von Holger Politt, Warschau
Da wurde nicht lange gefackelt. Die Liste mit den sozialen Versprechungen der Regierung ist lang. Und sie ist zeitlich gebunden, denn innerhalb von nur einhundert Arbeitstagen sollen die in der Regierungserklärung von Beata Szydło konkret angesprochenen Dinge umgesetzt werden. Auf der Liste stehen ein gesetzliches Kindergeld ab zweitem Kind in Höhe von umgerechnet 120 Euro, die Senkung des gesetzlichen Renteneinstiegsalters für Frauen auf 60 und für Männer auf 65 Lebensjahre, das nach der Rentenreform der Vorgängerregierung auf einheitlich 67 Lebensjahre angehoben worden war, kostenfreie Medikamente für Menschen ab dem 76. Lebensjahr, die Anhebung des Steuerfreibetrags auf umgerechnet 2.000 Euro und des gesetzlichen Mindestlohnes auf drei Euro die Stunde, schließlich auch noch die Rücknahme der Schulpflicht ab sechs Jahre, so dass die Eltern künftig selbst entscheiden sollen, ob das Kind bereits mit sechs oder erst mit sieben Jahren in die Schule kommt.
Ausflüchte kann es eigentlich nicht geben, denn PiS regiert mit Stimmenmehrheit und der eigene Staatspräsident wird die entsprechenden Gesetzesnovellen nicht mit einem Veto belegen, das dann im Parlament mit Zweidrittelmehrheit überstimmt werden müsste. Wohl auch deshalb wurde der forsche Schritt gewählt, der Opposition wie Öffentlichkeit erstaunte. An Wahlversprechen ist man in Polen gewöhnt, doch noch nie seit 1989 hat eine Regierung angekündigt, sie innerhalb der sowieso nicht ganz einfachen Eingewöhnungszeit umzusetzen. Es scheint, als habe die PiS-Regierung Großes vor.
Um dem Ganzen nun einen rechten Rahmen zu geben, stellte Jarosław Kaczyński bei seinem ersten Auftritt im neuen Parlament die beiden wichtigsten Aufgaben heraus, vor denen das Land nun stehe: Erstens müsse ein Zivilisationssprung absolviert werden, was immer er darunter nun im Einzelnen auch verstehen mag, und zweitens müsse die nationale Gemeinschaft erneuert und konsolidiert werden. Für das erste Ziel sollen auch weiterhin die EU-Mittel genutzt werden, nur solle Polen aufhören, eine verlängerte Werkbank zu sein mit vergleichsweise niedrigen Lohnkosten, die häufig genug der einzige Wettbewerbsvorteil seien. Szydło versprach sogar ein riesiges Investitionsprogramm, so dass kein Pole mehr gezwungen sei, wegen Broterwerbs außer Landes gehen zu müssen. So gesehen ist die geplante Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf umgerechnet nun drei Euro die Stunde allenfalls ein erster, allerdings recht kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Wie schwierig diese gesamte Linie aber im Detail werden dürfte, mag eine Sache verdeutlichen, in der Kaczyński auch im Wort steht. In der polnischen Steinkohle arbeiten noch über 100.000 Menschen, mehr als in allen übrigen EU-Ländern zusammengenommen. Ihnen wurde versprochen, sich vehement für erweiterte und verlängerte Ausnahmeregelungen bezüglich der klima- und energiepolitischen EU-Ziele einzusetzen. Es geht schlicht darum, die polnische Energiewirtschaft als größten Absatzmarkt für die einheimische Steinkohle erhalten zu können. Was dieses Versprechen nun aber mit dem angekündigten Zivilisationssprung zu tun haben wird, muss Kaczyński dann klären.
Das zweite Ziel aber hat es in sich, weil Kaczyński hier durchaus Lorbeeren aufzuweisen hat. Bereits 2006/07, als er Ministerpräsident war, wurde die geschichtspolitische Sau fast jeden Tag durchs Dorf getrieben. Dabei ging es ihm weniger um neue Erinnerungstafeln oder Denkmäler als solche, vielmehr sollte nachhaltiger Grund gelegt werden, um das Polentum im Meer der EU-Integration zu stützen, so dass Land und Leute erkennbar bleiben. Deshalb die nationale Gemeinschaft, die unerlässlich sei, die aber in den zurückliegenden Jahren stark beschädigt worden und unter mächtigen Druck geraten sei. Wenn man so will, eine nationalkonservative Variante der Kritik am eher ungezügelten Neoliberalismus, unter dessen Stern Polens Aufholjagd gegenüber dem Westen bisher absolviert wurde.
Schaut man tiefer, werden die Abgründe schnell erkennbar. Im Zentrum des Bildes von einer nationalen Gemeinschaft, wie Kaczyński sie versteht, steht das, was als Genderideologie verschrien wird. Aller Fortschritt etwa, der für die LGBT-Milieus in den Jahren seit dem EU-Beitritt mühsam erreicht und durchgesetzt werden konnte, ist nichts anderes als der antinationale Gegenentwurf zu dieser nationalen Gemeinschaft. Einer seiner Leute meinte sogar frank und frei, die Deutschen vor allem würden sich hervortun, um solches Treiben gegen den Bestand er nationalen Gemeinschaft zu fördern.
Wie schnell solche Rhetorik im nun beginnenden Regierungsbetrieb ihr Maß findet, wird abzuwarten bleiben. PiS-Chef Kaczyński der starke Mann Polens, ist ohne jedes Regierungsamt. Er zieht zwar an allen entscheidenden Strippen, doch braucht er legislative Kontrolle nicht zu fürchten. Einen solch eigenwilligen Zustand gibt es in keinem anderen EU-Land. Spötter meinen bereits, dass jeder künftige Regierungs- oder Staatsgast seine Aufwartung auch dem Herrn Parteivorsitzenden zukommen lassen möchte, denn jeder werde wissen, wer im Lande das Sagen habe.
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