13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Folgenreiches Tui-Wesen

von Erhard Crome

Im Teehaus der Tuis fragt die „Üppige Kundin“ den Tui, was er denn für eine kleine Formulierung bei einem Seitensprung verlange. Er nennt eine Summe, doch ein anderer wendet ein, daß sich in diesen Zeiten die kleinen Leute bald überhaupt keine Meinung mehr leisten könnten. So wird die Gestalt des „Tui“ in Brechts berühmtem Stück „Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher“ eingeführt. Der Tui ist der Intellektuelle, der gegen Bezahlung seinen Verstand vermietet. Er ist jederzeit bereit, Sätze zu beweisen wie „Der Regen fließt von unten nach oben“. Bei ihm wird das Wissen zur Ware. Wer bezahlt, bekommt die Antwort, die er bestellt hat.

Die Tui-Gestalt benutzte der Literatur- und Theaterwissenschaftler Werner Mittenzwei in dem Epilog-Kapitel seines vor etlichen Jahren erschienenen Buches „Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000“. Sie erschien nun in zweierlei Ausführung, im „Tui-Spiel“ des Aufeinandertreffens von Intellektuellen aus West und Ost: der Ost-Intellektuelle, der die Meinung mit der Währung wechselte wie den Paß, und der West-Intellektuelle, der als Agent der gemachten Politik funktionierte, auch wenn er sich autobiographisch vorlog, er sei ein „Linker“.

Wenn jetzt presseauf, fernsehab allenthalben von zwanzig Jahren Wende und deutscher Vereinigung die Rede ist, so erinnere ich mich dieser Leute, der einen sowieso, der anderen auch. Da war etwa die westdeutsche Politik-Professorin, die sich als „68erin“ verstand, dem Politologenverein vorstand und die Aufnahme ostdeutscher Politikwissenschaftler ablehnte; man habe nicht seit Jahrzehnten um die Anerkennung der Politikwissenschaft als „richtiger Wissenschaft“ gekämpft, um sich jetzt durch die ganzen „MLer aus dem Osten“ kompromittieren zu lassen. Dann war da der schöngeistige Philosoph; man beglückwünschte ihn zu seiner Professur in Leipzig, er habe als Linker doch so lange auf eine solche warten müssen. „Und was habt ihr mit den Ostlern gemacht, die da vorher waren? – Die haben wir entlassen; die konnten sowieso nichts.“ Sprach’s und bedankte sich für die Glückwünsche. Und dann noch der damals einflußreiche Platzhirsch, der in der Zunft die Strippen zog und gemäß Auftrag zu begründen bestrebt war, es hätte in der DDR sowieso keine Politikwissenschaft gegeben. Am Ende wurden 85 Prozent der ostdeutschen Sozial- und Geisteswissenschaftler entlassen. Sie sollten nicht mehr richtig bezahlte, berufsmäßige Wissenschaft machen können.

Mittenzwei machte in seinem Buch auf zwei Hintergründe aufmerksam. Zunächst die staatstragende Seite: „Man wollte keine dem Pluralismus eigentlich gemäße fortwährende Debattenkultur mit dem Marxismus. Die im Westen während des Kalten Krieges entstandene Gesinnungsgemeinschaft, deren antikommunistische Prägung nicht zu übersehen ist, sollte erhalten bleiben.“ Wenn es heute wieder einen Aufschwung marxistisch grundierter Gesellschaftskritik in Deutschland gibt, an dem ostdeutsche wie westdeutsche Intellektuelle (nicht „Tuis“) beteiligt sind, so hängt dieser mit der Krisenzeit zusammen, in der nach Antworten auf die entstandene Lage gesucht wird, und mit dem Aufschwung der politischen Linken. Und er ist entgegen den Intentionen der Herrschenden entstanden. Der andere politisch intendierte Hintergrund war (wieder Mittenzwei): „Die Vereinigungsstrategie Helmut Kohls ging davon aus, möglichst große Teile der westdeutschen Bevölkerung an der Aufteilung des DDR-Besitzes und der Auflösung ihrer Institutionen zu beteiligen. Verschiedene Schichten sollten auf ihre Kosten kommen, denn schließlich hatte der Westen für die Einheit auch zu zahlen. Wie den Banken, der Industrie, den Handelsketten galt es, der Intelligenz Vorteile zu sichern.“ Die bestanden in Posten, ordentlichen Professuren und entsprechenden Gehältern, Forschungsmitteln. So wurden die West-Intellektuellen – ungeachtet ihrer selbstgewählten politischen Farbe – zu den Tuis und zu den Agenten der Wende, wie Kohl sie wollte und bezahlen ließ.

Der Blutzoll, den die ostdeutschen Intellektuellen gezahlt haben, bleibt bestehen. Gewiß, entgegen früheren Zeitaltern gilt nach dem kalten Krieg, der genau betrachtet eben auch ein Krieg war: Niemand wurde aufgefressen, niemand in die Sklaverei verkauft oder in Gefängnisse oder Lager gesperrt. Aber die zum Bockwurstverkäufer oder Versicherungsvertreter umgeschult waren, schrieben meist nichts mehr. Der bürgerliche Wissenschafts-Mainstream wurde auf die DDR erstreckt, wie das Währungsgebiet oder der Geltungsbereich der juristischen Ordnung – in der wohlverstandenen Absicht, bestimmte Sichtweisen möglichst zu verunmöglichen. Das wird hier nicht angemerkt, um der „parteilichen“ Wissenschaft der DDR nachzutrauern. Aber die Parteilichkeit wurde nicht abgeschafft, sondern durch eine andere ersetzt.

In der Wissenschaft hat das allerdings auch geistige Folgen; Institutsdirektoren, Professoren und die Schreiber von Lehrtexten beeinflussen natürlich auch das, was junge Menschen, die an Schulen und Universitäten lernen, denken und später ihrerseits im Beruf einbringen. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel, das zeigt, wie sich das auswirkt. Eben kam mir frisch ein wissenschaftliches Werk in die Hand. Eine gedruckte Diplomarbeit, die am Institut für Soziologie der Universität Hamburg eingereicht wurde – Hanna Haag: Erinnerungen ostdeutscher arbeitsloser Frauen an die DDR-Vergangenheit. Bei Diplomarbeit unterstelle ich jetzt, daß es sich um eine junge Autorin handelt, die die Zeit 89/90 nicht selbst bewußt erlebt hat und die DDR als Forschungsobjekt wahrnimmt, wie andere den Bauernkrieg oder das Aztekenreich. Mich interessiert hier nun nicht, wie da was beforscht wurde und ob das methodengerecht durchgeführt wurde.

Mich interessieren die Ausgangspunkte des Denkens, und das gilt jetzt unabhängig vom Studienort. So schreibt die Autorin im Vorwort, die Erinnerung sei von vergangenen Erlebnissen ebenso beeinflußt wie von der gegenwärtigen Lebenssituation. „Fühlten sich die Frauen durch den gesellschaftlichen Umbruch nach 1989 stark verunsichert, neigten sie eher dazu, die DDR zu glorifizieren, um auf diese Weise die entstandene Identitätskrise über die Besinnung auf die Zeit vor der Wende zu bewältigen.“ Damit wird von vornherein, sozusagen forschungsleitend, unterstellt, daß die „richtige“ Erinnerung an die DDR nur eine negative sein kann. Das pejorative Wort „glorifizieren“ meint, ein positiver Bezug auf die DDR könne nur aus nachwendischen Identitätskrisen resultieren, nicht aus einer Bewertung der DDR an und für sich, um ihrer selbst willen. Die Kinder der „Sieger der Geschichte“ haben den Sieg verinnerlicht und stellen ihn nicht mehr in Frage. Die junge Autorin bekundet exemplarisch, daß der Stafettenstab der antikommunistischen Gesinnungsgemeinschaft an den deutschen Universitäten weitergegeben wird.

In diesem Sinne wird dann auch die Ausgangslage der Betrachtung beschrieben: „Als im Herbst 1989 die Berliner Mauer fällt, ist die Euphorie unter den DDR-BürgerInnen groß. Mit Sehnsucht und hohen Erwartungen im Gepäck strömen viele dem verheißungsvollen Westen entgegen. Wochen und Monate des Glückstaumels vergehen, in denen die Menschen das Begrüßungsgeld einlösen, mit ihrem Trabant die offene Grenze überqueren und nach jahrzehntelangem ‚Luftanhalten‘ endlich wieder den Geruch von Freiheit und Selbstbestimmung einatmen.“ Den Text hätte die Dame eigentlich bei Guido Knopp und der Bild-Zeitung für einen Lyrikpreis einreichen können. Tatsächlich war das Begrüßungsgeld schnell alle und reichte kaum für einen zweiten Gaststättenbesuch im Westen. Wie man jahrzehntelang mit angehaltenem Atem gelebt haben soll, bleibt ein biologisches Geheimnis (aber das ist ja kein Gegenstand der Soziologie); nein, wir haben in der DDR gelebt und dabei auch geatmet, Kinder gezeugt und großgezogen – übrigens mehr, als heute –, gelesen, diskutiert, wir haben gefeiert und hatten zuweilen auch was zu lachen.

Den Geruch der Freiheit haben die Ostdeutschen übrigens in den Westen bereits mitgenommen, weil die Freiheit nicht Helmut Kohl gebracht hat, sondern mit der selbstgemachten Revolution errungen wurde. Anfang 1990 stand an einer Hauswand in Berlin: „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die schönste Zeit!“ Die deutsche Vereinigung war eben nicht die Herstellung der Freiheit, sondern deren Einhegung in das Interessenkalkül der in Westdeutschland Herrschenden. Das haben wir heute noch auszulöffeln. Aber die Geschichte bleibt ja nicht stehen. Die nächste Wende kommt bestimmt. Vorher aber müssen die Schablonen der antikommunistischen Geschichtsklitterung überwunden werden.