18. Jahrgang | Nummer 3 | 2. Februar 2015

Querbeet (L)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal vier Fäuste in Dresden, Alltags-Apokalyptiker im Kino und im Kalkwerk, tolle Stompereien sowie eine Büchse Bier ein bisschen jenseits vom Reinheitsgebot …

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Goethes „Faust eins“ in einem modernen Klinikum wie jetzt im Dresdner Schauspielhaus – und gucke da, das passt; nämlich als Ort des Sterbens und des (wieder) Werdens. Wahrlich, ein schönes, ein treffliches Sinnbild (Bühne: Esther Bialas). Und dann gleich vier Fäuste – auch das geht. Hannelore Koch, Peter Pagel, Tom Quaas und Torsten Ranft als Ärztin, zwei Kranke und ein Krankenbesucher sprechen im Wechsel und zerrissen zwischen Euphorien und Depressionen, Ernüchterungen und Herzensergießungen des armen, reichen, tollen Faustens Texte. So ringt sich denn gleich ein Faust-Kollektiv durchs erdige und metaphysische Gewimmel, angespornt durch einen – feiner Witz! – verdoppelten Mephisto (Rosa Enskat und Jan Maak).
Das alles mag ungewöhnlich sein, gibt aber dem schwedischen Regisseur Linus Tunström, Jahrgang 1969, prima Gelegenheiten, seine überbordenden, tiefernsten und hochkomischen, witzigen und poppigen Einfälle mit Lust, Vehemenz und Treffsicherheit auszuspielen. Goethes Text, mutig gekürzt und intelligent um- und aufgeteilt, bleibt stets stimmig und präsent, wird nie verwurstet. Auch wenn dieser künftig hierzulande wichtige Regisseur – bis aufs Fäuste-Quartett, Mephisto-Duo und Gretchen (Christine Hoppe) – den üppigen Rest des Figurenpersonals gestrichen hat. Seine ziemlich überwältigende Inszenierung zeigt doch die ganze Tragödie, die einem Krankenhaus-Albtraum gleicht, der dort, im Alltag des Spitals, unversehens um sich greift, sich komisch aufbäumt unter Leid und Lust, um schließlich auch dort wieder, im Sterben-und-Werden-Alltag der Klinik, zu versinken. Tunström ist auf seine Art ein Texttreuer. Und ein genauer Goethe-Leser. Wobei seine so vehement mit dem Text spielende (ihn aber niemals verspielende) Lesart sich auf ein enorm energetisches, dabei äußerst präzises Ensemble stützt; ansonsten ginge dieses todernst-unterhaltsame Tunström-Goethe-Spektakel wohl auch nicht auf. Wobei Rosa Enskat, ein Star des Hauses, als vielfach geformter Mephisto in verwegen sprach- und verwandlungskünstlerischer Hinsicht sonderlich brilliert. Ein wahrlich teuflisches Meisterstück. So meisterlich wie dieser überhaupt nicht „klassisch“ gesattelte Ritt mit unserem Klassiker – nicht übers, sondern mitten hinein ins groß Philosophische und tollkühn Sagenhafte sowie ins herrlich saftige, schmerzlich-sterblich Irdische.

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Herz und Schmerz, Wüten, Schmachten, Kloppen, Heulen, Lachen, Lust und Frust, Grauen, tödlicher Ernst sowie gellende Komik – und das alles mit Kunst und mit Können unter einen Hut gezaubert. Wer das schafft, der ist ein toller Hecht. Den freilich fand ich diesmal nicht im Theater, sondern im Kino. Er heißt Damian Szifron, ist Argentinier, Filmregisseur, und lieferte mir womöglich schon im Januar meinen Kino-Hit des Jahres. Sein leider etwas dämlicher, unpässlich unpoetischer Titel, noch dazu unangebracht platt im englisch-deutschen Mix: „Wild Tales. Jeder dreht mal durch“.
Es ist ein hinreißend besetzter Episodenfilm, der von der ewig grandios-schrecklichen, bitterbösen, rabenschwarz-goldigen Komödie des Menschen in meisterlich inszenierten Bildern erzählt. Und eben auch davon, wie sich banale Mückenstiche des Alltags unversehens zu unglaublichen Katastrophen aufbauschen, wie Wahn, Irrsinn, Angst oder Hybris unversehens ins Apokalyptische eskalieren (können). Das ist banal und lächerlich und geradezu absurd. Und doch sind derartige emotionale Ausnahmezustände total real und allzeit gegenwärtig. Freilich, Szifron hat sich die Filme von Tarantino, Almodovar und den Coen-Brüdern sehr genau angesehen, aber dennoch eine ganz eigene, unglaublich dichte, umwerfend bildmächtige Form gefunden. Sie changiert zwischen wuchtiger Opernhaftigkeit, rasendem Aberwitz und kühler Lakonie sowie allersensibelster Beobachtung. Großes, ungekünstelt unverkopftes und bei aller geballten Verrücktheit menschlich- allzumenschlich tief, ja abgrundtief greifendes Vollblut-Kino.

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Warteschlange an der Kasse, daneben Leute mit dem „Suche-Karte-Schild“ – und das für einen Monolog. Im Studio der Schaubühne Berlin filterte ihn der Schauspieler Felix Römer aus dem 200-Seiten-Roman „Das Kalkwerk“ von Thomas Bernhard aus dem Jahr 1970. Darin erzählt der große philosophische Knurrhahn, der bravouröse Sprachkünstler und nüchterne Menschenkenner, der lustvolle Alles-Infrage-Steller und sarkastisch an der Menschheit Unvollkommenheit Leidende von einem Exzentriker, der sich in einem stillgelegten Kalkwerk selbst eingekerkert hat, um an diesem „Idealort der Ruhe“ sein vermeintlich geniales Monumentalwerk „Das Gehör“ niederzuschreiben.
Dieser total verstiegene Seltsamkeits-Mensch ist ein dünnhäutiges Supersensibelchen, das sich an allen nur denkbaren Störungen durch die draußen dröhnende Welt sowie erst recht an der Verkorkstheit seiner Ehe, seinen fatalen Blockierungen und Unvollkommenheiten Herz und Hirn wund stößt. Da möchte einer sehr, sehr viel und kriegt bloß sehr, sehr wenig auf die Reihe. An der Diskrepanz zwischen besessenem Wollen und verkrampftem Kaum-Können, zwischen erstrebter Vollkommenheit und dürftiger Realität wird dieser radikal abgehobene Kopfmensch schier verrückt. Schließlich versinkt er im Chaos aus Verzweiflung und Verstiegenheit.
Felix Römer zeichnet das exzessiv ins Groteske geschraubte Bild eines hysterischen Schmerzensmanns beim alltäglichen Scheitern. Ein Sinnbild des traurig Menschlichen. Da tobt wie besessen ein elender Gigant und ein armes Würstchen zugleich. Am Ende kommt es zu einem rauschhaften Suhlen in Dreck und Schlamm. Das befreiend Animalische. – Fazit: Ein so präzises wie faszinierendes Virtuosenstück des furiosen Felix Römer – gestützt durch geschickte Regie von Philipp Preuss und ebensolche Dramaturgie von Maja Zade.

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Sie machen es mit Kehrbesen, Autoreifen, Müllschluckern, Bierbüchsen, Kaffeebechern, Zeitungspapier, Schaufeln, Einkaufswagen aus dem Supermarkt, mit Fingerschnipsen, Händeklatschen, Zungeschnalzen, mit Plastiktüten, Bällen, Abfalltonnen, knirschendem Sand unter den Schuhsohlen und mit Füßestampfen oder den Blechbecken der Einbauküchenspüle. All das sind die wundersamen Instrumente für eine wahrlich mitreißende Percussion-Show. Sie spielen damit und darauf und zwischendurch untereinander. Wer dachte, die machen bloß Krach, liegt total daneben. Sie imaginieren vielmehr Kammermusik und großes Orchester, sie rocken ihre Leiber, machen Clownerien und winzig witzige Sketche – alles ganz einfach, ganz simpel mit Materialien quasi von der Mülle. Wirkt wie aus dem Hut gezaubert, wie improvisiert und ist doch grandios choreografiert und perfekt inszeniert. Toller Zirkus, präzise Show. Die hoch musikalischen, knackigen sechs Männer und zwei Frauen von „Stomp“ sind Akrobaten, Tänzer, Komödianten. Und natürlich haben sie den perfekten Rhythmus im Blut.
Es fing an vor gut drei Jahrzehnten im britischen Brighton: Luke Cresswell und Steve McNicholas, Mitglieder der Straßenband Pookiesnackenburger und der Off-Theatertruppe Cliff Hangar, kamen zueinander und ertüftelten eine verrückte Show aus Comedy, Artistik, Sport und Tanz im Sound der virtuos gehandhabten Instrumente aus dem dafür geeigneten Material von der Mülldeponie. Zum Edinburgher Fringe-Festival war Premiere – es wurde ein Sensationserfolg. Und „Stomp“ zur Marke für Fantasie, Poesie, Charme und eine faszinierende Geräuschkulisse. Seither hagelt es internationale Preise; seither gibt es Tourneen in alle Welt. Die neunzig erstaunliche Minuten lang Superlaune verbreitende Familien-Unterhaltung – man darf seiner Begeisterung freien Lauf lassen und ein bisschen mitmachen im Sessel – tourt demnächst durch die Schweiz. Grüzi und danke für diese wirklich wunderbare, verrückte und immer auch wieder – Überraschung! – ganz zarte, naiv spielerische, dabei stets kunstvolle Stomperei.

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Nach so viel Täteretää gleich noch ein Fanfarenstoß: Ich ploppe (passend zu Stomps) eine Büchse Bier und feiere mein 50. Querbeet. Freilich, Blättchen– wie Weltbühnen-gemäß, nicht ohne einen Schuss Hintersinn, etwa von Nietzsche: „Man bleibt nur gut, wenn man vergisst.“ – Prost!

Die Redaktion schließt sich mit einem ebenso dankbaren wie sanguinischen „Chapeau!“ an.
Und packt ganz schnörkellos die Aufforderung dazu: „Und nun, bitte, die nächsten …!“

Hören Sie diesen und andere Beiträge zukünftig auf Radio Wanderbuehne. Informationen dazu finden Sie hier.

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