von Bernhard Mankwald
Wie unentbehrlich die Luft zum Atmen ist, kann man jederzeit feststellen, indem man versucht, auch nur wenige Minuten ohne diese Ressource auszukommen. Trotzdem hat es noch niemand geschafft, sie Menschen zu verkaufen, die in ihrer gewohnten Umgebung leben; Taucher sind da eine wesentlich profitablere Kundschaft.
Durch Tausch oder Kauf erwirbt man also nur Güter, die nicht frei verfügbar sind. Der Tauschpartner muss mindestens ein gewisses Maß an Mühe aufgewendet haben, um sich ein Naturprodukt anzueignen; typisch für unsere Zeit sind Güter, die in sehr komplizierten Arbeitsgängen mit Hilfe aufwendiger Maschinen aus einer Vielzahl von Vorprodukten hergestellt werden.
Karl Marx dachte also sehr konsequent, als er (in der Tradition von David Ricardo) in seinem ökonomischen Werk von der Annahme ausging, dass der Tauschwert eines Produkts durch die Arbeit bestimmt wird, die in ihm steckt. Ausgetauscht werden ja immer verschiedene Gebrauchswerte. (Was man selbst hergestellt hat, bietet man an, was man braucht, aber nicht selbst herstellen kann, muss man von anderen Anbietern eintauschen. Geld entstand in diesem Wechselverhältnis unter anderem als allgemeines Wertäquivalent für den Austausch zwischen denen, die ihre direkt verfügbaren Tauschobjekte nicht unbedingt unmittelbar gegenseitig benötigten, und wurde schließlich zum allgemeinen Tauschäquivalent.) Was aber kann letztlich nicht direkt vergleichbaren Dingen (Waren) gemeinsam sein, wenn nicht ihr Charakter als Produkt menschlicher Arbeit?
Ohne Gebrauchswert gibt es für Marx daher auch keinen Tauschwert oder Warenwert; niemand wird etwas Wertvolles für etwas gänzlich Nutzloses hergeben. Meist spricht Marx daher einfach vom „Wert“, in dem er ein gesellschaftliches Verhältnis sieht. Dieser Wert drückt sich in frühen Stadien der Ökonomie in einer bestimmten Menge der anderen Ware aus, die man für sein Produkt einhandelt, später in Geld. (Siehe hierzu meine Beiträge im Blättchen 22/2014 und 24/2014.)
Marx sieht den Normalfall darin, dass gleiche Werte ausgetauscht werden. Wie aber kann das Kapital dann Profit erzielen? Es muss eine Ware finden, „deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein“. Und diese Ware findet das Kapital in der Tat – zurzeit wieder gerade sehr reichlich – auf dem Markt: die Arbeitskraft. Auch sie wird nach Auffassung von Marx im typischen Fall nach ihrem Wert bezahlt; dieser wird durch den Wert der notwendigen „Lebensmittel“ bestimmt, wozu Marx auch Kleidung, Unterkunft und sonstige notwendige Güter rechnet. Dieser Aufwand seinerseits wird in einem Teil der vereinbarten Arbeitszeit reproduziert; in der übrigen Zeit entsteht Mehrwert, aus dem sich auf recht verschlungenen Pfaden der Profit des Kapitals speist. – Unsere Finanzbehörden folgen recht ähnlichen theoretischen Erwägungen, wenn sie die „Mehrwertsteuer“ erheben.
Wertmaßstab ist aber nach Marx nicht die tatsächlich geleistete Arbeit, sondern das Quantum, das eine durchschnittlich geschickte Arbeitskraft benötigt. Komplizierte Arbeit wird höher bewertet als einfache; sehr weitreichende Folgen hat dabei der verstärkte Einsatz von Maschinen.
Als Beispiel sei ein Produkt genannt, das spätere Generationen wohl als Leitfossil unserer Epoche ansehen werden: das Automobil. In der Frühzeit dieser Industrie wurden die Fahrzeuge so gebaut, dass vielseitig ausgebildete Handwerker eine Karosserie nach der anderen aufbauten und mit den notwendigen Aggregaten bestückten. Ein gewisser Henry Ford machte es anders: Er ließ die Autoteile mit Hilfe von Fließbändern zu den Arbeitern kommen und beschränkte deren Tätigkeit auf jeweils wenige möglichst einfache Handgriffe. In den einzelnen Fahrzeugen – die alle einem betont einfach konstruierten Einheitsmodell entsprachen – steckte also viel weniger Arbeit als in den handwerklichen Produkten der Konkurrenz. Der Gebrauchswert hingegen war durchaus vergleichbar. Nach der Ausdrucksweise von Marx hatten die Produkte bei niedrigerem individuellem Wert einen gesellschaftlichen Wert, der mit denen der Konkurrenz vergleichbar war; der Fabrikant erzielte einen „Extramehrwert“. Er konnte seine Produkte, wie von Marx vorhergesehen, „daher über ihrem individuellen, aber unter ihrem gesellschaftlichen Wert verkaufen“. Eine Reihe von Preissenkungen bei gleichzeitig höherem Profit erlaubte es der Firma, Marktanteile zu gewinnen und den Markt in ungeahnter Weise auszuweiten. So begann eine Blechlawine, die unsere Welt an vielen Stellen zu einem sehr feindseligen Ort macht – vor allem, wenn man die Kriege mitrechnet, die um das zum Betrieb notwendige Öl schon geführt wurden und noch werden.
Die Konkurrenz gewann mit vereinten Kräften die Oberhand. Eine Vielfalt der Produkte verdeckt nunmehr die Einfalt der Gemüter, die sie als Identitätsprothesen benötigen. Die aktuellen Auswüchse dieses Marktes hat Heino Bosselmann im Blättchen 16/2015 sehr treffend beschrieben.
Das aktuelle Zauberwort lautet „flexible Massenproduktion“. Dabei werden immer mehr Arbeitsgänge gänzlich von Maschinen übernommen, was natürlich immense Investitionen erfordert. Das wahre Kunststück scheint jedoch darin zu bestehen, Fahrzeuge mit hohem Aufwand an Handarbeit herzustellen – und diese dann auch bezahlt zu bekommen; dies lässt sich jedenfalls aus dem auffälligen Interesse deutscher Großkonzerne an britischen und italienischen Luxusmarken folgern.
Marx hat aber auch die permanente Drohung beschrieben, die über dieser und anderen Branchen hängt: die stete Gefahr der Überproduktion. Selbst nach kapitalistischer Logik ist nur diejenige Arbeit „gesellschaftlich notwendig“, deren Produkt letzten Endes einen Abnehmer findet. In der Krise des Jahres 2008 wurde die erwünschte Nachfrage in Deutschland durch massive – und sehr kostspielige – staatliche Interventionen geschaffen. In den folgenden Jahren sorgten vor allem der Export nach China und anderen prosperierenden Ländern für ein gewisses Maß an Aufschwung und für viel Exportüberschuss.Wir wurden trotzdem alle paar Monate mit neuen Finanzkrisen konfrontiert. Aktuelle Berichte über den VW-Konzern zeigen nun, dass im Kampf um Marktanteile auch ein sehr flexibler Umgang mit der Wahrheit für nötig erachtet wurde. Man hat es dort offenbar verstanden, unreinliche Motoren so zu programmieren, dass sie sich in bestimmten Testsituationen wie Muster an Sauberkeit aufführen. Während weitere Enthüllungen bevorstehen, zeigen sich auf dem Hauptexportmarkt Anzeichen nachlassender Konjunktur. Es ist also wohl kaum zu erwarten, dass die Krisen seltener oder harmloser werden.