von Erhard Crome
Der Präsident Wiktor Janukowytsch gilt als gestürzt. Ein Teil der Abgeordneten seiner „Partei der Regionen“ in der Werchowna Rada, des Parlaments, war zur vorherigen parlamentarischen Opposition übergewechselt und hatte so am 22. Februar 2014 die Mehrheit für diesen Beschluss möglich gemacht. Dann hieß es, Janukowytsch sei verschwunden, dann wurde gemeldet, er sei am Verlassen des Landes gehindert worden. Danach wurde er – tatsächlich oder vorgeblich – gesucht, um ihn vor Gericht zu stellen. Am 27. Februar schließlich tauchte er in Russland, in Rostow am Don, auf, wo er am 28. Februar eine Pressekonferenz gab und erklärte, er sei noch immer der Präsident der Ukraine und der Absetzungsbeschluss sei illegal.
Die EU-Kommission hatte den Beschluss über die Amtsenthebung Janukowytschs rasch anerkannt. Angeblich ging es ja bei der Protesten auf dem Kiewer Maidan-Platz darum, dass dieser das Freihandelsabkommen mit der EU nicht unterzeichnet hatte (Das Blättchen 25/2013). Was aber will die EU? Kaum war die Amtsenthebung erklärt und der Streit in Kiew um die Übergangsregierung entbrannt, hat die US-Ratingagentur Standard & Poor’s die Ukraine auf die CCC-Stufe abgesenkt – das ist kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Nach aktuellen Angaben braucht die Ukraine in den nächsten beiden Jahren etwa 35 Milliarden US-Dollar für den Schuldendienst, allein in diesem Jahr 13 Milliarden US-Dollar (das sind derzeit etwa 9,5 Milliarden Euro). Russland hatte Ende vorigen Jahres einen Notkredit in Höhe von 15 Milliarden Dollar zugesagt (und billigeres Erdgas), davon sind vor dem Umsturz in Kiew etwa drei Milliarden geflossen. Der Rest liegt auf Eis – bis die Lage in Kiew geklärt ist, hatte die russische Regierung mitteilen lassen. Die EU hat erklärt, helfen zu wollen, macht dies aber von strengen Sparauflagen, Subventionskürzungen, einer Anhebung der Gaspreise – die die weithin verarmte Bevölkerung hart treffen würde – und der Freigabe des Wechselkurses der Währung Hrywnja abhängig. Die rutscht gerade ohnehin in den Keller, allein im Januar 2014 hat die Zentralbank 1,7 Milliarden US-Dollar in den Markt gesteckt, um den Kurs zu stabilisieren. Jetzt hat sie noch etwa 17 Milliarden Währungsreserve. Die können schnell alle sein.
Julia Tymoschenko, die unter Janukowytsch im Gefängnis saß, hatte an dem Umsturztag in Kiew auf dem Maidan erklärt, sie werde die Ukraine in die EU führen. Sie allein? Die EU hatte im Jahre 1993 in Kopenhagen Kriterien beschlossen, die Beitrittsländer erfüllen müssen, wenn sie der EU beitreten wollen – deshalb „Kopenhagener Kriterien“. Auf dieser Grundlage haben dann lange Verhandlungen mit allen Ländern stattgefunden, die seither der EU beigetreten sind oder dies noch tun wollen. Das sind erstens politische Kriterien: ein demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte und Bürgerrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten, Zulassung politischer Parteien, ein arbeitsfähiges Rechtswesen und Korruptionsbekämpfung; zweitens wirtschaftliche Kriterien: eine funktionsfähige Marktwirtschaft, gegenüber dem Ausland offene Märkte und vor allem die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten. Die politischen Kriterien kriegte man vielleicht noch hin – in der Korruptionsfrage wurden in Bulgarien und Rumänien ja auch etliche Augen zugedrückt, um das geopolitische Vorhaben umzusetzen, den Ostbalkan in die EU zu bekommen und das Schwarze Meer zu erreichen. Und im Baltikum wurden die Minderheitsrechte in Bezug auf die dortigen russischen Minderheiten auch sehr lax behandelt.
Aber die wirtschaftlichen Kriterien haben etwas mit harten Fakten der stupiden Wirtschaft zu tun. Die ukrainische Wirtschaft exportiert hauptsächlich Eisen und Stahl sowie Getreide und einige Rohstoffe. Der größte Wirtschaftspartner ist Russland. Im Maschinenbau sind im Grunde nur einige Rüstungsbetriebe konkurrenzfähig, die jedoch von Kooperationen mit Russland abhängen, das heißt, sie sind im Grunde Teil des russischen Militär-Industrie-Komplexes. Die EU hat 2012 für 26,15 Milliarden US-Dollar Waren und Dienstleistungen in die Ukraine geliefert und für 16,95 Milliarden Dollar von dort bezogen, das heißt die Ukraine hat mit der EU (der 28) ein Außenhandelsdefizit in Höhe von 9,2 Milliarden Dollar. Die Zahlen für den ukrainischen Austausch mit Russland lauten 17,63 Milliarden Ausfuhren und 27,42 Milliarden Einfuhren, das heißt das ukrainische Defizit liegt hier bei fast 10 Milliarden US-Dollar. Hier sind natürlich die umfangreichen Gas- und Öllieferungen Russlands an die Ukraine enthalten.
Das alles bedeutet: Die Ukraine ist nicht in der Lage, dem „Wettbewerbsdruck“ der EU standzuhalten. Die Wirtschaft ist zum Westen hin in keiner Weise konkurrenzfähig, die Abhängigkeiten von Russland sind auch längerfristig nicht durch den Westen abzulösen. Und über die Kopenhagener Kriterien drei und vier – dass die Ukraine den gesamten Vertrags-, Gesetzes- und Vorschriften-Bestand der EU übernehmen müsste (Acquis communautaire) und die EU aufnahmefähig sein muss – ist noch kein Wort gefallen. Ein entsprechender Anpassungsprozess würde Jahrzehnte dauern. Es war politisch unverantwortlich, dass Politiker in der Ukraine der Bevölkerung eine Lösung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Gestalt eines EU-Beitritts versprochen haben. Es ist noch unverantwortlicher, dass EU-Politiker dem wider besseres Wissen nicht widersprechen.
Hatte der Westen Ende 2013 gejammert, die erste Runde der geopolitischen Auseinandersetzung sei an Putin gegangen, so meinte er nun, in der zweiten Runde zu triumphieren. Inzwischen spitzt sich die Lage weiter zu. In Kiew sind die Faschisten Teil der Regierung. Janukowytsch ist theoretisch (oder mit russischer Hilfe auch praktisch?) die Gegenregierung. An der ukrainischen Grenze veranstalten russische Truppen Manöver. Auf der Krim läuft der Countdown zur Lostrennung. 1914 führte so etwas zum Krieg. Der Historiker Christopher Clark hat in Bezug auf den Ersten Weltkrieg von „Schlafwandlern“ gesprochen: Jeder fühlt sich im Recht, jeder folgt scheinbar seinen Interessen und am Ende fabrizieren alle gemeinsam einen Konflikt, den so keiner wollte. Vielleicht sind es am Ende die Atomwaffen, die uns vor der letzten Konsequenz bewahren. Auf die Vernunft der Schlafwandler ist wohl nicht zu rechnen.
Schlagwörter: Erhard Crome, EU, Janukowytsch, Russland, Ukraine