18. Jahrgang | Sonderausgabe | 20. April 2015

Reisen in Deutschland – mit Montesquieu

von Herbert Bertsch

260 Jahre nach dem Tod (Montesquieu starb am 10. Februar 1755 in Paris) sind eigentlich kein Anlass, um „Aufhebens“ davon zu machen – wäre da nicht ein feines Buch von ihm, „Meine Reisen in Deutschland 1728-1729“, von Cotta kürzlich auf den Markt gebracht worden: ein spezifischer, dennoch allgemein bildender Beitrag auch zu den gegenwärtig überbordenden „Geschichten der Deutschen“, in welchem Format, welcher Form und mit welcher Tendenz auch immer.
Eine Erkenntnis aus dem Text vorab: Deutschland war wohl schon immer irgendwie Gegenstand der Erörterung; wenn auch nicht als jene europäische Mitte, von der die großen Innovationen herkamen, wie lange Zeit später mit verheerenden Folgen gelehrt wurde und es gegenwärtig gern in europäischer Ahnengalerie aufgelistet wird. Das „deutsche Wesen“ erscheint dadurch gewandelt, macht so begründet mit „europäischen Werten“ erneute Karriere.
Gut, wenn ein Buch Lesevergnügen bereitet und zum Weiterdenken veranlasst. Es ist auch so mit diesem Montesquieu. Es gibt bekanntlich die Verknüpfung von Personen und zu ihren Merkmalen gewordenen Dingen oder Handlungen sowie die tatsächliche Kenntnis davon und verfestigte Meinungen darüber. So mag es denn überraschen, in ihm jetzt einen Autor kennen zu lernen, der sonst landläufig als Miterfinder der Theorie von der wünschenswerten Gewalten-Trennung bekannt ist, wobei er selbst diesen Begriff dafür (noch?) nicht benutzt hätte. Es geht um die Definition und Beschreibung der drei Säulen „moderner“ Demokratie der Gesellschaft, im Staat manifestiert: Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative), Regierungsgewalt (Exekutive).
Was bis heute die Diskussion darum geprägt hat und aktuell prägen müsste, sind freilich wiederum die Gemeinsamkeiten des so „Geteilten“, die sich schon aus der Sozialisation der handelnden Personen ergeben, also für jeden das ganz persönliches Bewusstsein von: „gleiches Recht für ungleiche Personen“ und „gleiches Recht für Alle“. Können die aus ihrer gesellschaftlichen Prägung einschließlich Erziehung und Ausbildung da heraus? Und wollen sie das überhaupt, wenn sie privat mit den Gegebenheiten einverstanden? Nehmen wir Montesquieu selbst! „Von 1705 bis 1708 studierte er Jura in Bordeaux. Nach […] der Zulassung als Anwalt bekam er […] den Baron-Titel überschrieben und ging nach Paris […], denn er sollte auch das Gerichtspräsidentenamt erben, das vom Großvater auf den Onkel übergegangen war.“ (Wikipedia). 1716 erbte er; zehn Jahre später verkaufte er das Amt mit Gewinn und konnte sich, nun ungetrübt von diesem Geschäft, um das kümmern, was ihn bewegte und bis heute gegenwärtig sein lässt, etwa die Konstitution, wie sie die Vereinigten Staaten von Amerika gegenwärtig haben. Wird bekanntlich nicht von allen günstig beurteilt, geht aber auch auf ihn zurück. Aber: Das waren noch Zeiten, als sich die „Rechts“-Käuflichkeit als so selbstverständlich und öffentlich gehandelt präsentierte! Es geht aber auch per dringlicher Empfehlung durch eine Regierung, wenn die Rechtsprechung als „unabhängig“, als nicht Interessengebunden deklariert bleiben, dennoch politisch zweckbestimmt wirken soll.
Noch erinnerlich? Der seinerzeitige Bundes-Justizminister Kinkel forderte 1991 auf dem „Deutschen Richtertag“(!) forderte: „Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das … einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genau so unmenschlich und schrecklich war, wie das faschistische Deutschland. […] Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren“. Gerade damit hatte die BRD (alt) ja hinreichend positive Erfahrungen, als zum Beispiel überführte juristische Täter, keineswegs als Einzelfall, wieder auch über Opfer der NS-Justiz Gericht hielten. Und die anderen „Gewalten“ sich, teilweise sogar durch Vorgaben und veröffentlichte Meinung dies erpressend, ähnlich gerierten.
Also Gewaltentrennung ist schon da – nur erstaunlicherweise der „gleiche Geist der Gesetze“ und des Handelns; mehr gegenseitige Bestätigung und Entlastung, denn Kontra- Positionen gemäß des verkündeten Prinzips der gegenseitigen Gewaltenkontrolle. Ist etwa die Nominierung von Richtern durch Parteien, die an der Macht sind, Weg und Garantie für unabhängige Rechtsprechung? Irgendwie ist dies Verfahren mehr dem Schicksal der Mülltrennung ähnlich.
Ehe Montesquieu aufschrieb, wie er sich die Strukturen vorstellte, ging er auf Reisen, um sich zu informieren, wie es anderswo funktioniert – oder eben nicht. Auch nach Deutschland, worüber höchst lehrreich, ohne zu belehren, wohl aber moralisierend, nun seine Kunde davon allen zugänglich vorliegt; ausgewählt und kommentiert, unterhaltend nützlich, wenn auch in der Einzelbewertung fragwürdig. Dass der Reisende hier den „Föderalismus“ als positives Prinzip entdeckt habe, bedürfte der Überprüfung, ob er dies wirklich als Modell empfand, zu Beginn einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit Zentralisierungstendenz, die er mehr als erahnte. Er favorisierte England.
Und dazu dies, nicht nur als Randglosse: Dort wurde er am 16. Mai 1730 auch Mitglied einer besonders exquisiten Abteilung der Freimaurerloge. Und für die gibt es bekanntlich strenge Hierarchien mit wenig Gewaltentrennung, auch über nationale Grenzen hinweg. Ziemlich modernes Prinzip also – und Erfolgsrezept.
Aber Einwände mindern nicht die Qualität dieses Zeit-Zeugnisses europäischer Geschichte, gerade angesichts ihrer ständigen Um-Schreibung in der Gegenwart. Wir entnehmen auch deshalb als spezielles Charakteristikum für Deutschland: „Man kann nicht übersehen, dass die Deutschen gerne etwas aus ihrem Kopfe hervorkommen lassen, aber dieses Bedürfnis führt zu nichts“. Was mitunter auch ganz günstig sein dürfte, seinerzeit wie gegenwärtig.

Charles-Louis de Montesquieu: Meine Reisen in Deutschland 1728-1729, Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 2014, 216 Seiten, 22,00 Euro.