von Peter Linke, zzt. Moskau
Washingtons Sicherheitsexperten diskutieren die neue Militärstrategie der USA. Einig sind sie sich vor allem in einem: Das vom Vorsitzenden des Generalstabs General Martin Dempsey Anfang Juli vorgelegte Dokument verdiene die Bezeichnung „Strategie“ nur sehr bedingt. Es anerkenne, so Bryan Clark vom Zentrum für Strategische und Budgetäre Einschätzungen (CSBA) stellvertretend für viele, dass Ressourcen knapp seien, aber beschreibe nicht, wie die Streitkräfte ihre Ziele entsprechend modifizieren oder wie sie diese mit weniger Mitteln als in der Vergangenheit verfolgen werden …
Was Dempseys Opus freilich sehr eindringlich beschreibt, ist die Sorge Washingtons, die USA könnten in einer zunehmend komplexen Welt ihren militärtechnologischen Vorsprung schnell einbüßen: „Wir stehen“, warnt der General „vor multiplen, simultanen Sicherheitsherausforderungen seitens traditioneller staatlicher Akteure sowie transregionaler Netzwerke substaatlicher Gruppen, die alle vom schnellen technologischen Wandel profitieren.“ Prominent auf der Schwarzen Liste steht Russland, das neben Iran, Nordkorea und dem IS als „aggressive Bedrohung für den Weltfrieden“ ausgemacht wird.
Im Unterschied zu Washington, unterstreicht Doug MacGregor, einer der Architekten der NATO-Kampagne gegen Jugoslawien, habe Wladimir Putin die Schlüsselfragen in Russlands nationaler Militärstrategie – Wo kämpfen wir? Gegen wen kämpfen wir? Wie kämpfen wir? – beantwortet: In Osteuropa, um Russlands Grenzen zu erweitern, und Nordostasien, um die Rohstoffvorkommen Ostsibiriens unter russischer Kontrolle zu halten, im Rahmen einer integrierten Streitkräftestruktur, die einem vereinten nationalen Militärkommando in Moskau unterstehe. Nachdem er Russlands Streitkräfte schlanker, jünger und beweglicher gemacht habe, statte Putin sie nun mit neuen Waffensystemen aus und schaffe so neue Kapazitäten. Den Raketenstreitkräften, der Luftverteidigung sowie den Spezialeinheiten habe Russlands Präsident neues Leben eingehaucht. Und, ganz besonders wichtig, Putins Streitmacht sei nicht umgemodelt worden, um Dinge wie „Nationbuilding“ und Antiterrorkriegführung zu betreiben oder humanitäre Hilfe in Afrika, Lateinamerika oder sonst wo zu leisten …
In Moskau freilich wird das etwas anders gesehen: Washingtons neue nationale Militärstrategie, konstatiert der Pressesekretär des Präsidenten, Dmitri Peskow, zeuge von einer konfrontativen Haltung gegenüber Russland, die alles andere als kurzfristig sei. „Anti-Russland-Strategie Amerikas veröffentlicht“, „Militärstrategie der USA gegen Russland gerichtet“, „Ziel der Militärstrategie der USA: Sieg über Russland“, so die Schlagzeilen in der russischen Presse.
Und was MacGregor betrifft, so dürften seine Erkenntnisse bei russischen Militärs nur bedingt auf Zustimmung stoßen: „Im 21. Jahrhundert“, betonte Armeegeneral Waleri Gerassimow, Chef des russischen Generalstabs, in einem gut zwei Jahre zurückliegenden Grundsatzreferat „verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden immer mehr. Kriege werden nicht mehr erklärt, und wenn sie einmal begonnen haben, verlaufen sie nicht so wie gewohnt …“ Die Robotisierung der Kriegführung, die Relativierung des Wertes strategischer Operationen, der Aufbau einer integrierten Luft-Weltraumverteidigung, neue Formen der Informationskriegführung, die Verteidigung nationaler Interessen jenseits des eigenen Territoriums, der Ausbau Frieden schaffender Operationen, die Etablierung komplexer Sicherheitsmechanismen zu Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung seien nur einige Herausforderungen, vor denen Russlands Streitkräfte stünden.
Zweifelsohne ist in jüngster Zeit einiges passiert: Russlands Militär ist in Bewegung, erfährt eine zumindest partielle Erneuerung seiner Hard- und Software. Über Aufgaben und Ziele russischer Militärpolitik freilich herrscht immer noch einigermaßen Unklarheit. Das betrifft insbesondere die Frage, wie sich Russlands Streitkräfte regional und global positionieren sollten. Eine der ins Auge gefassten Antworten: Über entsprechende Mechanismen im Rahmen nicht-westlicher Kooperationsstrukturen wie der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (ShOS), der Organisation des Vertrages über Kollektive Sicherheit (ODKB), aber auch der BRICS.
Dabei von zentraler Bedeutung sind das Verhältnis Russlands zu China oder die Rolle, die China im Rahmen seines globalen Expansionsprojektes Russland zuzubilligen bereit ist. In Moskau spürt man zunehmend die Sogwirkung dieses Projektes und ist einigermaßen entschlossen, das Beste daraus zu machen. Als eine Art großer Juniorpartner, der, bereit zu maximalen Zugeständnissen, mehr oder weniger auf Augenhöhe mit Peking verhandelt. Die Ergebnisse: bisher sind durchwachsen.
Stichwort „militärische Zusammenarbeit“: Mit dem Machtantritt Xi Jinpings hat sie sich einerseits merklich verstärkt. China beteiligt sich inzwischen aktiv an „Antiterror“-Übungen der ShOS, führt gemeinsam mit Russland Seekriegsmanöver durch, probt mit seinem nördlichen Nachbarn den geopolitischen Schulterschluss … Andererseits macht gerade der militärische Bereich die Grenzen strategischen Miteinanders überaus deutlich. Vor allem die wehrtechnische Kooperation gerät zunehmend ins Stocken, nachdem Peking über Jahre (sowjet-)russische Waffensysteme ausspioniert und kopiert hat. Raketentriebwerke sind das einzige, woran das Reich der Mitte noch wirklich interessiert ist – und natürlich möchte es sie nicht kaufen, sondern in Lizenz produzieren.
Mit anderen Worten: Russlands Suche nach Verbündeten gestaltet sich unverändert schwierig. Und immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass man bei der Suche nach einem sicheren Platz in der Welt von morgen noch ganz am Anfang steht – und überhaupt frische, eigenständige Lösungsansätze unverzichtbar sind, um prinzipiell darin bestehen zu können.
Das gilt auch und vor allem für das militärische Denken: Ein arroganter Umgang mit neuen Ideen, innovativen Ansätzen, anderen Meinungen sei nicht hinnehmbar, so Waleri Gerassimow. Russland müsse endlich aufhören, andere zu kopieren, müsse bei der Formulierung neuer Ideen selbst in die Offensive gehen. Die Kriege der Zukunft, ihren Charakter und Verlauf vorauszusehen, sei außerordentlich kompliziert. Stellen aber müsse man sich dieser Aufgabe.
Dass der UNO dabei eine Schlüsselrolle zukomme, betonte unlängst der Chef der Militärakademie des Generalstabs Sergej Makarow während einer sicherheitspolitischen Tagung in China: In den Dokumenten der Weltorganisation seien die Hauptwege des Übergangs von einer Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens ausführlich beschrieben: Präventive Diplomatie, Maßnahmen zur Konfliktfrüherkennung, Abrüstung…
Inzwischen bemüht sich der Kreml weiterhin um eine adäquate Einschätzung der Lage: So schnell wie möglich, forderte Präsident Putin am 3. Juli auf einer Sitzung des Sicherheitsrates, müsse eine Analyse des gesamten Spektrums potenzieller Herausforderungen und Risiken erstellt werden, auf deren Grundlage die Strategie der Nationalen Sicherheit Russlands zu korrigieren sei.
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