15. Jahrgang | Nummer 4 | 20. Februar 2012

Manches war doch anders* – Als die FDP noch Deutschlandpolitik machte

Die Professoren Dr. sc. Hermann von Berg und Dr. habil. Herbert Bertsch waren nacheinander von 1962 bis 1970 die Leiter des „Westbereichs“ im Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR. Danach wurde dieses Arbeitgebiet auf das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR übertragen.

Das nachfolgende Schreiben von H. Bertsch an H. v. Berg datiert vom 16. April 2011.
Wo nötig, wurden Orthographie und Grammatik korrigiert.

Die Redaktion

 

Lieber Hermann,
als Nachtrag zu Deiner Anfrage auf Grund einer solchen bei Dir, inoffizielle Kontakte und Aktivitäten von FDP-Politikern zu uns betreffend: Da wir nicht darüber sprachen, wer was damit bezweckt, gebe ich hier nur zwei Literaturhinweise, ohne nähere Quellenkritik, mit langem Zitat, aber ohne Wertung.
Nur soviel vorab: Die Meinungsmanipulationen ab 1990, wonach bundesdeutsche ehrenhafte Bemühungen als peinliche Kumpanei mit uns ins Zwielicht gesetzt wurden (von unserer Behandlung als „Unperson“ gar nicht erst zu reden!), haben sich so sehr verfestigt, auch weil materielle Vorteile für Politiker und Wissenschaftler aus dieser „Feind-Anschauung“ erwachsen sind […], dass ich kaum eine objektive Interpretation vermute. Möglicherweise geht es um simple „Enthüllungen“ zu Personen in historisch unzutreffendem Kontext. Möglicherweise darunter auch um nicht so ganz integre. Aber selbst dann keine Beihilfe dazu aus meiner Erinnerung.
Falls hingegen jemand wirklich bereit sein sollte, die Dinge in den historischen Ablauf zu stellen, müsste man auf Quellenwerke aus der damaligen Zeit und solche verweisen, die möglichst umbruchnah entstanden. (Ich rede nicht von bis heute Ungeschriebenem, das damals Beteiligte auch im Interesse ihrer Partner nicht auszubreiten gewillt sind.)
Zu Deiner direkten Frage an mich als Autor: Meine Arbeit über die FDP war schon veröffentlicht, als ich noch ohne Insider-Kenntnis, dennoch wissenschaftlich korrekt auskam. Ich benannte Linien und Etappen des deutschen Liberalismus bis hin zu den Zuständen, die sich aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Systementwicklungen in beiden deutschen Staaten ergaben, damals mündend in der Hoffnung, auf dem Wege der Konföderation wieder „Deutschland“ zu werden. Damit nahm ich ziemlich stark solche Gedanken in der FDP auf. (War gar nicht so illusorisch, wie es später bewertet wurde, selbst noch 1989 vielleicht die bessere Option, jedenfalls international so gesehen. Ich habe seinerzeit noch darüber geschrieben.)
Soweit ich die wissenschaftliche Landschaft jetzt überblicke: Die korrekteste Darstellung solcher Beziehungen / Verbindungen / Kontakte / Geschäfte, auch auf der Grundlage von „eroberten“ vertraulichen DDR-Dokumenten, ist die Arbeit von Roger Engelmann „Brüchige Verbindungen – Die Beziehungen zwischen FDP und LDPD 1956-1966“, in :Engelmann / Erker: Annäherung und Abgrenzung, Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Band 66, R. Oldenbourg Verlag, München 1993. Steht manches drin, was auch Dich überraschen könnte, obwohl Du dort als „Zeitzeuge“ mitgewirkt hast. Ich wohl auch.
Auch der zweite Teil des Bandes, der die deutsch-deutschen Beziehungen 1959-1969 insgesamt behandelt, ist aufschlussreich dafür.
Im ersten Ansatz galt bundesdeutsches Wissenschaftsverständnis offenbar noch was gegenüber späterer fast rein politischer Auftragsarbeit gemäß Kinkel-Auftrag, was weder deutschem Liberalismus noch den ursprünglichen Prinzipien der FDP entsprach. Diese Abrechnungs- und Siegermentalität hätte ich seitens der FDP nicht vermutet, so fern jedes persönlichen Anstands und früherer Äußerungen, gerade auch in Deutschland-Plänen!
Damit zu einer in Substanz und Darstellung bemerkenswerten Arbeit, was der Autor selbst heute möglicherweise nicht mehr so bewertet; aber der „kann“ fachlich und weiß politisch was. Also: Manche Umstände und Aktivitäten Mende / Scheel / Genscher und uns sind aufschlussreich und gut dokumentiert von Arnulf Baring: „Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel“, DVA 1983, auf den ich mich jetzt stütze: Das Bemerkenswerte beginnt schon damit, dass Baring im Selbstzeugnis drei Jahre als „Gast auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Scheel“ bei ihm wohnte und Zugang zu allen Dokumenten und Akteuren des „Machtwechsel“ hatte, was er vorausschauend umfangreich  aufschrieb; aber wohl nicht nur in diesem Buch verwendete.
Ab hier Wortlaut: „Das deutschlandpolitische Umdenken brauchte seine Zeit, musste manche Umwege machen, ehe es die Realität einholen konnte […]. Es gab ja keine offiziellen Kanäle, über die man hätte Ansichten austauschen können. Es gab nur heimliche Kontakte, über Mittelsmänner; nur unter der Hand gab man sich Signale – und durch die Presse. So schrieb am 13. Januar 1964 Hans Dieter Jaene, damals Leiter des Berliner Spiegel-Büros, an Rudolf Augstein im Rückblick auf das im Monat davor abgeschlossene Passierschein-Abkommen […] ’Leute in Ostberlin, die es wissen müssen, sagen einem unter vier Augen, dass sie auch bei gesamtdeutschen Kontakten mit Bonn in der Formfrage ähnlich bis ins letzte Loch zurückstecken würden, wenn nur ihre eigentliche Absicht garantiert würde: Ihre eigenen Liberalisierungsbestrebungen innerhalb der DDR, die ja identisch mit der Regelung des innerdeutschen Reiseverkehrs sind, dürften von Bonn nicht für propagandistische Zwecke benutzt werden […].’ Drei Tage nach seinem Brief an Augstein traf Jaene in Ostberlin Hermann v. Berg, einen Abteilungsleiter im DDR-Presseamt und Vertrauensmann von Willi Stoph, dem er erzählte, der Fraktions- und Bundesgeschäftsführer der FDP, Hans-Dietrich Genscher, besuche ihn bald in Berlin und sei nicht abgeneigt, mit einem kompetenten Beauftragten der DDR ein Sondierungsgespräch zu führen. Am 20. Januar 1964 bekam Jaene von Kurt Blecha, dem langjährigen Leiter des Presseamtes, die Antwort Ost-Berlins, über die er am gleichen Tag Genscher vertraulich unterrichtete […].“
Einschub zwecks Verkürzung von mir: Die DDR sagte zu. Baring schildert nun im Einzelnen, wie die Mitteilung von Jaene an Genscher aussah: In drei Briefumschlägen, deren Inhalt sich nur erschloss, wenn man alle drei Texte aus Buchstaben mit Ziffern und einem Bild zusammenführte. Das heißt, eine absolut geheimdienstliche Verfahrensweise der Kollegen.
Nach der Zusage von uns: Genscher sagte ab.
Weiter mit Baring: „Über die Reaktion aus Ost-Berlin berichtete Jaene – diesmal mit der Tarnung eines vermeintlichen Maklergesprächs über einen Grundstücksverkauf – an Genscher: ’Berlin, am 27. 1, 1964 […] Lieber Herr Genscher, in der Grundstückssache habe ich dem Makler heute beiliegenden Text langsam zum Mitschreiben vorgelesen. Er war völlig konsterniert […]. Der Mann sagte mir, wegen einer Antwort müsse er sich nun erst mit seinen Kompagnons beraten, und er wollte von mir wissen, wie er es wohl am besten anstellen könnte, um doch noch ins Geschäft zu kommen. Ich habe ihm gesagt, dass ich einstweilen keinerlei Chance sehe. Er hat mir geantwortet, falls seine Kompagnons meinten, dass man die Sache weiterspinnen sollte, wolle er mich das wissen lassen.’ Man blieb mit den Kompagnons in Kontakt, wenn auch mit langen Pausen. Telegramme, etwa von ‚Herbert’ (nämlich Herbert Bertsch, einem Vertrauensmann Stophs, wohl auch des Staatssicherheitsdienstes der DDR) gingen an Ingeborg Jaene, die Ehefrau – und umgekehrt. Man tarnte sich in den Texten. So hätte ein Unbefangener am 17. Februar 1967 meinen können, es gehe diesmal um Geschäftsabschlüsse im Ost-West-Handel […]. Tatsächlich ging es im Januar / Februar 1967 um die Verlängerung der Passierscheinstelle für dringende Familienangelegenheiten, die sogenannte Härtestelle. Finanzsenator Hans-Günter Hoppe und Hermann Oxfort, der FDP-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, führten in Jaenes Wohnung Vorverhandlungen mit Herbert Bertsch. Die Vorschläge Hoppes, die mit Heinrich Albertz, dem neuen Regierenden Bürgermeister, abgestimmt worden waren (Brandt saß als Außenminister seit einigen Wochen in Bonn) schrieb sich Bertsch in sein Notizbuch ab, um ja nichts Schriftliches entgegen nehmen zu müssen.“ […]
Soweit Baring auf Seiten 253 – 258 im Jahre 1983 nach Dokumentenlage. Ich bin nicht sicher, dass unser Herr Kollege sich seiner wohlwollenden Darlegungen von damals erinnert. Sein Zeugnis für die Deutschlandpolitik der FDP sollte man aber nicht vergessen, welche Schlüsse man daraus auch ziehen mag, Bewertung der Partner eingeschlossen.
Dazu, wie deutsches Schicksal so spielt: Finanzsenator Hoppe und DDR-Presseamts-Vize Bertsch kannten sich. Sie waren 1947 / 48 gemeinsam im Studentenrat der Universität Rostock. Als dessen Sozialreferent hatte Hoppe seinerzeit Bertsch mit einen von drei Bezugscheinen für die Universität zu dessen erster, im Handel erwerbbarer langen Hose verholfen. Das verbindet.

* – So der Titel der 1968 erschienenen Lebenserinnerungen von Ernst Lemmer (CDU), deutscher Journalist und Politiker, unter anderem nach Kriegsende in führender Position beim FDGB in der Sowjetischen Besatzungszone, später Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen (1957 – 1962). Wir entlehnen den Titel für eine unregelmäßige Reihe historischer deutsch-deutscher Reminiszenzen, die mit diesem Beitrag ihren Anfang nehmen – die Redaktion.

Quelle: privat