18. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2015

Manches war doch anders. Oder auch nicht:
Zum Spiegel-Manifest von 1978

von Gabriele Muthesius

Das Jahr 1978 begann im deutsch-deutschen Verhältnis mit einem Paukenschlag: In seinen Ausgaben 1 und 2 veröffentlichte der Spiegel das Manifest eines Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschlands (BDKD), der angeblich illegal in der DDR existierte. Man hatte zur Veröffentlichung dieses ersten Grundsatzdokumentes, dem keine weiteren folgen sollten, aus Gründen der Zensur in der DDR „ein liberales Magazin in der BRD, dessen kritische Haltung zu Ost und West gleichermaßen bekannt ist“, gewählt, um „unsere Erwägungen gefahrloser zu verbreiten“. Das Ganze expressis verbis verbunden mit der Bitte: „Wir ersuchen zugleich die kommunistischen, sozialistischen, sozialdemokratischen und liberalen kurnalisten (sic! – Anmerkung G. M.) der BRD, uns dabei zu helfen.“
Das Manifest war eine Fundamentalabrechnung mit dem „real existierenden“ Sozialismus, setzte den „großen Bruder“, die Sowjetunion, mit dem Erzfeind USA auf eine Stufe und nahm sich die Auswüchse der Herrschaft der SED im Detail vor. Garniert war dieses Potpourri überdies mit einem Plädoyer für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.
Was für die SED-Oberen an den Anklagen des Manifestes am schwersten wog, ist heute eine müßige Frage, und dass Brechts lesender Arbeiter in der DDR das „Sturmgeschütz der Demokratie“ nicht am heimatlichen Kiosk erwerben konnte, um sich etwa aufklären zu lassen: „Bei uns zahlt der Arbeiter und Bauer für die Unfähigkeit des bürokratischen Apparates mit niedrigerem Lebensstandard als im Westen.“, war kein Hinderungsgrund: Die DDR-Führung schloss das Spiegel-Büro in ihrer Hauptstadt, warf dessen Schreiberlinge außer Landes, und das Hamburger Nachrichtenmagazin war danach zwischen Elbe und Oder selbst in solchen „Giftschränken“ eine Weile nicht mehr zugänglich, zu denen die Autorin seinerzeit professionshalber Zutritt hatte.
Offen blieb die Frage, ob das Pamphlet vom Spiegel selbst produziert worden war oder gleich vom BND, wie SED-seitig damals gemutmaßt wurde, oder ob es jener frühere SED-Funktionär Hermann von Berg, von dem im Blättchen auch schon die Rede war und der für das Regime, als es noch seines war, nicht zuletzt in Ost-West-Missionen unterwegs gewesen ist*, tatsächlich in seinem Haus in Schöneiche dem Spiegel-Korrespondenten Ulrich Schwarz in die Feder diktiert hat, wie von Berg später, nach seiner 1986 erfolgten Übersiedlung in die BRD, behauptete.
Nun hat ein emsiger Historiker, Siegfried Suckut, – die Berliner Zeitung berichtete dieser Tage – im Stasi-Archiv einen überraschenden Fund gemacht: Es handelt sich um die Kopie eines Papiers, „bei dem es sich inhaltlich offensichtlich um eine Vorfassung des später im Spiegel veröffentlichten Manifests handelt“, so Suckut.
Also Aufklärung zu später Stunde? Leider nein. Denn von Berg, inzwischen 82, mit dem Fund konfrontiert, hat bestritten, dass es sich um die von ihm diktierte Vorlage für die damalige Spiegel-Veröffentlichung handele. Zwar ist sein Hinweis, das Manuskript enthalte falsche Schreibweisen mit typisch westlichen Fehlern (NÖSPEL statt NÖSPL, Trabby statt Trabbi), kein Beleg für sein Diktum, da er die Vorlage ja immerhin einem „Wessi“ diktiert hatte, dessen Fehler eine sorgfältig arbeitende Redaktion hernach getilgt haben mag. Doch letztlich bleibt es trotz Suckuts Entdeckung bei dem Fazit: Ob das damalige Manifest von Autoren aus dem Osten oder aus dem Westen stammte und was es mit dem ominösen BDKD tatsächlich auf sich hatte, ist bisher nicht abschließend geklärt.

* – So bestieg von Berg zum Beispiel, als Willy Brandts Zug auf dem Weg zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen in Erfurt 1970 die Grenze passierte, das Gefährt, um mit Brandts Pressesprecher Conrad Ahlers Dokumente zu tauschen: Brandts vorbereitetes Eröffnungsstatement gegen das des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph. In Erfurt hatte von Berg dann erhebliche Mühe, mit dem Dokument über den Bahnhofsvorplatz ins Tagungshotel zu gelangen, denn er verließ, um nicht von anwesenden Journalisten erkannt zu werden, den Zug klandestin, erst nachdem Brandt mit seiner Delegation den Bahnhof bereits verlassen hatte. Da war der Vorplatz dann aber bereits von außer Rand und Band geratenen Erfurtern geflutet, derer die nur in völlig unzureichender Anzahl anwesenden Vertreter der zuständigen Organe der DDR nicht mehr Herr wurden. Ältere Zeitgenossen werden sich der anarchischen Fernsehbilder aus Erfurt noch erinnern …