von Wolfgang Brauer
Dürfte ich einen Preis für die schönsten Bücher des Jahres 2015 vergeben – dieses wäre dabei: „E.T.A. Hoffmanns Berlin“ heißt das Prachtstück, das Michael Bienert geschrieben und zusammengetragen, mit Letzterem sind die zahlreichen Bildquellen gemeint, und Ralph Gabriel und Stephanie Raubach gestaltet haben. Der Preis wäre auch ein Zeichen des Respektes für den verlegerischen Mut André Försters, der einen opulent ausgestatteten Hardcover-Stadtführer auf den Markt brachte und damit durchaus ein verlegerisches Risiko einging. Obwohl – Bienert räumt das selbst ein – eine gewisse Absatzgarantie durch die Senatsbildungsverwaltung geschaffen wurde: E.T.A. Hoffmann ist seit einigen Jahren Pflichtlektüre für das Berliner Zentralabitur. In der Nachfolge dieser Festlegung kam es allein am Berliner Theater an der Parkaue (dem staatlichen Kinder und Jugendtheater der Hauptstadt) zu drei Hoffmann-Inszenierungen. Das soll jetzt niemanden von Bienerts Buch abschrecken, im Gegenteil. Ich kenne keinen Berlin-Führer, der so vergnüglich zu lesen ist und dabei eine Fülle von Detailwissen über das Berliner Leben der spätromantisch-biedermeierlichen Zeit vermittelt. Und noch ein seltenes Glück widerfährt dem Leser: Schon während der Lektüre des Bienertschen Werkes und dem Betrachten der von ihm vor unserem Auge ausgebreiteten Bilder und Stadtpläne bekommt man Lust auf Hoffmanns Erzählungen. Nein, nicht die Oper, die wird quasi als Zugabe derzeit gleich um die Ecke der Hoffmannschen Wohnung in der Komischen Oper gespielt, man bekommt Lust auf diesen „entsetzlichen Angstschrei in 20 Bänden“, wie Heinrich Heine E.T.A. Hoffmanns Werk bezeichnete. Possierlich ist das nicht. Der Kammergerichtsrat Hoffmann ahnte wohl eine Menge von den Schrecken und Gefährdungen heutiger Zeiten.
Und wer es noch nicht wusste: Das geheimnisvolle „öde Haus“ der gleichnamigen Erzählung gab es wirklich. Heute steht dort ein Seitenflügel der russischen Botschaft. Hoffmann würde das gefallen…
Michael Bienert: E.T.A. Hoffmanns Berlin. Literarische Schauplätze, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2015, 176 Seiten, 24,99 Euro.
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Damit, dass eine gewisse Zeit nach dem Abgang eines Künstlers von der großen Schaubühne des Lebens scheinbar zwingend auch dessen intimste Geheimnisse Gegenstand von Magisterarbeiten und garantiert ultimativen Enthüllungsbüchern werden, muss man sich wohl abfinden. In germanistischen Instituten wie in den Sachbuchregalen der Bahnhofsbuchhandlungen feiert der Voyeurismus fröhliche Urstände. Ich gestehe: Es interessiert mich nicht besonders, welche Laken-Abenteuer Goethes mit einer Dame namens Faustina in die „Römischen Elegien“ eingingen oder ob die Signora, die ihm die Jungmännlichkeit nahm, irgendwer anderes war. Ich mag die Elegien und ich verehre den Dichter. Es interessiert mich auch nicht besonders, welchen Elevinnen der Brecht in seiner Intendantenloge welche „Stelle“ auch immer zeigte, wie es Helmut Baierl süffisant beschrieb. Noch weniger interessieren mich die frühkindlichen Syndrome von Leuten, die die Stücke dieser Autoren zerhacken und als „Material“ auf die Bühne bringen.
Komplizierter wird es aber, wenn die dunklen Seiten einer Persönlichkeit sich nachhaltiger im Werk spiegeln. Es besteht allerdings immer die Gefahr, dass die Entschlüsselung auch der letzten rätselhaften Stelle eines Kunstwerkes ihm seinen Reiz nimmt. Es steht dann so nackt vor seinen Lesern wie wir alle unter der Dusche – wir verstehen es schlussendlich, aber es bezaubert uns nicht mehr. Wollte man diese Methode auf die Spitze treiben, gehörte „Alice im Wunderland“ ob der Neigung Lewis Carrolls zu kleinen Mädchen auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften und unter keinen Umständen in ein Kinderzimmerregal. Ich will das nicht.
Solche Skrupel führten vor der Lektüre von Ulrich Weinzierls Buch über Stefan Zweigs „brennendes Geheimnis“ – gemeint sind seine tatsächlichen oder vermeintlichen exhibitionistischen Neigungen – bei mir zu erheblichen Vorbehalten. Zumal man sich immer wieder dabei ertappt, zumindest die letzten Lebensjahre Stefan Zweigs – ähnlich wie bei Kurt Tucholsky – von Zweigs Ende her zu lesen. Und da steht ein Doppelselbstmord. Am 23. Februar 1942 schied er mit seiner Frau Lotte im brasilianischen Petrópolis aus dem Leben. Es war ausgerechnet Thomas Mann, der diesem tragischen Geschehen den Giftzweig des Schmuddligen aufpfropfte: „Der Selbstmord Stefan Zweigs in Brasilien ist rätselhaft. […] Ich vermute, dass das liebe Geschlecht im Spiel war und dass irgend ein Skandal drohte. Er war gefährdet in dieser Beziehung.“ So Mann wenige Tage nach dem Tod von Lotte und Stefan Zweig in einem Brief an Agnes E. Meyer. Ausgerechnet Thomas Mann, ist man geneigt aufzustöhnen, ausgerechnet Mann, der zeitlebens Probleme mit seiner sexuellen Selbstfindung hatte, musste hier den ersten Stein werfen. Denunziatorischer verhielt sich nur noch der Kunstwissenschaftler Benno Geiger, der in seinen „Memoiren eines Venezianers“ (1958) Stefan Zweig gleichsam postum entblößte.
Man könnte das alles getrost am Wegesrand der Literaturgeschichte liegen lassen, wenn aus solchen Anwürfen und im Ungewissen flirrenden Passagen Zweigscher Erzählkunst sich nicht immer wieder ein Sud brauen ließe, der den Dichter nachhaltig beschädigen kann. Hier Klarheit zu schaffen, ist das Verdienst des vorliegenden Buches. Ulrich Weinzierl deckt behutsam und quellenkundig Schicht für Schicht der Zweigschen Verwirrungen der Gefühle auf. Ja, er vollzieht dabei eine Gratwanderung zwischen Literaturgeschichtsschreibung und Boulevard – aber sie gelingt ihm. Das ist spannend zu lesen. Am Schluss seines Buches zitiert er Ilse Aichinger, die 1946 einen Dankesbrief an Stefan Zweig schrieb: „Wir wollten Ihnen sagen, wie sehr Sie in der Selbstvernichtung Europas geistige Heimat geblieben sind, wie sehr Ihr Verantwortungsgefühl wiederum Verantwortung gezeugt hat, ja, wie sehr Sie gerade damals, als Ihr Heimweh und Ihre Erschöpfung den Höhepunkt erreicht hatten, Kraft und Heimat wurden in unseren Herzen.“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015, 288 Seiten, 19,90 Euro.
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Seit 1984 arbeiten die Künstler Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll zusammen. Als Team „Dellbrügge & de Moll“ konnten sie zwischen 2001 und 2009 ein Atelier im Berliner „Atelierhaus Käuzchensteig“ – gleich neben dem „Brücke-Museum“ – nutzen. Das Atelierhaus hat eine Vorgeschichte: Gebaut wurde es als Staatsatelier für Arno Breker, der ab 1942 hier die Monumentalskulpturen für Hitlers Germania-Visionen entwerfen sollte. Breker selbst zog sich angesichts der heftiger werdenden Bomberangriffe auf Berlin kurze Zeit nach Übernahme des Staatsateliers auf sein Rittergut Jäckelsbruch bei Wriezen – ein Geschenk Adolf Hitlers zu Brekers 40. Geburtstag – zurück. Hier wirkte bis zum Kriegsende unter dem Schutz Brekers auch sein Meisterschüler Bernhard Heiliger. Heiliger durfte 1949 das Staatsatelier übernehmen. Zeitgleich wurde er als Nachfolger Heinrich Ehmsens – der leichtsinnigerweise eine Resolution der Weltfriedensbewegung unterschrieben hatte – an die Hochschule der Künste als deren Stellvertretender Direktor berufen. 1986 unterschrieb Heiliger übrigens auch eine Resolution: „Keine Nazi-Kunst in unseren Museen“. Das ging gegen seinen Protektor Arno Breker. Dellbrügge & de Moll haben ihre Erfahrungen und Recherchen zu Breker, Heiliger und zur Geschichte des Kunsthauses Dahlem – so nennt sich das jetzt von einer Tochtergesellschaft der Bernhard-Heiliger-Stiftung betriebene Ausstellungshaus heute – in Form einer künstlerischen Intervention für das Institut Kunst im öffentlichen Raum Steiermark im Herbst 2015 in Graz präsentiert. Das von ihnen verfasste Begleitbuch legt schonungslos die nationalsozialistischen Wurzeln des heutigen deutschen Kunstbetriebes offen und bietet Bedenkenswertes zum Verhältnis von Kunst und Politik.
Dellbrügge & de Moll: Das Monumentale ist meine Krankheit, Institut im öffentlichen Raum Steiermark, Graz 2015, 131 Seiten, 10,00 Euro.
Schlagwörter: Arno Breker, Bernhard Heiliger, Christiane Dellbrügge, E.T.A. Hoffmann, Michael Bienert, Nationalsozialismus, Ralf de Moll, Stefan Zweig, Thomas Mann, Ulrich Weinzierl, Wolfgang Brauer