18. Jahrgang | Nummer 3 | 2. Februar 2015

Erlesenes – Heinrich August Winklers großer Wurf und ein Zeitungsroman

von Wolfgang Brauer

Heinrich August Winkler nennt sein Werk über die Zeit zwischen Kaltem Krieg und Mauerfall „Geschichte des Westens“. Im Vorwort setzt er einen, wie er es ausdrückt, „normativen Fluchtpunkt“: „Es ist die Frage nach der Entwicklung jener Ideen, die in ihrer Gesamtheit das normative Projekt des Westens ausmachen. An ihrer Spitze stehen die unveräußerlichen Menschenrechte …“ Eine Ideengeschichte liefert er nicht. Sein fast eintausenddreihundertseitiges Opus ist ein Abriss der Weltgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Autor versucht, alle irgendwie zeitgeschichtlich für die Systemauseinandersetzungen relevant gewesenen Themen – geografisch von der Berlin-Blockade bis zur „inneren Entkolonialisierung“ Australiens – darin einzuordnen. Sein Werk hat Handbuch-Charakter. Der Verzicht auf ein Sachregister ist bedauerlich.
Winkler schreibt, wie alle Historiker, parteiisch. Aber er versucht, den Fakten zu ihrem Recht zu verhelfen. Seine Darstellung der Entwicklung der deutschen Frage von der Spaltung bis zur Wiedervereinigung beispielsweise widerspricht mancher Politiker- und Schulbuchdarstellung der jüngsten Zeit. So erklärt er die fatale deutsche Nachkriegsentwicklung als Ergebnis der Obstruktionspolitik Frankreichs (!) und der Sowjetunion zunächst durch die starren Positionen in der Reparationsfrage bedingt. Dass schließlich, alles andere überdeckend, der grundsätzliche, die Welt mehrfach an den Rand einer nuklearen Auseinandersetzung treibende Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA zur Ursache der Spaltung Deutschlands wird, stellt Winkler überzeugend dar.
Die Belege dafür, dass das Handeln der USA zunehmend durch einen dogmatischen Antikommunismus determiniert war, der sich in vielen Entscheidungen als kontraproduktiv für die Vereinigten Staaten selbst erweisen sollte, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Hier sei nur auf die von den „übergeordneten Interessen des Westens und der USA im Kalten Krieg“ bestimmten Positionen hingewiesen, „die Amerika gegenüber antikolonialen Bewegungen einnahm“. Auf gut Deutsch: Hätten die USA ihren eigenen Gründungsmythos ernst genommen, so hätten sie von Anfang an die antikolonialen Bewegungen mit aller Konsequenz unterstützen müssen. Der Autor widmet ihnen breiten Raum und kommt zu dem Befund, dass das genaue Gegenteil der Fall war: Von der Ermordung Patrice Lumumbas 1961 über die diversen Invasionen im eigenen Hinterhof bis zum Putsch der argentinischen Militärs 1976 – mit Ausnahme eines verräterischen Kissinger-Zitates übergeht Winkler hier allerdings die Rolle der USA – stellt er fest, dass die Vereinigten Staaten sich als antikommunistisch motivierte „postkoloniale Ordnungsmacht“ aufführten, die die „prowestlichen Kräfte“, egal wie mörderisch sie daher kamen, unter allen Umständen zu stabilisieren suchten. Der von den Amerikanern mit bis an die Grenzen genozidaler Methoden geführte Vietnam-Krieg bildete da nur die Spitze des Eisberges. „Einen Grund, in der Entkolonialisierung eine Erfolgsgeschichte zu sehen“, habe der Westen mitnichten, stellt der Autor nüchtern fest.
Für Winkler waren Dreh- und Angelpunkt der internationalen Politik weltweit in jenen Jahrzehnten die machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern, konkreter zwischen ihren beiden Führungsmächten. Wobei nach seiner Einschätzung die Sowjetunion seit den sechziger Jahren angesichts der fragilen Situation ihres „Blockes“ und der zunehmenden Konfrontation mit der Volksrepublik China eher am Erhalt des „Status quo“ denn an Expansion interessiert gewesen sei. Bedingungslosen Verteidigern der Politik der westlichen Führungsmacht bietet er genügend Stoff zum Hinterfragen ihrer rostig gewordenen Theoreme an – nicht nur in „deutschen Angelegenheiten“.
Möglicherweise war es dem generalistischen Ansatz des Werkes geschuldet, wenn dem Autor kleinere sachliche Fehler unterliefen. Die US-Air-Force setzte im Vietnam-Krieg zwar große Mengen Napalm ein, aber nicht zum „Entlauben“. Dazu benutzte man „Agent Orange“, ein berüchtigtes Herbizid. Napalm ist ein benzin- oder petroleumbasierter Brandsatz.
Irritierender sind allerdings Aussagen über die Militärdoktrin der UdSSR unter Nikita S. Chruschtschow. Im Zusammenhang mit dem Schweinebucht-Fiasko der US-Amerikaner vom April 1961 wird deren Essential dahingehend beschrieben, dass aus Sicht der Sowjetunion „internationale Kriege“ nunmehr vermeidbar, „nationale Befreiungskriege“ jedoch unvermeidbar seien. In seiner Darstellung der Kuba-Krise vom Oktober 1962 zitiert Winkler dieselbe Doktrin in der gegensätzlichen Aussage – „‚nationale Befreiungskriege‘, nicht aber „internationale Kriege“ seien vermeidbar. Das schmälert nicht seine Korrektur eines hollywoodgeprägten „westlichen“ Geschichtsbildes der Kuba-Krise: Nach dem Debakel in der Schweinebucht „unternahm Washington nichts, was geeignet gewesen wäre, zu einer Deeskalation beizutragen“.
Winkler gelingt es, auf eine bemerkenswerte Weise durch eine von großer Sachlichkeit geprägte Darstellung, politisch motivierte Legendenbildungen in der Zeitgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte zu korrigieren. Allerdings erliegt er am Ende seines Buches dann doch der westlichen Wertungsbrille: „Eine Zähmung des Kapitalismus, wie sie der Westen im Verlauf einer langen Entwicklung in Form von Gesetzen, Institutionen und gesellschaftlicher Gegenmacht hervorgebracht hatte, mußte sich in den postkommunistischen Gesellschaften erst noch herausbilden.“ Er spielt damit auf die desaströsen Zustände in diesen Staaten zu Beginn der neunziger Jahre an. Heute zeigt sich allerorten, dass die vom Autor angenommene „Zähmung“ des Kapitalismus, wenn überhaupt, eine höchst temporäre war. Auch seine Behauptung, dass es 1991 „sicher war, daß der Ost-West-Konflikt […] der Vergangenheit angehörte“, darf spätestens mit der krisenhaften Zuspitzung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland, von China ganz zu schweigen, in das Reich der Mythen verwiesen werden.
Während ich diese Zeilen schrieb, brachte der Postbote den vierten Band der Winklerschen „Geschichte des Westens“ ins Haus. Ich sehe der Lektüre mit gespannter Erwartung entgegen.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg bis zum Mauerfall, C.H. Beck, München 2014, 1.258 Seiten, 39,95 Euro.

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Stefan Großmann gehörte zu den großen Berliner Publizisten der 1920er Jahre. Mit Ernst Rowohlt gründete er die Wochenschrift Das Tage-Buch, „in Charakter und Stil der Weltbühne verwandt“ (Peter de Mendelssohn). Auch aufgrund persönlicher Aversionen waren beide Zeitschriften einander spinnefeind – Kurt Tucholsky veröffentlichte im Konkurrenzblatt keine einzige Zeile. Ab 1931 kämpfte man aber angesichts der drohenden faschistischen Gefahr tapfer Seite an Seite. Großmann selbst schied 1927 schwerkrank aus der Redaktion aus. Im März 1933 flüchtete er vor den Nazis nach Wien. Dort starb er am 3. Januar 1935. Dieses fast vergessene Jubiläum nahm Erhard Schütz zum Anlass, Großmanns im Exil entstandenen Roman „Wir können warten oder Der Roman Ullstein“ neu herauszugeben. Großmann schildert in einer zeitlich stark gerafften Story den Untergang des Ullstein-Verlages infolge des Machtantritts des Nazis. Ihm gelingt eine atemberaubende Detailaufnahme jener Monate. Er war einige Jahre Redakteur der Vossischen Zeitung und kannte das „Haus Ullstein“ recht genau. Großmann beschreibt eine Verleger-Dynastie, die „Handel mit dem Geist“ betreibt, sich dem Ungeist in den Weg stellen sollte, auch die nötigen Mittel dazu hat – und kläglich versagt. Dadurch werden auch die Ullsteins mitschuldig. „Die Kronsteinblätter, […], sind sehr charakterlos. Wenn Sie ihnen ein Gesinnungselement einimpfen könnten, wäre das ein Segen für ganz Deutschland“, meint Rechtsanwalt Dr. Sinzheimer zu einer der Heldinnen des Romans. Das historische Geschehen im Hause Ullstein kann man in de Mendelssohns „Zeitungsstadt Berlin“ nachlesen. Stefan Großmann hat einen großen Exil-Roman geschrieben. Die vom Herausgeber penibel angemerkten Ungenauigkeiten und erzählerischen Widersprüche – der Tod nahm Stefan Großmann vor der Beendigung des Manuskriptes die Feder aus der Hand – können Sie getrost überblättern. Sie werden sie beim Lesen dieses spannenden Buches kaum bemerken.

Stefan Großmann: Wir können warten oder Der Roman Ullstein, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2014, 384 Seiten, 22,99 Euro.