18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Geschichte mit Geschichten

von Herbert Bertsch

Mit veränderten Gegebenheiten ändern sich auch „historische Wahrheiten“; womit nicht an Sinn und Nutzen historischer Wissenschaft(en) überhaupt gezweifelt wird, wohl aber am Gehalt der wesentlichen Basis, dem „Dokument“.
Dabei ist Dokument nicht als technisches Produkt von „Schwarz auf Weiß“ zu verstehen, sondern auch als Akt einer „Demokratisierung“ des Materials in Hinblick auf Zugang, Auswahl, Bewertung und Nutzung, freilich auch zum akademischen und sonstigen Broterwerb. Die Relativierung der seinerzeit wenig angezweifelten „Wahrheit“, wonach „Männer die Geschichte machen“, hat ihr Pendant auch in der Geschichtsschreibung bekommen. Was keineswegs deren Wert mindern muss, so dass zum Beispiel Wolfgang Brauer (in Das Blättchen 3/2015) Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg bis zum Mauerfall“ mit guten Gründen einen großen Wurf nennt. Solche „Werke“ braucht das Land.
Neben der „Geschichte“ gibt es schon immer aber, zunehmend als eigenständiges Forschungsziel die „Geschichten“ dazu, üblicherweise Dokumente genannt. Und die Verlagerung dahin hat Konjunktur.
Denn nicht nur die Erfindung der „Politischen Wissenschaft(en)“ hat das früher angestammte Aktionsfeld der „Generalisten“ unter den Geschichtsdeutern stark eingeengt; der freie Zugang zu Quellen und auch der Anfall ungefilterter Meinungsäußerungen verlangt, auch im Marktinteresse und -wert, noch klügere Abwägung der Urteile – auch der verdeckten! –, wobei deren Begründung viel zu berücksichtigen hat, um mit wenig Schrammen zu dem vom Autor gewollten Ergebnis zu gelangen. Freilich sind dabei auch Autoritäten vor Irrtum nicht gefeit, zumal, wenn man den Nachweis einer Meinung gern hätte, auch wenn es den nicht gibt. Da wäre hilfsweise Verzicht anzuraten. Dafür ein Beispiel, dessen Substanz nicht unbedeutend für die jüngste deutsche Geschichte.
In seiner Rede zum 65. Jahrestag der DDR-Gründung zitiert Egon Krenz aus der Schrift Richard v. Weizsäckers „Der Weg zur Einheit“: „Trotz ausdrücklicher Anforderung durch die Sicherheitskräfte der DDR blieben sowjetische Streitkräfte auf Befehl von Moskau in ihren Quartieren“. Bekanntlich ließ sich Gorbatschow in dieser Nacht nicht erreichen – von und für niemanden, berichtet unter anderem Valentin Falin. Zum Sachverhalt selbst sagt Krenz: „Niemand aus der DDR-Führung oder den Sicherheitsorganen hat im Herbst 89 sowjetische Truppen angefordert. Ein Befehl aus Moskau, dass sowjetische Truppen in ihren Quartieren bleiben sollten, ist nirgendwo dokumentiert.“ Und er setzt die Aussage des sowjetischen Botschafters Kotschemassow von 1997 hinzu, was die eigentliche Information ist: „In der dramatischen Phase haben unsere Generäle im Oktober und November 1989 einen militärischen Einsatz erwogen und angeboten.“ Trotz der verbreiteten Integrität des verstorbenen Bundespräsidenten drängt sich da die Nachfrage auf, ob hier was Gegenteiliges passend gemacht wurde.
Neue Quellendokumentationen gibt es angesichts der „Archivrevolution“ durch die vollständige Offenlegung vom DDR-Nachlass und, unterschiedlich dosiert, neue Zugänge zu sowjetisch/russischen Archiven die Fülle, freundlicherweise aus unterschiedlichen deutschen staatlichen und Stiftungsquellen gesponsert.
Im Unterschied zu der überquellenden Enthüllungsliteratur auf dem Markt sind das zumeist fachlich und literarisch, mitunter auch mit erfrischendem Hintersinn gepolsterte gute Arbeiten als Meinungsäußerung per Dokument. Gekonnt so: „Die Flaggen der Deutschen Demokratischen Republik sind am Tag der Wahlen zum Deutschen Volkskongreß zu hissen“, zitiert Jan Foitzik einen Abteilungschef der SMAD – mit diesem Nachsatz: „Dass noch nicht existierende Staaten Flaggen haben können, weckt Interesse“. Schön illustriert dies den Regierungsanfang quasi per Befehl – überall. Da fällt mir ein Gegenstück aus dem anderen Deutschland bei: Adenauer wird zur Entgegennahme des „Besatzungsstatuts“ als Basis der BRD-Staatsgründung mit der Auflage geladen, nicht nur vor den sitzenden Hohen Kommissaren, sondern auch noch vor dem Teppichrand stehen zu bleiben. Er hat das trickreich überspielt!
Was lehren die dokumentierten Beispiele? Auch was manche Dokumentar-Historiker im Rausch der offenbarenden Papiere aus den Vor- und Anfangszeiten beider deutscher Staaten leicht vergessen: Deutschland hatte bedingungslos kapituliert. Auch die Sieger hatten das erst mal zu verdauen und mussten praktizieren, ohne Fach- oder Hochschulbildung dazu. Da passt frisch im Angebot Foitziks „Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltung in der SBZ und frühen DDR“. Was da zu leisten war – getan wurde!
Mittelbar, aber aufklärend auch dafür, der erste Band von „Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941“, was als langfristiges Projekt Standardwerk werden dürfte, zumal bei nachhaltiger Manuskript-Belieferung durch das Münchner Institut für Zeitgeschichte, zwar ohne Monopol, aber vertraglich gesichert. Offenbar ist De Gruyter, wohl mit Übernahme von Oldenbourg, jetzt dafür ein Markt-Schwergewicht, auch als Nutznießer staatlicher Förderungszuschüsse.
Dieser Aspekt wird deshalb betont, weil es zwar für die russisch-deutsche Zusammenarbeit bei der Erschließung der Archive Programme und Konzepte gibt, aber – ähnlich der Ausbeutung ehemaliger DDR-Bestände in jeglicher Form und Genres – kein Forschungssystem, was keineswegs die Aufhebung oder Beschneidung der Freiheit von Wissenschaft und Forschung bedeuten müsste.

Jan Foitzik (Herausgeber): Sowjetische Kommandanturen und deutsche Verwaltung in der SBZ und frühen DDR, De Gruyter, Berlin/München/Boston 2015, 632 Seiten, 74,95 Euro.
Jan Foitzik (Herausgeber): Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944-1954,Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2012, 634 Seiten, 74,80 Euro.
Sergej Slutsch/Carola Tischler (Herausgeber): Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941, De Gruyter, Berlin/München/Boston 2014, 1.536 Seiten, 198,00 Euro.
Valentin Falin: Konflikte im Kreml, edition berolina, Berlin 2014, 317 Seiten, 9,99 Euro.