von Stephan Wohanka
Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Mirza Abdul Hassan Khan, nach Goethes
West-Östlichem Divan 1819
Schon die Präambel des Grundgesetzes zieht Lehren aus den „Erfahrungen“ mit dem Dritten Reich, indem es der Staatssouveränität der Bundesrepublik Grenzen setzt. Unwiderlegbar klar bricht dann Artikel 1 mit der Zeit, in der Menschen ihrer Würde und ihres Lebens beraubt wurden, in der sie zu Opfern industriellen Mords und nummerierten Arbeitssklaven degradiert wurden, wenn es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das bedeutet: Dem Menschen kommt höchster Verfassungsrang zu. Sind er, seine Würde und – weiter gefasst – seine prinzipiellen menschlichen Rechte damit auch primärer Bezugspunkt des Politischen in diesem Lande? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Diese Differenz steht im Hintergrund des politischen Streits, der sich hierzulande gerade abspielt.
Um die eben aufgeworfene Frage zu beantworten, bedarf es eines weiteren Blicks ins Grundgesetz. Interessanterweise beließen es dessen Autoren nicht bei besagtem Satz, sondern fügten in einem zweiten hinzu: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Gäbe es diese Ergänzung nicht, existierte die Würde unabhängig und unberührt von jeder Gewalt. Mit einem simplen, leicht zu überlesenden Widersinn – die Würde ist unantastbar und bedarf dennoch des Schutzes – bricht das Grundgesetz nicht nur mit allen bisherigen deutschen Verfassungen, sondern hat auch das Zeug, die Theoriebildung des Politischen zu beflügeln, soweit das nicht schon geschehen ist, indem es den Staat, seine Ordnung und sein Gewaltmonopol statt zum Telos nunmehr zum Diener der Menschen erklärt; und zwar aller Menschen!
Ist das nicht (zu) hoch gegriffen? Ich meine, nein. Ein, wenn nicht der Zeuge für diesen diametralen Wandel ist der „Kronjurist des Dritten Reiches“ Carl Schmitt, der geradezu ein „Symptom des politischen Endes“ zu sehen meinte, wenn sich „Staat und Politik teils einer individualistischen und daher privatrechtlichen Moral“ unterwürfen. Schmitt weiter: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, und so stand für ihn fest, „dass alle echten politischen Theorien den Menschen als ,böse‘ voraussetzen“ – was schnurstracks zu Schmitts Kern des Politischen leitet, nämlich zur Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Alle Abweichungen von diesem Prinzip führten zur Auflösung des Politischen und letztlich des Staates. Wenn der Großphilosoph Peter Sloterdijk das Handeln von Bundeskanzlerin Merkel in der Flüchtlingskrise als eine aus Gründen menschenrechtlicher Ideale vollzogene Souveränitätsaufgabe kritisiert, dann steht dahinter die gleiche Denkhaltung: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben“; wobei „sich auf die Dauer der territoriale Imperativ durchsetzt“. Sein Sancho Panza im Philosophischen Quartett, Rüdiger Safranski, sekundiert wie damals und geißelt „weltfremden Humanitarismus“. Außerdem „lügen wir uns um die Tatsache herum, dass Europa auch eine Festung sein muss, schließlich haben wir auch wirklich etwas zu verteidigen“. (Übrigens stellte Safranski früher in anderem Kontext fest: „Dass jeder Mensch eine Würde besitzt, ist eine menschenfreundliche Fiktion. Aber darüber hinaus gibt es noch eine Würde, die einem nicht zugesprochen wird, sondern die man sich erwirbt …“ Ich komme darauf zurück).
Warum singen (ehemals?) liberale Denker plötzlich der Grenze Loblieder? Und sehen im Nationalstaat wieder den Bezugspunkt des Politischen? Auf dem Gegenteil, auf der Überzeugung, dass Grenzen überwunden werden können und müssen, basiert die EU. Auch die Marktwirtschaft braucht offene Grenzen; sonst ließen sich vielleicht noch Autos und Flugzeuge zusammenschrauben, doch wären viele uns liebgewordene Freizügigkeiten passé, desgleichen mühsam errungene geopolitische „Organisationsvorteile“ (Harald Welser) in einer sich neu sortierenden Welt. Indem man Europa in eine Festung verwandelt und sich seine Mitgliedsländer wieder als Nationalstaaten generieren, verstärkt man innere Zerfallsprozesse. Ihre Ursache sind nicht die Flüchtlinge. Die sind nur der – für manche willkommene – Brandbeschleuniger politischer, sozialer und ökonomischer Konflikte zwischen den Staaten und auch innerhalb derselben, die vorher schon virulent waren. Alles nachzulesen im Blättchen. Das wird der EU auf längere Sicht schaden und sie vielleicht zerstören.
Es gibt jedoch auch ein zu obigem gegensätzliches Denkmuster in Deutschland; oder besser – aus Deutschland. Die häufig als „naiv“ diffamierte „Willkommenskultur“ lässt sich darauf zurückführen. Aus Deutschland deshalb, weil Hannah Arendt – um die geht es –, selbst Flüchtling, Vertriebene, schreibt, dass „die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat […] Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker.“ Ich denke, diesen Menschen, die ihrer Delegitimierung und Entwürdigung durch Diktatoren, Krieg und Vertreibung trotzen, ist Safranski folgend schon der „Erwerb“ einer Würde zuzubilligen.
Trotz dieser grundsätzlichen Wertschätzung des „Flüchtlings“ übersah auch Arendt nicht, dass er eine Belastung für die aufnehmenden Gesellschaften darstellen (kann): „Ihre ständig wachsenden Zahlen bedrohen unser politisches Leben“, schrieb sie. „Die Gefahr ist, dass eine globale, in weltweiten Beziehungen stehende Zivilisation aus ihrer eigenen Mitte heraus Barbaren produzieren könnte, indem sie Millionen Menschen in Lebensumstände hineinzwingt, die, allem Anschein zum Trotz, die Lebensumstände von Wilden sind.“ Wie wahr angesichts der weltweiten Flüchtlingsströme und der so genannten „homegrown terrorists“; und trotzdem – das Fazit, das Arendt aus diesem Albtraum zieht, ist nicht, dass die Nationalstaaten keine Flüchtlinge mehr aufnehmen sollten. Sondern im Gegenteil – sie ist der Meinung, dass etwas mit dem Konzept des Nationalstaats nicht stimme, wenn er Menschen, die zu Flüchtlingen gemacht wurden, zwingt, als „Aliens“ (Mark Siemons) ihr Leben fristen zu müssen. Nicht der Staat ist daher für Hannah Arendt der Bezugspunkt des Politischen, sondern der einzelne Mensch, und sei er ein Flüchtling; oder gerade ein solcher!
Offenbar sahen die Mütter und Väter des Grundgesetzes das ähnlich. Auch sie hatten das Schicksal Millionen Vertriebener vor Augen, darunter unzählige Deutsche. Das kann dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass sie die Grundrechte – ganz oben die Menschenwürde – in Analogie zur Weimarer Reichsverfassung desgleichen als Staatsziele setzten, in Unterscheidung zu Weimar jedoch auch den Gesetzgeber bindend und nicht nur die Verwaltung. Insofern stellen die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht dar (Art. 1, Abs. 3), das die gesamte Staatsgewalt – also auch die Exekutive – bindet. Menschen- und Bürgerrechte sind einklagbare subjektive Rechte und genießen speziellen Grundrechtsschutz durch die Formulierung, dass ihr Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfe (Art. 19, Abs. 2).
Die Ankunft der Flüchtlinge hat die Republik aufgewühlt und nicht wenige sahen teilweise deren Rechtsordnung in Frage gestellt; der ganze Vorgang sei auf die einsame Willkürentscheidung einer Politikerin zurückzuführen. Auf einer sehr grundsätzlichen Ebene geht der Streit auch um die Frage, worauf der Rechtsstaat fuße und was den Bezugspunkt des Politischen darstelle. Er ist nicht entschieden, aber: Wenn Gesetzestreue angemahnt wird, dann wohl zuerst Verfassungstreue.
Schlagwörter: Carl Schmitt, Flüchtlinge, Grenzen, Grundgesetz, Hannah Arendt, Menschenwürde, Stephan Wohanka