißigern geplanten, aber wegen des Krieges aufgegebenen Reichsautobahn RAB 44 folgte. – Wir blieben also noch ein paar Jahre unter uns, auf der F 5 und beim Hackbraten mit Rotkohl in Quitzow.
Schlagwörter: DDR, der Westen, Heino Bosselmann, Intershop, Interzonenverkehr