16. Jahrgang | Nummer 18 | 2. September 2013

Querbeet (XXX)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Dreigroschengeburtstag, Kleist prekär, Sagert prezios sowie Wagner zum vorläufig letzten, protokollarisch, sängerisch.

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Alles super-super! Jungregisseur Lehmann, gespielt von dem sturen, in seiner Sache glaubensstarken und dennoch zarten, feinfühligen und überhaupt ganz wunderbaren Robert Gwisdek, also dieser hoffnungsfrohe Lehmann mit Stauneaugen und Fusselbart ist ganz aus dem Häuschen, so prima verlief der Drehbeginn seiner Verfilmung der Kleist-Novelle „Michael Kohlhaas“. Dann klingelt sein Handy, und Lehmann fällt ins Bodenlose: Die Produzenten ausgestiegen, die Förderung futsch, die Finanzierung im Eimer. Was tun? Weitermachen! Ohne Etat, aber mit Spielwut, Vorstellungskraft, Improvisation, Opferbereitschaft, Durchhaltewillen. Sowie einem hilfreichen Dorfbürgermeister, einer Schar Laienspieler von der Freiwilligen Feuerwehr, mit Ochsen statt mit Pferden und mit viel, viel, viel Fantasie. ‑ Ein toller Stoff für eine Backstage-Filmkomödie, die zutiefst anrührend und doch hoch komisch davon erzählt, wie Realität und Fiktion, wie Wirklichkeit und Poesie ineinander übergehen. Wer erleben will, was Schauspiel, was Regie ist, wie überhaupt (Film-)Kunst gemacht wird und wie (Film-)Künstler sich kloppen im Clinch über den rechten Weg zur Kunst, der darf den kleinen großartigen Film von Aron Lehmann „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ nicht verpassen.

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Da funkelt eine Realsatire über den unbedingten Willen zur Kunst. Da erzählt die spannende, dramaturgisch raffiniert ausgeklügelte Drehreportage über eine durch miese Umstände etwas andere „Kohlhaas“-Verfilmung mit einem lachenden und weinenden Auge vom Prekären, Mutigen, Selbstüberhebenden wie Selbstlosen des unbändigen Künstlertums. Wobei bald klar ist: Kleist wird in selbst aberwitzigen Dreh-Schwierigkeiten mit den verrücktesten Kompromissen nicht verraten. Weil die Crew sich an ein Zitat von ihm klammert: „Ein frei denkender Mensch bleibt dort nicht stehen, wo das Schicksal ihn hinstößt.“

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„Die gesehene Welt zerfällt. / Ich bin von meinem Blick umstellt. / Ich reite händefuchtelnd im Palaver / Durch diesen Wirklichkeitskadaver.“ Reimt Horst Sagert über sich selbst. Sagert, Jahrgang 1934, klein, rundlich, grauer Rauschebart, malt, zeichnet, collagiert, schreibt, dichtet, bastelt. Und baut traumhafte Bühnenbilder. Er verstand sich als „multipler Künstler“, der für seine fantastisch weite Gedankenwelt in pingeligster Kleinstarbeit eine adäquate Gestalt in unterschiedlichsten Genres sucht. Mit der Ausstattung von „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz am Deutschen Theater Berlin 1965 wurde er weltberühmt. Einar Schleef später euphorisch: „Er war der größte Theaterkünstler, den die DDR hervorgebracht hat. Er experimentierte mit anderen Mitteln als ich – mit Rüschen, Schmuck, Federn. Aber er versuchte, den Themen Ernst zuzuführen.“ Seine heilig ernsten Versuche freilich hielt Sagert für gültig. Erst kürzlich gab er zu Protokoll, dass die Besten, zu denen er sich selbstbewusst rechnet, einen Schritt vor gingen und dreihundert zurück. „Wenn sie aus der Vergangenheit in der Gegenwart angekommen sind, bringen sie die Zukunft mit.“ Sagerts permanenter Avantgardismus.

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Sehr viel früher, 1970 am Grab von Heinrich Kilger, seinem Lehrer an der Bühnenbild-Klasse der Ostberliner Kunsthochschule Weißensee, sagte er: „Kilger war der erste Lehrer, der mit dem Marxismus nicht erpresserisch umging. Immer wenn er marxistische Gedanken aussprach, hatten sie die Zuversicht, die ihnen eigen ist.“ Übers Wesen der DDR-sozialistischen Parteibürokratie meinte er allerdings, sie verfolge die Selbstständigen und belohne die Unselbstständigen, die Mitläufer, weil die stumme Übereinkunft existierte, dass sie weiterhin Mitläufer seien. „Der Grund einer Theaterwelt ist der Mensch, ist die Angst, wie die Sonne zu erkalten. Die Zuschauer brauchen etwas Liebesspiel, nicht immer das Austeilen von Wissen.“ Deshalb sein geradezu barocker „Mummenschanz um den Altar“, den er gern für die Bühne hielt. Einen faszinierenden Einblick in diesen schillernden Mummenschanz gibt jetzt die von Mark Lammert und Stephan Suschke zusammengetragene Ausstellung „Sagerts Welt“ im Großen Saal der Stiftung Schloss Neuhardenberg. Der wundersame große alte Mann (ost)deutschen Theaters weit draußen im Osten, im Brandenburgischen – und bezeichnenderweise nicht im einstigen Zentrum seines Wirkens, in Berlins Deutschem Theater…

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Die Vernissage war ein herrlich rauschendes Theaterfest am letzten Sonntag im August. Der Himmel blau, die Luft lau und Schäfchenwolken. Die Natur mit ihrer noch immer hellen heißen Sonnenseite. – Im Kontrast dazu Sagerts Satz aus dem Buch zur Ausstellung („Zwischenwelten“, Verlag Theater der Zeit): „Das Tollste, was die Deutschen zu bieten haben, ist der Balsam der Hoffungslosigkeit.“ So geht Dialektik, das dennoch Tröstliche.

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Ein halbes Jahr gab Josef Aufricht sich Zeit. An seinem 30. Geburtstag am 31 August 1928 (nachträglich Gratulation und treu verehrendes Gedenken jetzt zum 115.!), da sollte es unbedingt auf Teufel komm raus losgehen. Der ziemlich wohlhabende Herr Papa Aufricht in Breslau hatte Sohnemann Josef in Berlin mal eben 100.000 Reichsmark spendiert, damit der sich einen tollen Traum erfüllen konnte, das just herrenlos gewordene Theater am Schiffbauerdamm wiederzueröffnen; heute Bertolt-Brecht-Platz Nummer 1. Um dort fortan als Urahn von Claus Peymann den Theaterdirektor zu geben. Der Beginn sollte, ja musste – allein schon wegen der massenhaften Konkurrenz – extrem spektakulär und obendrein avantgardistisch sein. Also eine Uraufführung! Doch nichts Gescheites fand sich. Schließlich traf Josef auf Bertolt; man verstand sich, „wir hatten beide die übliche Linkstendenz“. Brecht bot ein „Nebenwerk“ an, die Bearbeitung eines altenglischen Textes (von seiner Freundin Elisabeth Hauptmann), handelnd von einem Korruptionsskandal im Londoner Gangstermilieu. Das „roch nach Theater“, passte zu Berlin, man „machte Vertrag“, schreibt Aufricht in seinen Memoiren. Und er überraschte mit Star-Besetzung: Harald Paulsen, Erich Ponto, Lotte Lenya, Rosa Valetti, Kurt Gerron, Kate Kühl, Ernst Busch. Regie: Erich Engel.

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Die Proben begannen für heutige Verhältnisse recht spät, nämlich erst Anfang August. Mit hysterischen Krächen am laufenden Band und radikalen Änderungen bis ganz zuletzt. Sogar Karl Kraus dichtete mit in der Kantine. In Windeseile hatte sich – super Werbung! – das Chaos herumgesprochen. Tout Theaterberlin quasselte, so Aufricht, vom Spektakel „Ritt übern Bodensee“. Dann endlich Generalprobe, startend am Vorabend, endend morgens um sechs Uhr in der Früh am Tag der Uraufführung. Noch acht Stunden vor Premierenbeginn wollte Ponto seine Rolle (Peachum) schmeißen. Man hatte seinen Part allzu arg kürzen müssen. Erst in letzter Minute, das Adrenalin kochte, dichtete Brecht den Haifisch-Song, fand Bühnenbildner Caspar Neher einen Ballen Rupfen, um den bloß die halbe Bühnenhöhe abdeckenden Zwischenvorhang zu installieren; die später berühmt gewordene „Brecht-Gardine“. Und Brecht stellte sich unentwegt stur gegen den Titel „Dreigroschenoper“; klang ihm zu kulinarisch. Er plädierte für das anklägerische „Die Mörder sind unter uns“. Das Kulinarische obsiegte, lief am Schiffbauerdamm ein Jahr lang en suite (Brecht kaufte sich von den Einnahmen ein Horch-Automobil). Und Mackie Messer & Co. erstürmten die weite Welt: Der Evergreen ist bis heute einer größten Hits des Theaters; gegenwärtig läuft am BE Robert Wilsons Version ‑ artifiziell, gewitzt, amüsant also ziemlich kulinarisch.

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Schon wieder Richard, doch vorläufig zum Letzten. Weil mal wieder im Plattenschrank gekramt. Und siehe da ein tolles Fundstück (mit Patina): Die CD „Liebestod in Venedig“ (Deutsche Grammophon Literatur). Passt ins Doppel-Gedenkjahr. Schließlich ist 2013 nicht nur Wagners runder Geburtstag, sondern auch sein halbrunder Sterbetag; war am 13. Februar vor 130 Jahren.Also ein bisschen Bayreutherei (vorläufig zum letzten Mal!) daheim auf dem Sofa mit Richards Lebensfinale sowie Maria Wimmer und Gert Westphal. Die beiden leider selbst längst dahin gegangenen Schauspielstars im fiktiven Dialog lesend aus Cosimas Tagebüchern. Dazwischen die Berliner Philharmoniker unter Karajan, das Bayreuther Festspielorchester unter Karl Böhm. ‑ Karajan lässt geheimnisvolle Parsifal-Töne grummeln. Dann die Wimmer mit Cosimas nüchternem Eintrag über die Abreise der Familie aus Bayreuth nach Venedig, Spätsommer 1882. Richard quält das oberfränkisch raue Klima. Und er laboriert an Magenerweiterung, Herzverfettung, Angina Pectoris. Deshalb ab ins Warme. Nach Italien, den Winter über. Am 18. September endlich Canale Grande; standesgemäß in überteuerter Zimmerflucht im Palazzo Vendramin. Cosima führt, wie immer, akribisch Tagebuch mit scharfem Blick auf Nachwelt, Nachruhm, Verklärung ‑ also bitte nichts wirklich Despektierliches. Dafür das ausführliche Register der Großartigkeiten nebst Kleinigkeiten wie Wetter, Besuche, Spazierfahrten oder Richards Diät und die Hudeleien mit seinem Leistenbruch…

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Ein bisschen schrecklich und ziemlich schön, dieses Kammerspiel eines alten exzentrischen Ehepaares. Die Wimmer ganz die hoheitsvolle Heroine; dazwischen feine spitze Töne, das Hysterische subtil andeutend. ‑ Gert Westphal: Ein lakonischer Poltergeist, der mit seinen Besserwissereien, Dreistigkeiten und sächsischen Blödeleien das hehre Lied der hohen Frau beballert; R. als das ewig freche Kind. Eine amüsante, spannende Lektion über Machtspielchen, wahre Liebe nebst dazu gehörigen Unwahrheiten.

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Zeitsprung: Protokoll 13. Februar 1883. Morgens Zank um ein Vorsingen: Sopranistin Carrie Pringle, ein Blumenmädchen, das nicht allein Parsifal verführen will, soll extra nach Venedig kommen. Cosima ist sauer. Am Nachmittag schreibt R. an seiner Abhandlung „Über das Weibliche im Menschen“. Passgenau nach den Worten „Liebe – Tragik“ bricht er ab, protokolliert C. Herzanfall. Cosima schleppt ihn zum Sofa, das in Villa Wahnfried zu besichtigen ist, wäre sie nicht wegen Renovierung geschlossen. R. stirbt wie sich’s ziemt: In Cosimas Armen. Birgit Nilsson singt Isoldes „Liebestod“.

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„Martha Mödl war die tragische, Astrid Varnay die rachelüsterne, die Nilsson die liebende Isolde“, bemerkte Wieland Wagner über sein legendäres Trio der Bayreuth-Heroinen. Dabei drohte die Laufbahn der schwedischen Bauerntochter Birgit, Jahrgang 1918, früh zu verenden im Sumpf unfähiger Lehrer. Sie zog die Notbremse, schmiss die Schulen, debütierte schließlich an der Stockholmer Oper als Einspringerin im „Freischütz“ (Agathe), wo ihr ein Patzer zum Fiasko wurde: Der berühmte Dirigent Leo Blech attestierte ihr völlige Unbegabtheit. Doch Birgit machte weiter! Motto: Was mich nicht umhaut, macht mich stark. So stark, dass sie nach tapfer durchgestandenem Singsang-Kleinbetrieb und katastrophalen Rückschlägen doch noch ins internationale Geschäft vordrang, an dessen Spitze sie sich dank heroischer körperlicher Verfassung jahrzehntelang hielt. Vor acht Jahren verstarb sie im gesegneten Alter von 87 Jahren. Allein Isolde verkörperte sie mehr als 200 male; zuletzt noch – als die Sensation! ‑ im großmütterlichen Alter mit Anfang sechzig. Wofür sie Weltstar-Höchstgage kassierte, was das geschäftstüchtige Landei, wie die Nilsson sich gern bespöttelte, mit Stolz kolportierte. – Derlei erfährt man beim Blättern in Kirsten Lieses Büchlein „Wagnerheldinnen. Berühmte Isolden und Brünnhilden“ (edition karo); eine Hommage an ein gutes Dutzend hochdramatische Super-Soprane, die mit Wagners großen Frauenfiguren im Weltruhm singend um die Welt segelten. ‑ Ich trällere mich endlich vom Podium bis zum nächsten Querbeet.