18. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2015

Fluchtursachen beseitigen – aber wie?

von Winrich Kühne

Es spricht einiges dafür, dass die Kanzlerin die Wirkung ihres „Willkommens-Signals“ auf die große Zahl von fluchtbereiten Menschen völlig unterschätzt hat. Sie und ihre Berater sind offenbar besser vertraut mit Europa und der Politik der Super- und Großmächte als mit der Realität des Lebens in Bürgerkriegsländern und zusammenbrechenden Staaten in Afrika und im Mittleren Osten. Die nach der Pressekonferenz der Kanzlerin im August herrschende Konfusion über die Zahl der zu erwartenden Flüchtlinge deutet zumindest darauf hin: offenbar rechnete die Regierung eher mit Hundertausenden und nicht mit Millionen Flüchtlingen. Die Tatsache, dass – neben nationalen Maßnahmen und der Europa- und Türkeipolitik – die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ von Regierungsvertretern und Hilfsorganisationen sehr schnell als ein entscheidender Pfeiler zur Eindämmung dieses Ansturms ins Spiel gebracht wurde, erscheint logisch und richtig.
Man kann gut verstehen, dass weite Teile der Öffentlichkeit den Slogan von der Notwendigkeit zur verstärkten Bekämpfung der Fluchtursachen für völlig einleuchtend halten. Diejenigen allerdings, die seit langem mit Entwicklung und Wiederaufbau befasst sind, reiben sich die Augen und fragen: Was haben denn Entwicklungspolitik und Peacebuilding, also das zentrale Konzept bei der Stabilisierung und Konsolidierung zerfallender Staaten, in den zurückliegenden Jahrzehnten versucht? Für die Schaffung von Staaten, aus denen zu flüchten es keine hinreichenden Gründe gibt, wurden international Milliarden von US-Dollar und Euro ausgegeben sowie unzählige Soldaten, Polizisten, zivile Experten und Helfer mit entsprechenden Projekten entsandt.
Die Erfolgsbilanz jedoch ist ernüchternd, wenn nicht erschreckend. Der gegenwärtig zu beobachtende Rückfall Afghanistans in Gewalt, Zerstörung und massenweise Flucht könnte das nicht deutlicher machen. Laut UN hat sich die Herrschaft der Taliban ebenso wie die Zahl der Gewaltakte wieder in einem Maße ausgeweitet, wie das seit 2001 nicht mehr zu beobachten war. Internationales Personal bewegt sich nur noch in Helikoptern oder gepanzerten Fahrzeugen im Lande, soweit es nicht bereits abgezogen wurde. Schlimmer noch: Der IS gewinnt mit seinem brutalen Vorgehen auch in Afghanistan an Boden.
In anderen Konfliktländern sieht es nicht wesentlich besser aus. Man denke nur an Somalia, den Süd-Sudan, den Jemen, aber auch den Irak nach der fehlgeleiteten amerikanischen Intervention, die DR Kongo oder Burundi, das zeitweilig als eine Erfolgsstory galt, aber nun wieder in Gewalt und Zerfall abstürzt. Alle diese Länder haben über Jahre oder sogar Jahrzehnte beträchtliche Entwicklungs- und Aufbauhilfe erhalten. Und niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass es in den arabischen Konfliktländern erstzunehmende Erfolge bei Konfliktprävention oder Stabilisierung gegeben hat, obwohl Konfliktprävention auf der Webseite des Auswärtigen Amtes, im Prinzip durchaus zu Recht, als entscheidendes Instrument zur Bekämpfung der Fluchtursachen genannt wird. Die Feststellung der Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärungen vom 15. Oktober 2015 in Bezug auf Syrien ist demgegenüber erfrischend klar: „Wir müssen konstatieren: Alle bisherigen diplomatischen Bemühungen haben nicht den geringsten Erfolg gebracht.“
Der Einwand gegen diese kritischen Feststellungen liegt auf der Hand: Wir müssen es jetzt eben besser machen. Klingt gut, aber leider nur für die, die noch nicht lange mit diesem Thema befasst sind. Denn tatsächlich hat es in den letzten zwei Jahrzehnten schon unendliche viele Diskussionen und Runden von Lessons-Learned-Seminaren gegeben, die der Frage nachgingen, wie Entwicklungs- und Aufbauhilfe effektiver gemacht werden könnten. Die Schlussfolgerung war immer dieselbe: Wir müssen es besser machen und unsere Konzepte und Instrumente überprüfen. Geholfen hat das wenig. Ganz im Gegenteil, vor allem in den Ländern, die massive Unterstützung bekamen, haben Korruption und organisierte Kriminalität zugenommen, teilweise sogar dramatisch – obwohl deren Bekämpfung immer ein wichtiger Bestandteil der Entwicklungszusammenarbeit war. Es ist kein Zufall, dass der Bundesnachrichtendienst sich Anfang November veranlasst sah, wegen der Rolle der hochprofessionell agierenden afghanischen Schleppernetze beim Strom der Flüchtlinge nach Europa Alarm zu schlagen.
Die Hoffnung, es diesmal und schnell besser machen zu können, ist also müßig. Denn tatsächlich liegen die Gründe für das Scheitern zu tief, als dass sie allein durch gute Absichten zu beseitigen wären. Einer davon ist das Ausmaß von Korruption und Machtmissbrauch der Regierungen und politischen Eliten in den Fluchtländern. Die Tatsache, dass in diesen Ländern immer mehr Menschen zu der Überzeugung kommen, dass sie in ihrer Heimat keine Perspektive mehr haben, ist nicht überraschend. Ohne verantwortungsvolles Local Ownership, und das fängt bei Regierungen und Eliten an, fehlt die Grundlage für eine erfolgreiche Unterstützung von außen. Die internationalen Geber ebenso wie die UN und die EU sind sich darüber im Prinzip einig. Dennoch werden in der Praxis fast nie Programme beendet oder gar nicht erst begonnen, obwohl es an einem solchen Ownership fehlt. Die Folge liegt auf der Hand: Regierungen und Eliten in den meisten Konfliktländern sind häufig besser darin, die internationale Unterstützung zu ihrem Vorteil zu nutzen, als die internationalen Akteure darin, die Eliten zu einem verantwortungsvolleren Verhalten zu veranlassen.
Das Konzept des Peacebuilding ist auch aus anderen Gründen in Schwierigkeiten. Wahlen, Förderung von Menschenrechten, Ahndung von Kriegsverbrechen sind anerkanntermaßen wichtige Schritte, um durch den Aufbau demokratischer Strukturen aus dem Zyklus von Gewalt und Konflikt herauszukommen. Per se schaffen diese Schritte jedoch keine stabilen Verhältnisse. Im Gegenteil, Wahlen bergen in Konfliktländern ein erhebliches Risiko von erneuter Gewalt. Stabile Verhältnisse sind nur zu erreichen, wenn – neben dem Aufbau einer unabhängigen Justiz – in den für die Machtausübung zentralen Bereichen grundlegende Veränderungen durchgeführt werden, also bei Militär, Polizei und anderen Sicherheitseinrichtungen. Denn Militär, Polizei und häufig selbst die Justiz verstehen sich in den meisten Konfliktländern mehr oder weniger als Diener oder Kumpane der jeweiligen Machthaber. Sie mental ebenso wie institutionell so zu verändern, dass sie sich der Bevölkerung und einer zivilen, rechtsstaatlich-demokratischen Führung verpflichtet fühlen, bedeutet einen Wandel der politischen Kultur in diesen Ländern um 180 Grad. Das ist, wie die Lehren aus zwei Jahrzehnten von Peacebuilding in einer Vielzahl von Ländern zeigen, äußerst schwierig und dauert sehr, sehr lange. Denn, anders als viele meinen, geht es bei der sogenannten Sicherheitssektorreform keineswegs nur um die technische Verbesserung von Ausstattung und Ausbildung von Militär, Polizei und Justizwesen.
In den USA scheint die Neigung, einen in diesem Sinne selbstkritischen Blick auf die Erfolglosigkeit der eigenen Programme zu werfen, zuzunehmen. So stellt die New York Times in einem Beitrag vom 3. Oktober 2015 fest, dass trotz des Einsatzes von Milliarden von U.S. Dollar die von den USA trainierten und unterstützten ausländischen Streitkräfte nicht oder nur wenig einsatzfähig sind, desertieren oder, wie in Mali, Afghanistan und dem Irak, gar als ganze Einheiten mit ihren Waffen zur Gegenseite überlaufen. Ein ehrlicher Blick auf die deutschen und europäischen Bemühungen müsste eingestehen, dass sie nicht signifikant erfolgreicher waren.
Schließlich gibt es noch eine weitere Entwicklung, die ein Anschwellen des Flüchtlingszustroms nach Europa auf die von manchen Experten vermuteten zehn Millionen in den nächsten Jahren möglich erscheinen lässt: die Bevölkerungsexplosion in Afrika ebenso wie in den meisten Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Sie hat ein dramatisches Anwachsen der Zahl von Jugendlichen unter 30 auf bis zu zwei Drittel der Bevölkerung zur Folge – Jugendliche ohne „Perspektive“. Dieses Problem spielt in der gegenwärtigen Diskussion über Fluchtursachen eine erstaunlich geringe Rolle. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu den korrupten, nicht zur Verantwortung bereiten Eliten in fataler Weise. Die Jugendproblematik ist ebenso wie das Flüchtlingsdrama für sie im Großen und Ganzen kein wichtiges Thema, weder national noch in regionalen Foren wie der Afrikanischen Union. Soll sich doch Europa verantwortungsbereit zeigen.
Es entspräche nicht dem Duktus dieses Beitrags, mit einfachen Empfehlungen und Erfolgsrezepten für die Politik zu enden. Zweierlei jedoch liegt auf der Hand: Erstens, Europa und gleichermaßen Deutschland können es sich nicht leisten, Milliarden Euros und tausende von Beratern für Engagements zu verschwenden, die offenbar bei der Bekämpfung der Fluchtursachen wenig Effekt haben. Es ist deswegen sehr genau und selbstkritisch zu prüfen, welche Engagements, ob zivil oder militärisch, überhaupt eine Erfolgsperspektive haben. Es werden nicht allzu viele sein.
Zweitens ist ein substantielles Umsteuern der für Entwicklungshilfe und Wiederaufbau zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen zugunsten der Bewältigung des Flüchtlingsansturms notwendig. Das muss in den nächsten Jahren absolute Priorität haben und wird enorme Ressourcen, aber auch Expertise und Erfahrung verlangen. Letztere sind in den genannten Bereichen reichlich vorhanden, sowohl was Sprache als auch Kenntnis der Kultur und Befindlichkeit der Menschen aus den Fluchtländern betrifft. Freiwillige können nur vorübergehend die Antwort sein.

Aus: IPG. Internationale Politik und Gesellschaft, 04.12.2015.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.