19. Jahrgang | Nummer 10 | 9. Mai 2016

Wie im Märchenwald

von Holger Politt, Warschau

Das Ziel, am 10. April wenigstens eine Million Menschen auf die Beine zu bringen, erreichte Jarosław Kaczyński nicht. Dennoch ließ er die Gelegenheit, in breitester Öffentlichkeit an den Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 zu erinnern, nicht ungenutzt verstreichen. Der Keil, mit dem die Gesellschaft polarisiert wird, wurde noch tiefer eingeschlagen. Während Staatspräsident Andrzej Duda stärker von Aussöhnung sprach, die kommen müsse und die das Land brauche, um eine starke nationale Gemeinschaft sein zu können, was alle wollten, machte der PiS-Vorsitzende seinerseits wiederum klar, dass vor Versöhnung immer erst Bestrafung komme. Wen er da meinte, ließ er offen, aber es sind die innenpolitischen Gegner, die er an diesem Tag treffen wollte.
Wenige Tage später erschien in einem nationalkonservativen Meinungsblatt an prominenter Stelle ein ausführliches Interview mit Kaczyński, in dem er vom Leder zog. Diesmal traf es den Nachbarn Deutschland, wobei auch dabei in erster Linie auf den innenpolitischen Gegner angelegt wurde, denn jedermann in Polen wird schließlich wissen, welche Seite es kräftig mit den Deutschen hält. In Polen, so der PiS-Mann, gebe es keine Probleme mit der Demokratie, dafür aber in Deutschland, denn es seien seriöse Arbeiten erschienen, die bewiesen, dass die Demokratie in Deutschland faktisch abgeschafft sei. Die beiden Interviewer unterließen es leider, an dieser interessanten Stelle nachzufragen, um welche Arbeiten es sich handle. Dafür führte Kaczyński selbst den glänzenden Beweis an, denn im Bundestag unterlägen die Abgeordneten dem strengen Fraktionszwang, was im Sejm undenkbar sei. Fast klingt es so, als wollte Kaczyński damit sagen, im Sejm herrsche noch immer das berühmt-berüchtigte Vetorecht aus den Zeiten der Adelsdemokratie.
Und er zog in dem Interview kräftig über deutsche Medienkonzerne her, denn es sei kaum noch mit anzusehen, was deutsche Medien in Polen veranstalteten. In erster Linie meinte er das Boulevardblatt Fakt, einen eher harmlosen Bild-Verschnitt, und die Wochenzeitung Newsweek, die als liberales Meinungsblatt in vorderster Reihe bei den Kaczyński-Kritikern steht. Beide Blätter werden von Springer herausgegeben, was Kaczyński zum Anlass nahm, wieder einmal den Gedanken einer Rückführung von Printmedien in polnische Hände aufzuwärmen. Auch hier geht es eigenartigerweise eher um den inneren Hauptgegner, als der auf der Medienseite noch immer die Tageszeitung Gazeta Wyborcza gilt, die allerdings in polnischen Händen ist.
Ein schönes Beispiel für die gefährlichen Umtriebe der von Adam Michnik geleiteten Zeitung lieferte prompt das Pokalfinale im Fußball, bei dem Anfang Mai im Warschauer Nationalstadion Lech Poznań und Legia Warschau aufeinander trafen. Als Präsident Andrzej Duda bei der Begrüßung namentlich aufgerufen wurde, erntete er bei beiden Fangruppen ein kurzes Pfeifkonzert. Sofort hieß es aber bei den PiS-Getreuen, gepfiffen hätten Leute, die von Gazeta Wyborcza beeinflusst seien oder vom Warschauer Rathaus geschickt worden wären, denn dort regieren noch immer die verhassten Wirtschaftsliberalen.
Eine neue Kostprobe an PiS-Vorschlägen bescherte der 3. Mai, der Verfassungstag, an dem der Verfassung von 1791 gedacht wird. Tags zuvor, es ist in Polen der Nationalflaggentag, stimmte Kaczyński mit einer bedeutungsschweren Rede vor dem weiß-roten Tuch bereits auf den folgenden Tag ein. An dem nun sprach Präsident Duda zum Volk und zeigte sich als der tüchtige Verfassungshüter, der er von Amts wegen auch sein sollte. Um zu erstarken, um aufzublühen brauche das Gemeinwesen eine entsprechende Verfassung – die Polen aber hätten im Augenblick gar keine rechte. Frank und frei räsonierte er darüber, dass die geltende Verfassung von 1997 allerhöchstens eine des Übergangs, also eine provisorische sei, so dass schnellstens ein Weg gefunden werden müsse, um dem Land ein wirkliches Grundgesetz zu verschaffen. Er schlug als Termin bereits das kommende Jahr vor, in dem aus einer großen Volksdebatte ein wirklich nationales Verfassungswerk hervorgehen müsse. Denn was für eine Verfassung sei die jetzige, so der Jurist Duda allen Ernstes, wenn eine Regierung einfach das gesetzliche Renteneinstiegsalter für die Polen erhöhen könne? Was für eine Verfassung sei die jetzige, wenn Millionen von Polen noch immer am sogenannten Existenzminimum dahinvegetierten?
Von einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im Parlament ist selbst PiS meilenweit entfernt, dennoch kündigte der stellvertretende Ministerpräsident und Hochschulminister Jarosław Gowin in aller Öffentlichkeit bereits an, noch in dieser Legislaturperiode werde das nationalkonservative Lager diese Mehrheit zusammenbringen. Vielleicht steckt in dieser hoffnungsfrohen Verheißung auch das Geheimnis, mit dem Kaczyński seiner polnischen Demokratie einen Vorzug zuspricht, den es anderswo, beispielsweise im deutschen Bundestag, gar nicht mehr gebe.