16. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2013

Noch einmal: Stalin und Geschichte

von Erhard Crome

Es gehört zum Zeitgeist in diesen Zeiten der nicht enden wollenden Krise, sich immer mehr und immer öfter mit Stalin zu befassen. Aus der Sicht der Herrschenden wird er der Idee des Sozialismus unentrinnbar eingeschrieben, nicht Stalins wegen, sondern um jegliche sozialistische Idee zu verunmöglichen: „Wollt ihr, dass all die Verbrechen wiederholt werden?“ Viele Sozialisten und Kommunisten unserer Tage wollen dem ausweichen, indem sie den Stalinismus als Perversion des Leninismus oder bereits diesen als Perversion des Marxismus oder gar jenen als schon im 19. Jahrhundert unter Zutun von Friedrich Engels hergestellte Parteiideologie interpretieren, die von Karl Marx‘ ursprünglichen Ideen wegführte. Oder, dies die neuestens vom bürgerlichen Mainstream herausgegebene Variante, der sich sozialistischerseits kommod folgen lässt, als Individualpathologie des üblen Diktators. Das erklärt in Bezug auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge nichts, aber lässt sich wohlfeil verbreiten – so weit war die Hitler-Forschung vor zwanzig Jahren auch schon, nur wurde dort davon bald wieder Abstand genommen, weil es gesellschaftsgeschichtlich mehr verschleierte als erklärte.
Slovoj Zizek (in: Die bösen Geister des himmlischen Bereichs, 2011) nennt dies „eine der tückischsten Fallen, in die man als marxistischer Theoretiker tappen kann“, wenn man versucht, „den genauen Zeitpunkt des ‚Sündenfalls‘ zu bestimmen“. Alle diese Versionen sollten abgelehnt werden, weil sie „auf demselben linear-historischen Zeitbegriff beruhen“. Tatsächlich kreieren die historischen Gestalten, so Zizek, ihre eigenen Vorläufer. Lenin bezieht sich auf Marx, um seine eigene Position aus einer großen geistigen und politischen Bewegung herzuleiten, auch wenn seine Ideologie und Politik am Ende nur noch ansatzweise mit dem ursprünglichen Konzept von Marx zu tun hatte. Und Stalin bezieht sich auf Lenin, um seine Machtposition in der Partei und damit im Lande als Realisation von dessen Streben zu begründen. Insofern sind nicht Marx und Lenin verantwortlich dafür, was Stalin tat, sondern dieser dafür, wie er beide zu seinen Vorläufern machte. Und die sowjetische Spitzennomenklatura, wie sie sich dann auf beide zu beziehen versuchte und zugleich Stalin verurteilte.
Zizek plädiert für eine „Neubetrachtung des Stalinismus“. Im Gefolge der russischen Oktoberrevolution 1917 und des Sieges über die Konterrevolution und im Bürgerkrieg begann sich eine Verbindung von Sowjetmacht und künstlerischer sowie wissenschaftlicher Moderne herauszubilden. Nicht nur die Schaffung eines „neuen Menschen“, sondern einer „verbesserten Version“ des Menschen, auch durch eine enge Verbindung von Mensch und Maschine, sollte Aufgabe des Kommunismus sein. Das wurde „Biokosmismus“ genannt. Stalins „große Wende“ bis Mitte der 1930er Jahre war die Abkehr weg von derlei Vorstellungen, hin „zur vollständigen Annahme des russischen Erbes“.
Ähnlich interpretiert Wolfgang Leonhard (Anmerkungen zu Stalin, 2009) den Bruch: Trotzkis Vorstellungen von einer „permanenten Revolution“ blieben abstrakt; die Bevölkerung konnte damit nichts anfangen und war nach Jahren des Bürgerkrieges und des Elends zermürbt. Stalins Formel vom „Sozialismus in einem Land“ dagegen präsentierte ein politisches Programm: Verabschiedung von der Idee der Weltrevolution und vom revolutionären Internationalismus und Orientierung auf die Industrialisierung des Landes. „Stalins neue Doktrin vom ‚Sozialismus in einem Land‘ stand zwar im diametralen Gegensatz zum Leninismus, entsprach jedoch völlig dem regional und national begrenzten Denken der praktisch tätigen Parteifunktionäre, auf die sich Stalin stützte. Sie hatten jetzt eine Aufgabe: den Aufbau des Sozialismus. Es war der erste bedeutsame Schritt des Übergangs von einer Revolutionslehre zu einer Doktrin der Industrialisierung.“ Hinzu kam: Für die alten oder anderen bolschewistischen Kader war Ideologie Wissenschaft, die auf festen Grundsätzen beruhte und aus deren theoretischen Schlussfolgerungen sich Aufgaben für die Politik ergaben, während für Stalin Ideologie stets „Mittel zum Zweck“ war. „Und dieser Zweck bestand im Ausbau der eigenen Macht.“
Der ungarischstämmige US-Historiker John Lukács, der als bekennender Konservativer nicht verdächtig ist, sich an linken oder sozialistischen Debatten zu beteiligen, sieht das ähnlich. Er schreibt (Die Geschichte geht weiter, 1992): „Im Unterschied zu Lenin, der ein Revolutionär, aber kein Staatsmann war, war Stalin ein Staatsmann und kein Revolutionär.“ Er konstatiert eine überkommene Nichtabstimmung von Innen- und Außenpolitik in der Geschichte Russlands, die sich unter Stalin fortsetzte. „Kaum ein Staatsmann des zwanzigsten Jahrhunderts hat den internationalen Kommunismus so verachtet wie Stalin. Sein Regime bietet ein letztes Beispiel für die merkwürdige Nichtabstimmung und die Differenzen zwischen der russischen Außen- und Innenpolitik. Wegen der wachsenden Macht und Gefährlichkeit des Dritten Reiches schloss Stalins Russland 1935 einen Bündnisvertrag mit Frankreich (und der Tschechoslowakei) – gleichzeitig beschloss die Kommunistische Internationale die sogenannte Volksfrontpolitik, die ein Bündnis aller ‚antifaschistischen‛ Kräfte forderte. Aber das war für Stalin alles Außenpolitik. Innerhalb der Sowjetunion begannen seine Säuberungen. Deren entsetzliche Tatsachen wurden auf erbärmliche und unehrliche Weise nicht nur von Prokommunisten, sondern auch von allen möglichen sonstigen Leuten in der westlichen Welt ignoriert. Das ist mittlerweile weithin bekannt. Was bis heute missverstanden wird…, ist der eigentliche Zweck, den Stalin mit den Säuberungen verfolgte. Die meisten Kommentatoren und Historiker haben sie als Äußerungen der Paranoia eines Diktators gedeutet. Daran ist etwas Wahres. Was aber mit den Säuberungen tatsächlich erreicht wurde, war die Ersetzung einer älteren kommunistischen Partei- (und Militär-)Bürokratie durch eine neuerer Staatsbürokratie, die einen gemeinsamen Nenner hatte: ihre völlige Abhängigkeit von Stalin und seinem Staat.“
Vergleichend verweist Lukács darauf, dass die folgenreichsten nationalistischen Führer der vergangenen zwei Jahrhunderte aus den Randgebieten der imperial ausgreifenden Nationen kamen: Napoleon von Korsika, Hitler aus Österreich und Stalin aus Georgien. Stalins Außenpolitik „erinnerte an die der Zaren“. Sein größtes Ziel war, „die Größe Russlands und seines von den Zaren geschaffenen Reiches wiederherzustellen, die Lenin verspielt hatte und die marxistischer Dogmatismus nur gefährden konnte“.
Insofern ist die Tatsache, dass im Ergebnis einer 2008 vom russischen staatlichen Fernsehsender „Rossija“ veranstalteten Umfrage als bedeutendste historische Persönlichkeit Russlands Stalin erwählt wurde, nicht ein Bezug Putins oder der heutigen Staatsbürokratie auf den Stalinismus, sondern auf Stalin als historischer Herrscher. Oder noch einmal mit den Worten von Leonhard: „So wird Stalin, der Unbesiegte, der Erbauer eines starken Russlands, der Begründer der russischen Weltmacht, zur Verkörperung all dessen, wonach die russische Gesellschaft dieser Tage sich sehnt.“ Es ist gewissermaßen Ausdruck eines post-imperialen Phantomschmerzes, der nicht nur einen Teil der heutigen politischen Klasse, sondern auch der „einfachen“ Russen beschäftigt.
Einer Anekdote zufolge hat der langjährige chinesische Ministerpräsident Zhou Enlai auf die Frage, was er von der Französischen Revolution (1789ff.) halte, geantwortet: „Es ist noch zu früh, das zu sagen.“ Warum sollte in Sachen Sowjetunion und Stalin bereits ein letztes Wort gesprochen sein?