13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Meine Bilanz

von Ines Fritz

Mit der Wende hat sich die Zahl derjenigen vervielfacht, die mich für ziemlich mißraten halten. Meine DDR-Sozialisation wirkt sich für Beobachter nicht zu meinem Vorteil aus. Dabei hat sich an mir oder meinem Leben nicht viel geändert: Ich reagiere auf geänderte Umstände und mehr und andere Menschen reagieren auf mich.

Ich wohne in der gleichen Plattenbauwohnung, in der auch schon meine Eltern wohnten, zahle aber das Fünffache an Miete, im verharmlosten Verhältnis Ostmark gegen Euro. Verdiene aber nur das Doppelte, wieder Ostmark gegen Euro. Allerdings arbeite ich genauso lange, mindestens 40-Wochenstunden und habe dabei mehr Angst, es morgen nicht mehr zu dürfen. Unser Haus ist jetzt cremetortenfarbig, nicht mehr rostschotterrot. Es wohnen noch ein paar Leute da, die schon immer da gewohnt haben. Man kennt sich. Wir borgen uns Zucker und Mehl und gießen im Urlaub die Blumen. Heute habe ich zwei Kinder, aber das war schon in der DDR so geplant. Die Wende hat mich politisiert, ich bin jetzt Anarchistin. Daß darf ich heute sein, aber das muß ich auch heute sein, weil auch die BRD nicht die blühende Landschaft ist, die uns versprochen wurde, und auch sonst liegt vieles im Argen. Ich schiebe das auf die Institution Staat. Der verschuldet, daß es immer noch keine Basisdemokratie gibt. Ob ich damit Recht habe, kann man nur sehen, wenn es da was anderes gibt. Helfen könnte aber auch, wenn es einfach mal mehr mitmachen. Die repräsentative Demokratie halte ich für ´ne gute Basis für mehr. Immerhin darf ich diese nach Herzenlust kritisieren, werde aber auch akut angeblafft, was ich wiederum nicht nett finde. Ich genieße die Meinungsfreiheit und freue mich, wenn mir mal jemand zuhört.

Wirklich verändert hat sich mein Verhältnis zu Männern und zu mir, der Frau. Seit ich nämlich eine Rabenmutter bin, weil ich arbeiten gehe, weiß ich die Freiheit zu schätzen, es zu dürfen. Daß ich es auch gegen Protest tue, ist selbstverständlich. Meine Entscheidungen treffe ich rational und vom möglichen Widerstand unbeeindruckt. Es geht um den Blick in den Spiegel, es geht für mich ums Erwachsensein. In der DDR war das alles schon recht passabel gelöst, Frauen waren akzeptierte Erwachsene. In der DDR war klar, daß eine Erwerbstätige, die auch noch Kinder hat, etwas leistet. In der BRD heißt es Doppelbelastung und bedeutet das »Eindringen in eine Männerdomäne«. Mit der Wende habe ich erfahren, wie beschissen es Frauen im Westen doch geht, obwohl sie als Staatsbürger gar nicht so schlecht dran sind. Behandelt werden sie aber wie Kinder. Das sieht wie ein Widerspruch aus, ist aber keiner.

Der Staat ist ein politisches Problem. Er sichert Gleichberechtigung zu, bleibt aber auf halbem Wege stecken. Die konkreten Probleme besorgen die Menschen, zu viele denken Gleichberechtigung als Widerspruch zu Gerechtigkeit. Diese Menschen sind gemeiner als sie sein müßten und halten von freiwilliger Kooperation und Zusammenhalt, von Geschlechtergerechtigkeit recht wenig. Was ich an der DDR geschätzt habe, hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die Mitmenschlichkeit ist der Konkurrenz gewichen und die richtet sich als Vorwurf auch noch gegen mich. Von einem Tag auf den nächsten ist aus der vollwertigen Staatsbürgerin, die wie selbstverständlich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente, eine Konkurrentin geworden. Wider Willen. Ich mache das gleiche wie vorher, aber plötzlich schade ich Männern. Nun kämpfe ich darum, trotzdem anerkannt zu werden, obwohl ich eine Frau bin. Ich muß für meine gleichen Rechte streiten, mit Männern und Frauen, die sie mir gegen das Gesetz streitig machen wollen. Darum nennt man mich Feministin, darum bin ich Feministin. Das ist neu, und es gefällt mir nicht. Eigentlich bin ich in allem nur Anarchist. Nun könnte ich mir das Gezerre egal sein lassen, im Grundgesetz steht ja, daß Frauen und Männer gleichberechtigt sind und der Staat alles tun wird, dies durchzusetzen und zu garantieren. Aber es ist eine grundsätzlich andere Ausgangslage, ob Gleichberechtigung der Geschlechter wie in der DDR wirklich in der Bevölkerung akzeptiert ist oder erst gegen den heftigen Widerstand einer kleinen, gemeinen Minderheit als Ideal verteidigt und vermittelt werden muß.

Es geht dabei für mich um die Wahl der politischen Mittel. Ich möchte mit dem, was ich will, nicht scheitern. Basisdemokratie soll für alle gelten und nicht nur für Männer. Unter heutigen Bedingungen aber wird auch die schönste Idee Gefahr laufen, daran zu leiden, in eine »Männerdomäne« einzudringen oder eine »Frauendomäne« zu entzaubern. Oder umgekehrt. Für jeden Versuch, die widersprüchlich gestalteten Geschlechterinteressen von Männer versus Frauen zu harmonisieren, gibt es eine Protestbewegung, die ihre Existenzberechtigung und somit die Logik der Konkurrenz verteidigt. Oft genug ohne zu begreifen, was sie tun. So tritt man als Anarchist, noch dazu als weiblicher, mit seiner Staats- und Gesellschaftskritik nicht mehr nur gegen den Staat selbst an, sondern gegen Menschen, die seine Logik mit Klauen und Zähnen verteidigen. Für Anarchisten ist das ein Problem: Der Staat ist ein anonymer Systemfehler, seine Verteidiger sind es nicht. Ich habe kein Problem, ein System zu kritisieren, aber ich habe ein Problem, wenn darum einer weint. Selbst wenn es nur aus Dummheit ist.

Für mich gilt: Die Bürger der DDR haben die Wende gemacht, die Bürger der BRD finden nicht alles toll, aber immer ein bißchen privaten Vorteil, den es gegen Staatsfeinde wie mich zu schützen gilt. Das ist schon ganz schön clever, aber auch dafür werde ich eine Lösung finden.