13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Denk mal

von Ove Lieh

An der Jakobus-Kirche meiner Heimatstadt Ilmenau/Thüringen hat man ein Denkmal für die Revolution von 1989 errichtet, welches folgende Inschrift trägt: „Wer sich seiner Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ (George Santayana)

Mal abgesehen davon, daß ich es geschmacklos finde, der Kirche mit ihrer Vergangenheit zu drohen, zu der nicht nur ihre Rolle beim Wendemanöver 89 zählt, die aber Auslöser für die Auswahl des Standortes gewesen ist, ist die Drohung mit Verdammnis schon wieder ganz passend. Zu den Katholiken hätte das wegen der schärferen Verdammnisvorstellung noch besser gepaßt, aber die wollten die Sache mit der Vergangenheit ganz sicher nicht vor ihrer Haustür haben.

In Berlin an der U-Bahn-Haltestelle Gesundbrunnen steht das gleiche Zitat, welches allerdings nicht dasselbe ist. Es lautet dort: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“. Auch George Santayana, vermute ich. Wieso spielen die in Berlin schon wieder eine Sonderrolle und sollen nur „die Vergangenheit kennen“ und nicht „sich ihrer Geschichte erinnern“?

Vielleicht, weil Herr Santayana beides gesagt hat? Also, zwei englische Originale finde ich schon mal: „Those who do not remember the past are condemned to repeat it” und „those who do not learn from history are doomed to repeat it”. Das sind ja nun wieder zwei andere Formulierungen. Gibt es denn einen Unterschied zwischen der Aufgabe: „sich seiner Geschichte zu erinnern“, „die Vergangenheit zu kennen“, „sich der Vergangenheit zu erinnern“ oder „von der Geschichte zu lernen“? Wenn man kleinlich ist, dann schon, aber eigentlich meinen doch alle, daß wir von oder aus der Geschichte lernen sollten. Wir sind nicht kleinlich. Deshalb interpretieren wir die Aufforderung auf dem Denkmal auch nicht so wie der alte Mann, der versonnen davor stand und murmelte: „Stimmt, wir haben vergessen, wie der Kapitalismus, den wir erlebt haben, war und deshalb haben wir ihn nun wieder.“ Das ist natürlich nicht gemeint. Auch nicht das Hineinschlittern in Kriege. Es ist ein Denkmal für 89 und meint deshalb primär: „Wer sich nicht an die DDR so erinnert, wie wir sie darstellen, dem drohen wir damit, daß er sie genauso ‚wieder’bekommt“. Jetzt seufzen die Unbelehrbaren: „Wenn es doch so einfach wäre!“ Die meisten anderen haben eine Sicht auf die DDR, die sie ihnen als wenig bedrohlich erscheinen läßt. Damit fällt auch die Drohung in sich zusammen.

Vielleicht geht es aber auch mehr um die jungen Leute, denen man die DDR so erzählen soll, daß sie sie komplett ablehnen. Allerdings wissen sie nicht nur wenig, viele interessieren sich wenig für das, was ihnen erzählt wird.

Das Problem ist nicht ganz neu. In Kurt Vonneguts Buch „Blaubart“ geht es darum, daß junge Leute mit so wenigen Informationen wie möglich durchs Leben kommen wollen. „Sie wissen nichts über den Vietnamkrieg oder die Kaiserin Josephine, und was ein Gorgo ist, wissen sie auch nicht“, beschwert sich die Hauptperson des Romans, Rabo Karabekian. Mrs. Berman, Gesprächspartnerin in dieser Szene, nimmt die jungen Leute in Schutz: Um wegen des Vietnamkriegs etwas zu unternehmen, sei es zu spät, um sich über Eitelkeit und die Macht der Sexualität zu informieren, gebe es interessantere Methoden, als eine Frau zu studieren, die in einem anderen Land vor einhundertfünfundsiebzig Jahren gelebt habe. „Und über eine Gorgo“, sagte sie, „braucht man bloß eins zu wissen: daß es so etwas nicht gibt.“ Und als nun der andere Gesprächspartner, Mr. Slazinger, mit Santayana argumentiert: „Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern will, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, kontert Mrs. Berman. „Ist das wahr?“ fragt sie. „Nun – ich habe Neuigkeiten für Mr. Santayana: Wir sind auf jeden Fall dazu verdammt, die Vergangenheit zu wiederholen. Wenn man lebt, ist das gar nicht vermeidbar. Die Kinder, die das mit zehn noch nicht begriffen haben, sind ziemlich blöde“.

„Santayana war ein berühmter Philosoph in Harvard“, sagt Slazinger, der selbst ein Harvard-Mann ist. Und Mrs. Berman sagt: „Die meisten jungen Leute können es sich nicht leisten, nach Harvard zu gehen, um sich desinformieren zu lassen.“

Ich ahne schon, daß Mrs. Bermans Erwiderung keine Chance hat, noch mit auf das Denkmal zu kommen.

Obwohl, Platz für Ergänzungen wäre da.