von Wolfgang Kubiczek
„Europa hat Russland nie sonderlich wohlwollend behandelt. Seit es […] Aufzeichnungen gibt, ist es an die Peripherie gedrängt worden. Die Tendenz zur Ausgrenzung war deutlich.“ So leitet Manfred Hildermeier die Schlussfolgerungen aus seiner tausendfünfhundert eng bedruckte Seiten umfassenden Monografie „Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution“ ein. Es blieb zwar nur bei der Tendenz zur Ausgrenzung, denn dazu spielte Russland eine zu große Rolle in der europäischen Politik, aber die sich dahinter verbergende Geisteshaltung hatte vielfach fatale Auswirkungen auf den Verlauf der europäischen Geschichte. Osteuropa, vor allem Russland, wurde, wie Hildermeier schreibt, zur Kontrastfolie des Westens. „Jenseits der Pripjat-Sümpfe erkannte man einen Raum, der sich durch ‚Halbwildheit‘ und ‚Halbkultur‘ auszeichnete. Alles Wesentliche an diesem ‚Orang Utan Europas‘ war nicht nur fremd, sondern befremdlich und abzulehnen […] Auch wenn man (meist) nicht mehr von Barbarei sprach, meinte man sie.“
Ob vom Autor beabsichtigt oder nicht, der an der jüngsten Geschichte und der aktuellen Politik interessierte Leser findet viele Hinweise auf Ursachen für russophobe Denkmuster und Vorurteile , die gerade heute wieder bereitwillig und geschichtsvergessen von „Meinungsträgern“ kolportiert werden. Historische Parallelen bieten sich auch zu Konfliktlinien der jüngsten Zeit an – wie beispielsweise der Frage nach dem Platz der Ukraine im Spannungsfeld zwischen Russland und Westeuropa.
Schon allein die Tatsache, dass das erste staatliche Gebilde auf russischem Boden das Kiewer Reich war (die Kiewer Rus, neuntes Jahrhundert bis 1240), das alle ostslawischen Stämme umfasste, aus denen seit dem hohen Mittelalter die Weißrussen, Kleinrussen (Ruthenen, Ukrainer) und Großrussen hervorgingen, bietet genügend Stoff zum Nachdenken. Zu den prägenden Hinterlassenschaften der Kiewer Rus gehörten die Entwicklung einer Gesamtidentität, darunter eine gemeinsame Religion und Kultur, eine gemeinsame Schriftsprache sowie das Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit. Die Kiewer Rus war schließlich die Wiege des Moskauer Staates sowie der russischen Kultur insgesamt. Heute sehen sich Russland, Weißrussland und die Ukraine mit jeweils eigenen Interpretationen in der Tradition des Kiewer Rus.
Mit ihr begann auch die Christianisierung Russlands. Kiew war aber nicht auf Westrom, sondern auf Ostrom orientiert. Die Bedeutung dieser Affinität ist, wie der Autor schreibt, kaum zu überschätzen. Mit der Ausrichtung auf Konstantinopel verband sich das Kiewer Reich (anders als Polen, Böhmen und Ungarn) mit einem Kulturkreis, der seine eigenen Wege ging. Die Kirchenspaltung zwischen Ost- und Westrom 1054 hat diese Trennung weiter vertieft und „eine Entwicklung befördert, die aus der Konfessionsgrenze eine Kultur- oder doch zumindest eine Binnengrenze innerhalb der europäischen Kultur machte“. Schließlich trug auch die Verwendung ganz unterschiedlicher Sprachen zu dieser Trennung bei. Während die katholisch-weströmische Kirche das Lateinische zur lingua franca machte, nahmen in der orthodox-oströmischen Kirche zwei Sprachen den Platz des Lateinischen ein: die griechische und das Kirchenslawische. Weichen zur Trennung und eigenständigen Entwicklung Russlands, so resümiert der Autor, wurden nicht erst mit dem Mongolensturm, wie oft behauptet, gestellt, sondern gehen bereits auf das definitive Schisma zwischen Ost- und Westrom 1054 zurück.
Mit dem Zerfall des Kiewer Reiches kam es im Nordosten zum Aufstieg des kleinen Teilfürstentums Moskau, das diesen nicht zuletzt der Kooperation mit den Nachfolgern Batus – Enkel Dschingis Khans und Herrscher über die Goldene Horde – verdankte. „Der, Mongolensturm‘“, so der Autor, „[…] war Geburtshelfer des neuen zentralistischen Moskauer Staates, dessen Fürst zum Autokraten […] wurde, der seine Gesellschaft in Unfreiheit hielt und sich vom Westen abschottete.“ Besonders letzteres wird jedoch von bedeutenden russischen Historikern verneint, die anstelle fataler Abkehr von Europa eher die Hinwendung Russlands zu seiner eigentlichen „eurasischen“ Bestimmung sehen. Jedenfalls befand sich Moskau fast 250 Jahre in Vasallität gegenüber dem mongolischen Reich. Großfürst konnte in jener Zeit nur werden, wer die Unterstützung der militärischen Oberherren in Sarai, der Hauptstadt der Goldenen Horde, erhielt. Im Ergebnis eines längeren Prozesses ging 1480 die Abhängigkeit Moskaus gegenüber dem mongolischen Reich endgültig zu Ende.
Hildermeier widmet sich der Frage, welche Wirkung die mongolisch-tatarische Herrschaft auf die historische Entwicklung Russlands ausübte, zumal dies seit Beginn der russischen Geschichtsschreibung zum Kern der Auseinandersetzung zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“ gehörte und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erneut ins Zentrum der meisten Versuche einer geistig-kulturellen Standortbestimmung gerückt ist. Er kristallisiert dabei fünf Hypothesen heraus: „Moscowien“ (a) als autochthones Gebilde, (b) als Variante von Byzanz, (c) als sesshafte Form der steppennomadischen und/oder mongolischen Gesellschaft, (d) als Amalgam von byzantinischer „Theorie“ und mongolischer „Praxis“ sowie (e) als Spielart des europäischen Modells. Der Autor bekennt sich eindeutig zur autochthonen Hypothese: „Das moskowitische Reich entstand […] ganz überwiegend aus eigenen Voraussetzungen […] Die entscheidenden Weichen für eine eigene Entwicklung Russlands wurden im Kiever Reich […] gestellt. Der Moskauer Staat folgte nur dieser Spur.“ Die Distanz zur lateinischen Welt sei weniger den Mongolen anzulasten, sondern eher Folge der Übernahme des orthodoxen Christentums. „So gesehen kam dem Sieg über die katholischen Ordensritter auf dem Eis des Peipussees 1242, der die Religionsgrenze endgültig verfestigte, deutlich größere Bedeutung für das Verhältnis Russlands zu Europa zu als dem Mongolensturm.“
Die umfassende Öffnung nach Europa vollzog sich im 18. Jahrhundert unter Peter I. (1682-1725). Er sah – außer bei der Religion – einen Nachholbedarf gegenüber Europa, der durch Reformen befriedigt werden sollte. Diese Reformen nach europäischem Vorbild wurden, wie der Autor feststellt, „gestützt auf die […] Zwangsgewalt der Autokratie mit ungewohnter, revolutionärer Radikalität auf den Weg gebracht […]“. Allerdings erreichte die „Verwestlichung“ nur die hohe Aristokratie, mittlere Ränge des Adels und eine schmale kaufmännische Elite in den Städten. Dagegen blieben Bauern, einfache Kaufleute und Kleinbürger davon weitgehend unberührt, was zu einer wachsenden Kluft zwischen gut situiertem Adel und dem Rest der Gesellschaft führte. Die autokratische Herrschaftsform blieb von den Reformen unberührt.
Die innere Hinwendung zu Europa wurde im 18. Jahrhundert begleitet durch den Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht. Am Beginn stand der Große Nordische Krieg, der mit dem Sieg Peter I. über Schweden in der Schlacht bei Poltawa 1709 die entscheidende Wende erhielt. Im Ergebnis kam es zu einer grundlegenden Verschiebung des Kräfteverhältnisses: Schweden, das seine Besitzungen im Baltikum verlor, sowie Polen-Litauen wurden von Russland als Hegemonialmacht in Ost- und Nordosteuropa abgelöst.
Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts hatte eine intensive territoriale Expansion nach Osten und Süden begonnen. 1639 standen die ersten Russen am Pazifik, zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es bereits mehr Russen als Ureinwohner in Sibirien. Unter Katharina II. hatte diese Entwicklung ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Abkommen über die drei polnischen Teilungen unter Beteiligung von Russland, Preußen und Österreich (1772, 1793 und 1795) führten zur weiteren territorialen Ausdehnung des Zarenreiches in Europa: Ganz Weißrussland, Kurland, polnisch Livland und Litauen, sämtliche Gebiete östlich von Bug und Memel sowie weite Gebiete der Ukraine gelangten unter russische Herrschaft. Hildermeier stellt dazu fest: „Der russische Staat mutierte immer sichtbarer zu einem Imperium […], dessen Peripherie sich vom machtausübenden Zentrum immer weiter entfernte und dabei immer mehr fremde Völker und Kulturen unterwarf. In diesem Sinne wurde es – wie das Habsburgische und das Osmanische – zu einem Vielvölker-Reich.“
Der Einfluss Russlands auf die europäische Politik veränderte sich in der nachfolgenden Zeit in ständigem Auf und Ab. Das kurz zuvor noch eher unbedeutende Riesenreich gehörte bereits Ende des 18. Jahrhunderts zu den Bollwerken des Ancien Régime gegen die Französische Revolution. Nach dem Sieg über Napoleon 1812 entstand sogar eine „faktische (russische) Suprematie über das ganze kontinentale Europa.“ „Fortan“, stellt der Autor fest, „gehörte das Zarenreich zu Europa, zwar nicht wie Deutschland, Frankreich oder Österreich – aber doch wie Schweden oder Spanien, zugleich aufgrund seiner schieren Größe von größerem militärischen und politischem Gewicht.“ Aber bereits ein halbes Jahrhundert später (1856) hatte Russland den Krimkrieg gegen Frankreich, England und das Osmanische Reich verloren
Der russische Staat rückte abermals an die Peripherie der europäischen Politik, „als anachronistische, […] rückständige Despotie, die […] die Hälfte ihrer Untertanen in Gestalt von Leibeigenen anscheinend zu faktischen Sklaven gemacht hatte“. Die als Hauptursache der Niederlage zutage getretene gesellschaftliche Rückständigkeit, der gewaltige Aufholbedarf bei der Industrialisierung und die Unterdrückung der Kleinbauern zwangen Zar Alexander II. zu Reformen, darunter zur Aufhebung der Leibeigenschaft (1861). Nach dem schmählich gescheiterten Versuch, im Krieg mit Japan (1904/05) seine Expansionspolitik auch auf die chinesische Mandschurei auszudehnen, wandte sich Russland wieder der machtpolitischen Präsenz auf dem europäischen Schauplatz zu. Das autokratische Zarenreich verließ die Koalition mit Deutschland und Österreich und verbündete sich mit den europäischen Westmächten England und Frankreich, die als Mutterländer von Revolution und Liberalismus galten. Es hatte sich damit im Weltkrieg zwar „auf die ‚richtige‘ Seite geschlagen, i.e. mit den letztlichen Siegern verbündet; dennoch siegte es nicht mit, weil es unter der Last des Krieges zusammenbrach.“
Hildermeier sieht Russland als europäischen Staat mit „Brückenfunktion“: „Russland liegt am Rande Europas und wurde mit der Zeit zunehmend in das Beziehungsgeflecht der europäischen Staaten und der europäischen Kultur einbezogen […]. Zugleich war es aufgrund seiner Ausdehnung und Lage nie nur ein europäischer Staat oder zumindest kein ‚normaler‘. Russland focht an zwei Fronten, brachte das ‚Westlertum‘ ebenso hervor wie ‚eurasische‘ Theorien […] Russland hat Anteil an beiden Welten – und war eben deshalb und aufgrund seiner schieren Größe zugleich eine Welt für sich.“
Das gesamte Geschichtswerk zeichnet sich außer durch seine Detailtreue vor allem dadurch aus, dass es neben der Analyse innerer und äußerer machtpolitischer Gegebenheiten konsequent für alle historischen Zeitabschnitte die jeweiligen wirtschaftlichen Grundlagen und sozialen Verhältnisse, das Alltagsleben, die materielle und geistige Kultur, Lebensweise und Religion erschließt. Es richtet sich an einen anspruchsvollen, historisch möglichst vorgebildeten Leserkreis, versucht jedoch den Informationsstand des interessierten Laien nicht aus den Augen zu verlieren. Die differenzierte und ausgewogene Darstellung hebt sich bewusst von der „Neigung jüngerer Sachbücher zu entschiedenen Positionen und Formulierungen“ ab. Zusammen mit seiner 1998 erschienen Geschichte der Sowjetunion ist Hildermeier eine Gesamtdarstellung der russischen Geschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit gelungen, die dem Anspruch eines Standartwerkes gerecht wird.
Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. Verlag C.H.Beck, München2013,1.504 Seiten, 49,95 Euro.
Schlagwörter: Geschichte, Manfred Hildermeier, Russland, Wolfgang Kubiczek