von Ulrich Busch
Unterzieht man die Wirtschaftsdaten Ostdeutschlands einer Langzeitanalyse, so ist, bezogen auf den Gesamtzeitraum von 1990 bis 2015 und komparativ zu Westdeutschland, durchaus eine positive Entwicklung zu konstatieren. Diese äußert sich für die ostdeutsche Wirtschaft als Aufbau- und Aufholprozess. Im Einzelnen zeigt sich jedoch, dass dieser Prozess weder kontinuierlich noch gleichbleibend dynamisch verläuft und bislang nicht zu einer Angleichung des Niveaus Ostdeutschlands an das Niveau Westdeutschlands geführt hat.
Typisch war vielmehr zunächst (1990/91) ein starker Einbruch der ostdeutschen Wirtschaft, wodurch sich die Ost-West-Differenz spürbar vergrößerte: das relative Niveau beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ging von 54,9 Prozent (1989) bis auf 33,3 Prozent (1991) zurück. Die Folgejahre, 1992 bis 1996, waren durch einen radikalen Strukturwandel und Modernisierungsprozess der ostdeutschen Wirtschaft gekennzeichnet, durch einen starken Anstieg der Arbeitsproduktivität und ein Produktionswachstum, welches das in den alten Bundesländern übertraf.
Im Verlaufe der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erlahmte die Dynamik jedoch, was dazu führte, dass der Aufholprozess stagnierte. Diese Phase der Konsolidierung dauerte bis 2001. Danach kam es zwar wieder zu einem Anstieg der ostdeutschen Wirtschaftsdynamik, der Konvergenzprozess gegenüber Westdeutschland vollzog sich aber nur noch „in Trippelschritten“. Seit 2005 gelingt es der Wirtschaft in den neuen Ländern kaum mehr, eine höhere Dynamik als die der Wirtschaft in den alten Ländern zu entfalten. Der Konvergenzprozess stagniert seitdem vollends.
Die Gründe dafür sind vor allem in einem Zurückbleiben der Modernisierung und der Investitionstätigkeit seit 1997 sowie in der demografischen Entwicklung Ostdeutschlands zu sehen. Dadurch ging der mit Hilfe von Wirtschaftsfördermaßnahmen in den 1990er Jahren erreichte Modernisierungsvorsprung bzw. -gleichstand der Unternehmen wieder verloren. Hinzu kommen strukturelle Nachteile infolge der Kleinteiligkeit der Wirtschaft, das Fehlen von Großbetrieben und Konzernzentralen, Metropolräumen. Die Anlageinvestitionen, die 1997 noch 153,7 Prozent des Westniveaus betrugen, gingen bis 2011 auf 86,1 Prozent zurück, der relative Modernitätsgrad der Ausrüstungen, der 1997 bei 129,6 Prozent gelegen hatte, sank auf 98,5 Prozent. Der Anteil des Forschungs- und Entwicklungspersonals an den Erwerbstätigen betrug 2011 im Osten (ohne Berlin) 4,0 Prozent, im Westen aber waren es mehr als doppelt so viele, 9,5 Prozent.
Im letzten Jahrzehnt ging es deshalb mit dem Aufholen kaum mehr voran. Eher ist eine Parallelentwicklung auf unterschiedlichem Niveau zu konstatieren. Angesichts der bestehenden Voraussetzungen spricht wenig dafür, dass das Konvergenzziel einer Angleichung im ökonomischen Niveau bis 2020 erreicht werden wird. Wahrscheinlicher ist, dass die ostdeutsche Wirtschaft hinsichtlich zentraler Indikatoren dann immer noch bei rund 70 Prozent des Westniveaus liegt oder sogar darunter. Gemessen am Ausgangsniveau von 1990 hätte sie dann zwar aufgeholt, gleichwohl die westdeutsche Wirtschaft aber keineswegs eingeholt.
Gesamtwirtschaftliche Prognosen gehen nicht mehr von einer Angleichung der Wirtschaftskraft in Ost und West aus, sondern betonen vielmehr die strukturellen Unterschiede und die grundlegenden Differenzen zwischen ost- und westdeutscher Wirtschaft. Ökonometrische Berechnungen besagen, dass eine vollständige Konvergenz ohnehin frühestens „nach rund 50 Jahren“ zu erwarten wäre. Bezieht man jedoch die divergente Bevölkerungsentwicklung in Ost und West sowie den extremen Alterungs- und Schrumpfungsprozess im Osten mit in die Analyse ein, so erscheint selbst diese Prognose zu optimistisch. Wahrscheinlicher ist, dass Ostdeutschland bei zunehmender regionaler Differenzierung von den wirtschaftlich starken Metropolräumen im Westen und im Süden der Republik mehr und mehr abgekoppelt wird und sich hinsichtlich Niveau und Dynamik künftig anders als diese entwickelt: So beträgt zum Beispiel der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung im Osten nur 15,1 Prozent, im Westen aber 23,0 Prozent (2013). Dort arbeiten 43,6 Prozent aller Beschäftigten in Großbetrieben (ab 500 Beschäftigte), im Osten sind dies nur 21,7 Prozent. Im Westen zählen 34,6 Prozent der Arbeitnehmer als Führungs- und hochqualifizierte Arbeitskräfte, im Osten nur 28,7 Prozent. Hierin liegen wesentliche Ursachen für die Produktivitätslücke und das anhaltende ökonomische Niveaugefälle.
Da sich diese Diskrepanzen offensichtlich in historischer Frist nicht überwinden lassen, wird man mit ihnen leben müssen. Nach 2019, wenn der Solidarpakt II ausgelaufen ist und der Aufbau Ost für beendet erklärt ist, wird die Konvergenzgeschwindigkeit gegen Null tendieren und das Konvergenzziel gänzlich von der politischen Agenda verschwinden. Dann wird es Zeit, realistische Alternativen für Ostdeutschland vorzulegen und umzusetzen, Alternativen, die jenseits eines „Nachbaus West“ angesiedelt sind und die ohne den Anspruch, die westdeutsche Wirtschafts- und Lebensweise zu kopieren, auskommen.
Die Ergebnisse der deutschen Vereinigungspolitik seit 1990, und dabei insbesondere die nicht gelösten Aufgaben zur Erreichung wirtschaftlicher und sozialer Konvergenz, bilden den Ausgangspunkt für prospektive Überlegungen zur Entwicklung Ostdeutschlands in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Im Vordergrund steht dabei weiterhin die Frage, wie in Ostdeutschland die Bedingungen für eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung als Grundlage für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse geschaffen werden können. Bei der Beantwortung dieser Frage ist nunmehr aber nicht mehr von einem Kopieren westdeutscher Entwicklungsmuster und Lebensweisen auszugehen, sondern von den sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte herausgebildeten regionalspezifischen Bedingungen und Besonderheiten Ostdeutschlands.
Dabei verändert sich die Perspektive dahingehend, dass einige bisher als ungünstig oder nachteilig empfundene Gegebenheiten wie die geringe Bevölkerungsdichte, die kleinteilige Wirtschaftsstruktur oder die stärkere Regionalbindung der Unternehmen nunmehr als Chance begriffen werden, um bestimmte Entwicklungsprozesse und notwendige Pfadwechsel wie die Energiewende, die ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft oder die Durchsetzung einer naturverbundenen und kulturell vielfältigen Lebensweise vollziehen zu können. Andererseits lässt sich die ostdeutsche Entwicklungsproblematik fünfundzwanzig Jahre nach der Vereinigung nur noch im Kontext gesamtdeutscher Entwicklungskonzepte sinnvoll erörtern und ist ihre Lösung nur noch als Teil der Zukunftsgestaltung Deutschlands und Europas denkbar.
Um sich wirtschaftlich und sozial erfolgreich entwickeln zu können, braucht Ostdeutschland mehr als Transfers. Dem regionalen Import von Gütern und Leistungen muss künftig ein ähnlich hoher Export entsprechen, dieser aber kann gänzlich anders strukturiert sein. So ist es denkbar, dass in Ostdeutschland neben traditionellen Industrien in einigen Ballungszentren künftig Bereiche wie Gesundheitswirtschaft, Kultur und Tourismus, aber auch die alternative Energieproduktion sowie eine ökologisch betriebene Landwirtschaft strukturbestimmend sein werden. Dadurch würde eine selbsttragende Entwicklung möglich und zugleich ein wirtschaftlicher Pfadwechsel realisiert, es würden Einkommen generiert werden und der Transferbedarf könnte zurückgehen. Bedingung dafür ist jedoch eine Zunahme der Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Unternehmen und eine größere Attraktivität des Standortes „Ost“. Um dies zu erreichen, bedarf es höherer Investitionen in moderne „Industrien“, höherer Infrastrukturausgaben, mehr Forschungsleistungen und einer breiten Förderung von Zukunftsprojekten. Auch muss der Braindrain aufhören beziehungsweise partiell umgekehrt werden, um die notwendigen Humanressourcen für die Zukunft zu sichern.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch: „Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit. Facetten einer unvollendeten Integration“, Herausgeber Ulrich Busch & Michael Thomas, trafo Wissenschaftsverlag Berlin 2015. Auf Quellenangaben wurde verzichtet.
Schlagwörter: Langzeitanalyse, Modernisierung, Ostdeutschland, Strukturwandel, Ulrich Busch, Wirtschaft