18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Die Terroristen von Paris

von Stephan Wohanka

Medium auf, medium ab gilt es als ausgemacht, dass die Terroristen von Paris dadurch zu Terroristen wurden, dass sie in den Vorstädten aufwuchsen und sozialisiert wurden, dass sie sich in einer „hoffnungslosen Situation“ befanden, die ihnen nur Gewalt als Ausweg ließ. Wer weiter nach dem Warum, dem Grund der Radikalisierung fragt, kann sich der Antworten mehr aussuchen: Religion, Politik, Männlichkeitskult. Sie weisen ins Allgemeine, weg vom Täter und seiner Wesensart. Mit anderen Worten – die französische Gesellschaft oder weiter gefasst, wir alle müssten uns fragen, was wir falsch gemacht haben, wo unsere Versäumnisse liegen.
Betrachtet man die nun in der Öffentlichkeit ausgebreiteten Biografien der Täter näher, so scheint das nicht wirklich zuzutreffen. Wie der Soziologe Ulrich Bielefeld sagt, handele es sich dabei um „Massenlebensläufe von Einwanderern“ in Frankreich – und doch es gebe nur ausnahmsweise eine derartige Radikalisierung wie bei den Attentätern. Auch andere Untersuchungen belegen, dass die Wissenschaft bisher noch keinen Zusammenhang zwischen der Armut des Einzelnen und dem Terrorismus erkennen kann. Wäre das anders, wäre das Heer der Terroristen angesichts des Elends in der Welt riesig …
Der Godfather aller Terroristen, Osama bin Laden, sagte im Oktober 2004 kurz vor der US-Präsidentenwahl in seiner „Botschaft an das amerikanische Volk“: „Der Staatsterror heißt Freiheit und Demokratie, und der Widerstand heißt Terrorismus und Opposition.“ Ich denke – an diesen Worten gilt es anzusetzen, wenn man den Terror, auch den von Paris, erklären will. Und diesem Erklären muss ich eine Korrektur meiner bisherigen Meinung voranstellen. Bis dato war ich der Auffassung, dass es schon verwundere, dass seinerzeit Teile der bundesdeutschen Intelligenzija (Sloterdijk, Grass und andere) unter dem (wohlfeilen) Beifall eines nicht geringen Bevölkerungsteiles meinten, die „Verantwortung“, ja die „Schuld“ für den Terrorismus primär in unserer westlichen Zivilisation suchen zu müssen. Es käme also zu der mehr als paradoxen Situation – so schrieb ich seinerzeit weiter –, dass nicht etwa die islamische Welt sich fragte oder befragt wurde, warum sie diese Verbrecher hervorgebracht habe; nein, der Westen fragte sich: Was haben wir bloß falsch gemacht, wie konnten wir die Islamgläubigen auch nur so ungebührlich reizen? Sloterdijks These, „daß die westliche Demokratie jene Lebensform ist, in der man für seine Feinde verantwortlich ist“, war mir eine mehr als verkehrte Welt!
Jetzt bin ich der Auffassung – und das ist das Neue, das ich hinzulernte – dass es schon an der westliche Gesellschaft per se liegt, dass sich der Terrorismus breit (ge)macht (hat). Ja – auch durch ihre „Versäumnisse“; vor allem jedoch durch ihre pure Existenz, ihr Sein, so wie sie ist! Betrachtet man – wie gesagt – das Leben, welches die Attentäter führten, bevor sie sich in die Luft sprengten oder um sich schossen, ist es eher so, dass nicht Armut und nicht fehlende Anerkennung ihre Probleme waren, sondern die westlich geprägte Zivilisation, in der sie – zwangsläufig, da Franzosen – aufwuchsen. Diese Zivilisation konnte ihnen nicht den ideellen Halt bieten, der neben dem Materiellen notwendig gewesen wäre. Diesen suchten und fanden ihn im Islam. Nicht die libertäre, freiheitliche, von Pluralismus und Relativismus geprägte Gesellschaft, sondern eine rigide, von Ver- und Geboten dominierte Religion lieferte ihnen das Vermisste; „angereichert“ um Hass auf die heimatliche westliche Zivilisation, Faszination von Gewalt, Abenteurertum und mehr. Der Rest ist Geschichte …
Wie sagte es doch bin Laden: „Der Staatsterror heißt Freiheit und Demokratie und der Widerstand heißt Terrorismus und Opposition“. Wenn unsere idealerweise an Demokratie und Freiheit orientierte Lebensweise, sogar dann, wenn das Ideal permanent verfehlt wird oder gerade deshalb, als Staats„terror“ gebrandmarkt wird, ist jedwede Übereinkunft schwer, wenn nicht unmöglich. Oder doch? „Islam ist die Lösung. Die Ungläubigen müssen sich dem Koran unterwerfen. Dann herrscht Frieden“, so hat es ein Chefideologe der Taliban im pakistanischen Peshāwar dem deutschen Journalisten Hans Christoph Buch gesteckt.
Sollten wir also wegen aller ihr anhaftenden Unzulänglichkeiten und um des lieben „islamischen“ Friedens willen von unserer westlichen Lebensart ablassen? Natürlich nicht! Aber zugegeben, der Umgang mit Freiheit kann manchmal – das zeigen auch andere Beispiele, namentlich solche aus der deutschen Geschichte – verdammt schwer sein. Anstelle des oben zitierten Sloterdijk-Satzes von Verantwortlichkeit der westlichen Demokratie für ihre Feinde würde ich davon sprechen, dass diese Demokratie die Existenz ihrer Feinde hinnehmen muss …
Die Lage der Jugendlichen und jungen Frauen und Männer in den berühmt-berüchtigten Banlieues muss verbessert werden, diesen Menschen müssen Perspektiven eröffnet werden, und doch ist das nur die notwendige Korrektur langjähriger skandalöser sozialer Ungerechtigkeit.
Ob das auch Erfolge beim Zurückdrängen des Terrorismus zeitigt, ist fraglich, denn die Auseinandersetzung mit diesem spielt sich, das wurde deutlich, grundsätzlich auf einer anderen Ebene ab. Auch wenn Huntingtons Buch seinerzeit zu kontroversen Diskussionen führte und von der Politikwissenschaft von Beginn an heftig kritisiert wurde, so kommt einem sein Titel doch unwillkürlich in den Sinn – „Kampf der Kulturen“, mit der Hypothese, dass es im 21. Jahrhundert zu Konflikten zwischen verschiedenen Kulturen, unter anderem zwischen der westlichen und der islamischen, kommen könnte.
Eins scheint mir in diesem Kontext besonders wichtig – die Integration von Flüchtlingen wird einen noch ganz anderen Stellenwert einnehmen müssen als bisher. Sie sollte nicht zu einer Assimilation mutieren – nein, aber deutlich(er) die Wertegemeinsamkeit aller hier Lebenden ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen.