17. Jahrgang | Nummer 23 | 10. November 2014

Schmerzendes und Erhellendes

von Heinz W. Konrad

Zwei Bücher sollen hier empfohlen werden, obwohl – oder besser: weil sie schmerzen durch das, was sie uns als Zeitgeschichte vorhalten oder das, was in ihnen möglicherweise auch ungerecht beurteilt wird. Wer um das verbindliche Geschichtsbild ringt, dessen Resultat dergestalt Ringende in der Regel bereits a priori mitbringen, wird möglicherweise enttäuscht oder gar empört sein. Wer indes seine eigene Erkenntnis über Vergangenes und zum Teil Selbsterlebtes als einen Prozess anerkennt und sich diesem auch dann öffnet, wenn sein Ausgang ungewiss und gar offen ist, dem seien also diese beiden – durchweg umfänglichen – Editionen empfohlen.

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„Eine friedliche Gestaltung der Zukunft erfordert neben dem Verständnis der gegenwärtigen Situation auch die Offenlegung zurückliegender Entwicklungsstränge und deren verantwortungsvolle Interpretation“, schreibt Reuven Moskowitz als Co-Autor dieses Bandes über „Deutschland und die Juden vor 1939“ im Vorwort. Und obgleich es zum symbiotischen Verhältnis von Deutschen und Juden eine Vielzahl von Publikationen gibt, ist diese hier sehr verdienstvoll. Bietet sie dem, der bereit ist, seine Lebensbetrachtungen des Heute auf eine möglichst fundierte Kenntnis des Gestern zu stützen, zum Thema Deutsche und Juden ein fast schon unglaublich zu nennendes Kompendium an Faktischem, dessen Spannbreite von der Frühzeit bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges reicht. Schon aufgrund dieser bestechenden Fülle ist das Buch hier unmöglich zu referieren. Wem das Thema aber nahegeht, und dafür besteht heute leider neuerlicher Anlass, der sollte sich in das Material dieses umfänglichen und hervorragend edierten Folianten vertiefen. Die Autoren Wolfgang Effenberger und Reuven Moskovitz verweisen in ihrem Nachwort auf den amerikanischen Autor Yuri Slezkine, der – die jüdischen Merkmale von Mobilität und Wurzellosigkeit aufgreifend – das Begriffspaar „Jude und Nichtjude“ durch das der „Wanderer und Alteingesessenen“ ersetzt und diese mit „Apolloniern“ (Nichtjuden) und „Merkurianern“ (Juden) assoziiert. „Bestehen apollonische Gesellschaften aus Bauern, Kriegern und Priestern, so finden sich unter Merkurianern eher Botschafter, Händler, Übersetzer, Handwerker, Führer, Heiler und andere Grenzüberschreiter“, schreibt er. Und folgert aus der Geschichte: „Zu allen Zeiten konnten sich die beiden Gruppen vorteilhaft ergänzen und voneinander profitieren.“ In einer Welt und einer Zeit, in der diese Erkenntnis eine solche Massenbasis hätte, die den Begriff des Antisemitismus endlich ausschließlich der Geschichtsschreibung zugehörig machten, leben wir leider aber noch immer nicht.

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Vor allem dieses Buch dürfte schmerzen, wer sich bis heute – und sei es aus der Gesinnung eigener Ehrenhaftigkeit wegen – der Kenntnisnahme verweigert, dass es durchaus einsichtsfördernd ist, Kommunismus und Nationalismus auf das in beiden obwaltende totalitäre Denken hin zu vergleichen.
Lothar Fritze, Chemnitzer Sozial- und Politikwissenschaftler und als solcher auch Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung der TU Dresden hat dieses noch immer heiße Eisen angepackt und sich eben dieses Vergleiches mit Akribie angenommen, eines Vergleiches, der dabei nicht – wie tradiert – allein durch Stalin und Hitler personifiziert wird; bei dem, was beider Ideensysteme geprägt hat, geht Fritze bis auf Lenin und auch auf Marx zurück. 30 Parallelitäten arbeitet der Autor mit kühler Distanz quellenintensiv und faktenreich heraus, dabei neben den Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede nicht übergehend.
Er zeigt welche weltanschaulichen Strukturen es ermöglicht haben, dass Faschismus wie eben auch der Kommunismus – der real existierende, nicht jener der theoretischen Verheißung – jenen massenhaften, ja kollektiven Typus begünstigt haben, der auch beim Schlimmsten, was er vollzog, sich als „Täter mit gutem Gewissen“ verstand. Und dies zu Teilen bis heute ungebrochen. Aber dieser Schlussfolgerung der gewiss auch streitbaren Analyse Fritzes wird man wohl zustimmen müssen: Trotz ihrer inhaltlichen Unterschiedlichkeit konnten beide Ideensysteme als Herrschaftsideologien totalitärer Diktaturen fungieren. „Sie haben sich als tauglich erwiesen, Menschen zu begeistern, Überzeugte zu opferträchtigen Handlungen zu inspirieren und entsprechende Vorgehensweisen (scheinbar) moralisch zu rechtfertigen.“

Wolfgang Effenberger, Reuven Moskovitz: Deutsche und Juden vor 1939. Stationen und Zeugnisse einer schwierigen Beziehung, Zeitgeist-Verlag, Ingelheim a. Rhein 2013, 640 Seiten, 39,80 Euro.
Lothar Fritze: Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, Olzog-Verlag 2012, München 2013, 607 Seiten, 58 Euro.