von Erhard Crome
Das Gesprächsbuch von Antonio Negri „Goodbye Mr. Socialism“ (siehe Das Blättchen Nr. 25) enthält auch interessante Passagen zu China, die gerade jetzt, da ernsthafte Analytiker wie böswillige Kaffeesatzleser versuchen, den jüngsten, 18. Parteitag der KP Chinas zu deuten, zu Überlegungen anregen.
Zunächst geht Negri davon aus, dass es eine „ungeheuerliche Aufgabe“ ist, den Sozialismus aufzubauen. Das habe für Russland gegolten und stellet sich auch in Bezug auf China. Auf die Feststellung von Scelsi, dass nach dem Ende der Kulturrevolution und dem Tode Mao Zedongs (1976) „letztlich eine kapitalistische Entwicklung des Landes unter Führung einer nominell kommunistischen Partei“ eingeleitet wurde, entgegnet Negri, dass in dem, was damals passierte, ein Moment der Stärke lag. „Diese Verrückten beharrten darauf, dass eine andere Welt möglich sei! Den Beweis sollte die fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation liefern. Darum ging es letztlich in der Kulturrevolution: von vorne anzufangen und einen anderen Weg in die Moderne und in den Wohlstand zu suchen. Es war eine wahnsinnige Erfahrung, doch lag darin gleichzeitig eine wichtige Einsicht, dass nämlich eine andere Entwicklung möglich und der Kapitalismus (an sich grauenhaft) nicht notwendig wäre. Es war, mit anderen Worten, die Behauptung einer anderen Moderne.“
Im Hintergrund sieht Negri die sowjetische Erfahrung: „Der Stalinismus verherrlichte ab einem bestimmten Zeitpunkt, unter dem Zwang des Krieges oder aufgrund der Schwierigkeiten, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, den entwickelten Kapitalismus. Das gilt es zu sehen, wenn man verstehen will, wie und warum Mao eine revolutionäre Maschinerie in Gang setzte: Die Kulturrevolution war alles andere als eine willkürliche Bewegung, sie vernichtete Eliten, verwüstete Museen und Universitäten mit einer uns unvorstellbaren Gewalttätigkeit, und das alles auf Grund der theoretischen Annahme, dass eine andere Moderne möglich sei, eine andere Moderne, die Mao aus einer anderen ursprünglichen Akkumulation erwachsen sah.“
Nach dem Tode Maos und dem Sturz der „Viererbande“ dauerte die Debatte in China darüber, ob eine andere Moderne möglich sei, welcher Moderne man sich öffnen wolle, bis 1989 an, dem Jahr des Endes des Realsozialismus im Osten Europas. Im Jahre „1989 schließlich kam die Kommunistische Partei Chinas zu dem Schluss, eine andere Moderne sei nicht möglich und die einzige mögliche Moderne sei die kapitalistische“. Dort hätten die Reformen Deng Xiaopings ihren Ausgangspunkt.
China stelle schon an sich in seiner Einheit „eine enorme Macht“ dar. Deshalb sei die westliche Propaganda gegen China stark und zugleich widersprüchlich: „Das Übertreiben der wirtschaftlichen Erfolge ist gepaart mit Angriffen auf die chinesische KP, auf ihre ideologische Orientierung und ihre bürokratischen Strukturen“. Negri dagegen fordert, die KP Chinas ernst zu nehmen. „Es gelingt ihr, relativ transparente zentrale Debatten zu entwickeln, dank derer sie wiederum in der Lage ist, die Themen im ganzen Land zu diskutieren.“ Zugleich sei es ihr gelungen, Kontinuität unter Beweis zu stellen. Hier kann man, im Sinne Negris, sowohl die Politik Dengs einordnen, Mao als Gründer der Volksrepublik trotz aller Fehler weiter zu verehren, als auch die geordnete Machtübergabe von Deng an die folgenden Führungen von Partei, Staat und Regierung – wie sie mit dem 18. Parteitag von Hu Jintao zu Xi Jinping gerade wieder erfolgt ist.
Zugleich bildet sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas eine veränderte Situation heraus. Das betrifft die soziale Spaltung zwischen den Gewinnern der Modernisierung und den Zurückgebliebenen wie auch die Frage nach dem Verhältnis von Modernisierung und der Entwicklung der Freiheit. Negri nennt dies eine in vielerlei Hinsicht revolutionäre Situation, die der im Westen von 1968 ähnele. Es werde früher oder später notwendig werden, „den Reichtum neu zu verteilen“. Damit stehe die Partei vor der Notwendigkeit, einen neuen gesellschaftlichen Konsens herzustellen und innere Spannungen durch Neuzusammensetzung auszugleichen. Hier werde die Partei „das Thema der Befriedigung proletarischer Bedürfnisse erneut in den Mittelpunkt der Diskussion stellen“ und sich bemühen, „für die revolutionäre Transformation des Eigentumsregimes den Konsens der ländlichen Massen wiederzuerlangen“.
Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft seit 2008 schafft Bedingungen, die Negris Auffassung nach „der Kapitalismus selbst nicht mehr steuern kann“. Vor diesem Hintergrund prognostiziert er für China, der mit der Krise verbundene Bruch eröffne „die Möglichkeit der Umverteilung des akkumulierten Reichtums innerhalb des Landes. Wahrscheinlich mit einer Verzögerung, doch mit der Effizienz einer Planwirtschaft wird die Partei innerhalb der chinesischen governance allen Problemen der politischen Ökonomie der kapitalistischen Gesellschaften des Westens begegnen. Das Nachfragewachstum und insbesondere das der Inlandsnachfrage werden allerdings nicht zu einer nationalen Abschottung führen, noch zu Autarkie, und am wenigsten zu einer chinesischen Renaissance des Neoliberalismus“.
Also doch ein „dritter Weg“? Die chinesische Entwicklung bleibt spannend. Und sie beeinflusst die ganze Welt. Ob es eine gesellschaftliche oder nur eine geopolitische Alternative zu fünfhundert Jahren Vorherrschaft des Westens sein wird, scheint noch nicht ausgemacht.
Schlagwörter: Antonio Negri, China, Dritter Weg, Erhard Crome, Kapitalismus, Sozialismus