15. Jahrgang | Nummer 26 | 24. Dezember 2012

Bemerkungen

Medien-Mosaik

Im alten Jahrtausend war Andreas Prüstel im Eulenspiegel und anderswo ein genialer Collagist in der Tradition von John Heartfield. Weil man sich ja auch mal verändern soll, arbeitet Prüstel im neuen Jahrtausend mit ebenso genialen Einfällen als Karikaturist. Neben Politikern (Angela Merkel als „uckermärkische Watschelente“ oder „Büttel des Großkapitals“) drischt er auch gern auf Mediengrößen ein. Der TV-Geräte-Verkäufer zum Kunden: „Dieses Gerät verfügt zusätzlich über eine automatische Veronica Ferres- und Christine Neubauer-Abschaltfunktion!“ Bei Prüstel mutiert Facebook zu „Gesichtsbuch“. Die Salami, die der Chef selbst geschnitten hat, ist der „Director´s Cut“. Prüstel legt den Finger zielgenau auf viele Fragen der Gegenwart und hat ein Herz, das eindeutig links schlägt. Zu einem biederen Bürger, der eine rote Nelke trägt, sagt ein Polizist: „Sie sehen mir aber schwer nach Randale aus.“ Das kennt man ja. Diese und viele andere witzige Zeichnungen kann man in Prüstels jüngstem Buch entdecken, und alles voll farbig!
(Andreas Prüstel, Normaler Schwachsinn, Schaltzeit-Verlag, Berlin 2012, 162 Seiten, 14,90 Euro)

Er stand mit dem Hootenanny-Club am Beginn der FDJ-Singebewegung, spielte mit Gisela May Drama im Fernsehen, sang Operette mit Ingeborg Nass und spielte DEFA-Krimi mit Irmgard Düren. Reiner Schöne aus Weimar gehörte mit seiner Gitarre zu den Protagonisten in Karl Gass´ Film „Bei uns im Mai“. Dann stahl er sich davon, weil ihm die DDR in vielerlei Hinsicht zu eng war. In der Bundesrepublik wurde er Musical-Star und in Hollywood gehörte er zwei Jahrzehnte lang zum gehobenen Mittelfeld. Aber die Flucht aus der DDR hatte in Schöne ein Trauma ausgelöst, das er erst zehn Jahre nach Mauerfall überwand. Darüber hat er das Lied „Long Distance Lover“ geschrieben, das er auf seiner neuen DVD singt. In „Mitten ins Herz“ hat er bis auf eine Ausnahme alle Lieder selbst geschrieben, vieles ist dem Country-Stil verwandt und begleitet von der Reiner Schöne Band, mit der so bekannte Jazzer wie Ulrich Gumpert und Ernst Ludwig Petrowsky musizieren. Schöne erzählt von Hippies und der Route 66 (einer der wenigen englischen Titel), vom Glück, ein reifer Vater zu sein, und auch sein erfolgreichster Titel, den ihm Konstantin Wecker schrieb, ist dabei: „Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin“.
(Reiner Schöne, Mitten ins Herz, 12 Titel, hypertension music, 19,95 Euro)

Der Weihnachtsmonat weckt in den meisten Menschen besondere Gefühle. Man denkt an die Verwandten und die Vergangenheit, bastelt oder kauft Geschenke, hat Wünsche, und so mancher empfindet augenblickliche Einsamkeit besonders stark. Heute kann man in solchen Momenten telefonieren oder smsen – früher wurden Briefe geschrieben, die den Vorteil haben, dass man sie aufheben kann. Petra Müller und Rainer Wieland haben sie wiedergefunden und weihnachtliche Briefe von Schriftstellern, Schauspielern, Polit-Aktivisten und anderen Menschen der Zeitgeschichte zusammengetragen. Einer der ältesten stammt von Goethes Mutter, von der sich Goethe für den Enkel August ein Modespielzeug wünschte; kurz nach 1789 war das – eine Guillotine! „Eine solche infame Mordmaschine zu kaufen – das thue ich um keinen preiß“, schrieb Frau Aja 1793. „Die Jugendt mit so etwas abscheuliches spielen zu laßen – ihnen Mord und Blutvergießen als einen Zeitvertreib in die Hände geben – nein da wird nichts draus.“ Aus diesem Brief wird in einem kenntnisreichen Anhang zitiert, den die Herausgeber jedem Brief beigegeben haben, um die Briefzeilen in Leben und Werk der Schreiber einzuordnen. „In meinem Weihnachtsstrumpf dein Herz“ heißt der Band nach einer Zeile aus einem weihnachtlichen Liebesbrief, den Jean Cocteau an den jungen Jean Marais schrieb. Gleich- wie gegengeschlechtlich Liebende kommen zu Wort, Briefe an Verwandte oder an Freunde werden wiedergegeben. Dabei kann man manche Entdeckung machen, aber auch Vertrautes finden, wie den Brief, den Tucholsky an Mary Gerold zu Weihnachten 1922 schrieb, oder Rosa Luxemburgs Brief an Sophie Liebknecht von 1917: „Es ist mein drittes Weihnachtsfest im Kittchen, aber nehmen Sie es ja nicht tragisch!“ Und das schöne ist – diese Briefe sind so gehaltvoll, dass man sie auch noch zu Ostern oder Pfingsten lesen kann!
(Petra Müller / Rainer Wieland – Hrsg.: In meinem Weihnachtsstrumpf dein Herz, Piper Verlag, München u. Zürich 2012, 265 Seiten, 9,99 Euro)

bebe

 

Gides Prophetie

„Ich weiß wohl, und man bestätigt es mir, daß gerade auch unter den liebenswürdigeren Charakterzügen der Russen viele, wie die spontane Herzlichkeit oder jene unbedachte Großmut, die sogleich meine Zuneigung für sich einnahm, andererseits aber auch die offensichtlichen Charakterschwächen, die so manchen Erfolg vereiteln, ihrem halborientalischen Temperament zuzuschreiben sind und durchaus nicht auf das Konto des neuen Regimes gehen; und daß ich beidem, Fehlern und Vorzügen, in ganz ähnlicher Mischung zur Zarenzeit begegnet wäre. Ich bin aus diesem Grunde überzeugt, daß es ein großer Irrtum wäre, allein von veränderten, neuen sozialen Verhältnissen eine bis in den Grund hinabreichende Wandlung der Menschennatur zu erwarten und zu erhoffen. Man verstehe mich recht: Die innere Wandlung des Menschen ist wichtig, die sozialen Veränderungen sind gerechtfertigt, sofern sie dieses innere Geschehen ermöglichen; das ist schon viel: Aber niemals werden sie die Wandlung von sich aus bewirken können. Die mechanische Naturgesetzlichkeit ist hier außer Kraft. Wenn sich nicht jeder Mensch in seinem Innern wandelt, werden wir erleben, daß sich die bürgerliche Gesellschaft von neuem etabliert; der ,Alte Adam’ wird auferstehen und sich reich entfalten.“

Aus André Gide: „Retuschen zu meinem Rußlandbuch“, 1937.

 

WeltTrends aktuell

Die internationale Ordnung ist im Umbruch. Aufstrebende Großmächte wie China, Brasilien und Russland fordern die US-amerikanische Dominanz in der Welt heraus. Werden die neuen Gestaltungsansprüche zu einer gerechteren Weltpolitik führen – oder zu einer „neuen Welt­unordnung“? WeltTrends setzt den Meinungs­austausch über Ordnungen und Unordnungen in der Welt des 21. Jahrhundert im aktuellen Heft fort (siehe auch die Anotation zur vorangegangenen Ausgabe in Blättchen 20/2012).
Im Forum diskutiert WeltTrends den aktuellen Bürgerkrieg in Syrien. Wie lässt sich der drohende regionale Flächenbrand vermeiden und welche Alternativen gibt es für Syrien nach einem Regimewechsel? Weitere Themen des Heftes: Deutschlands Rohstoffpartner; Frankreichs Afrikapolitik; das gespaltene Verhältnis zwischen Island und der EU.

WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 87 – November / Dezember 2012 (Schwerpunktthema: Weltordnung 21), Potsdam / Poznan, 9,50 Euro (für Bezieher des Newsletters: 6,- Euro) plus Porto. Weitere Informationen im Internet: www.welttrends.de

 

Abgehört

Eine australische Innenarchitektin macht aus ihrem Faible für Musik in ihrer neuen Wahlheimat Berlin einen Fulltime-Job. Diese komprimierte Biographie sagt natürlich noch nichts über die Musik der 33-jährigen Kat Frankie aus.
Mit ihrem androgynen Habitus, den sie speziell bei Konzerten pflegt, wirkt sie wie eine männliche Schwester von Annie Lennox oder PJ Harvey. Dabei stehen emotionale Empfindlichkeiten im Zentrum ihrer Texte. „Frauen verlassen“ (ein deutscher Titel) handelt von der Trennung eines Paares und auf welche Seite sich die gemeinsamen Freunde stellen. Ganz in Deutsch ist der Titel „Der Ertrag“, inspiriert von Arthur Conan Doyles „Der Hund von Baskerville“, gehalten, wenngleich er für deutsche Ohren etwas befremdelnd klingt… Aber vielleicht ist dies ja bewusst bezweckt? Denn die Stimme steht bei Kat Frankie eindeutig im Vordergrund, verschiedene Phrasierungen und Tempi zeigen ihre Wandlungsfähigkeiten. Und auch mit technischer Hilfe wird ihre Stimme bewusst verfremdet. So changiert diese dritte CD-Veröffentlichung zwischen hymnischen Gospelchören und beim ersten Anhören eher verstörenden Stimmaufnahmen. „Requiem for a Queen“ wurde in einem langen Korridor aufgenommen, das Mikrofon stand dabei 10 Meter von der Künstlerin entfernt, so dass der Gesang wie aus weiter Ferne wirkt.
So wie sich die Stimme wandelt, nimmt die Künstlerin auch unterschiedliche Rollen an und auf. In dem Lied „Ophelia“ zum Beispiel gibt sie die Perspektive von deren Bruder Laertes wider. Kat Frankie scheint mit Haut und Haaren (oder mit Zunge und Ohren?) von ihrer künstlerischen Mission beseelt, ja besessen. Insofern behauptet sie folgerichtig: „Ich möchte, dass meine Platten so klingen wie in meinem Kopf. Und das kann niemand übernehmen, das kann ich nur alleine.“ Es lohnt durchaus, sich die hörbaren Resultate dieses stimmlichen Balancierens zu Gemüte zu führen.

Thomas Rüger

Kat Frankie: Please don’t give me what I want, Zellephan Records, ca. 15 Euro

 

Denn wovon lebt der Mensch?

Was ist bloß los im Land der Dichter und Denker, in unserem auf pure Betriebswirtschaftlichkeit grausam reduzierten Standort, vormals als „Deutschland“ hymnisch besungen. Diese Frage stellt sich ja fast jedem immer, wieder fast jeden Tag, und wer diese Fragen nicht mehr stellt, ist meistens schon mittendrin im Schlamassel. Mein Herr Sohn, der in der Loge jetzt die Finanzen in Ordnung bringen soll, weil irgendjemand mit irgendwem und kurz und gut, und der Zinsverlust kommt noch dazu, also sage ich zu ihm: „Es fehlt Euch Geld.“ „Nein, nein“, sagt er, „es ist nichts, aber irgendwie stimmen die Zahlen nicht zusammen.“ Da wäre mir doch beinahe der Hase in der Pfanne abgebrannt. Ich brate nämlich jetzt immer vor, um die billigerer Energiestunden am Vormittag auszunutzen. Schließlich muss ich die paar Rentenpfennige zusammenhalten. Mehr wird’s nicht geben. Die Familie lacht darüber und nennt das Vorratsbratenspeicherung. Aber die Füße unter den Tisch stecken und sich bedienen lassen, dazu werden sie nie zu alt, diese Satansbraten. Dabei könnten die jungen Damen und Herren von  mir noch allerhand lernen, wenn sie nur wollten. Während der Reise zu Tante Adelheid in die Schweiz studierte ich Fachliteratur: „Die EGO AG – Überleben in der Betrüger-Wirtschaft“ von dem 1941 geborenen namhaften Wirtschaftspublizisten Günter Ogger. Seine Manager-Kritik in Buchform „Nieten in Nadelstreifen“ wurde eines der erfolgreichsten Sachbücher der Nachkriegsgesellschaft. Auch die nachfolgenden Titel wie „Das Kartell der Kassierer“, „König Kunde – angeschmiert und abserviert“ und „Absahnen und abhauen“ eroberten die Bestseller-Listen. In seinem neuen Buch beschreibt Ogger das System der herrschenden Ellenbogengesellschaft als Ergebnis des an Härte und Brutalität immer mehr zunehmenden Verteilungskampfes, bei dem Politiker sich die Taschen füllen, aber keine Probleme lösen, und Unternehmer und Manager Tausende in die Arbeitslosigkeit entlassen, wofür sie Millionen kassieren. Dabei – das führt Ogger anhand zahlreicher sauber recherchierter Einzelfälle penibel aus – handelt es sich nicht mehr um Einzelfälle, sondern um die Normalität der herrschenden Betrüger-Ökonomie, in der jeder versucht, jeden hereinzulegen. Ogger schildert die ganze Palette der Tricks der derzeitigen Betrügerwirtschaft: „Denn in dieser gar nicht mehr schönen Wirtschaftswelt hat der ehrliche Mitspieler schlechte Karten. Ob als Angestellter oder als Verbraucher, als Patient, Häuslebauer oder Geldanleger – stets läuft man Gefahr, ausgenutzt, übervorteilt und betrogen zu werden. Wer die Beute hat, ist Sieger im freien Spiel der Kräfte.“ Den Rest erledigen die Anwälte. Zum Abschluss erzähle ich Ihnen noch den offiziellen Witz zur Lage der Nation: Bei den Einnahmen aller Kleinverdiener werden nächstes Jahr zwei Nullen vor dem Komma gestrichen, die bei den Ausgaben wieder hinzugefügt werden. Dieses Verfahren ist als “Null ouvert” oder “doppelte Null-Lösung” – siehe auch: Nato-Doppelbeschluss – bereits bekannt. Und der Euro wird in “Fiasko” umbenannt. Ein Fiasko hat 100 Debakel. Gritzdiwohl!

Tante Else

 

Kurze Notiz zu Zerbst

Das kleine Zerbst im ostelbischen Teil Sachsen-Anhalts ist ganz sicher und ohne jeden Zweifel eine der schönsten Städte des alten Anhalts. Zwar erlosch die Zerbster Linie der Askanier als erste der vier anhaltinischen und lange vor denen von Bernburg und Köthen; zwar sind die wesentlichen geschichtsträchtigen Orte, allen voran das Residenzschloss der alten Fürsten, im Weltkrieg zerbombt worden und verbrannt – doch atmet die Stadt noch immer altehrwürdige Tradition. Nicht nur ein Spaziergang um den Schlossteich verzaubert und lässt romantische Wallungen aufkommen, auch die ruinierte Nikolaikirche und allein schon ein Gang durch die aufpolierte Innenstadt machen den Besucher beschwingt lustwandeln, kleine Entdeckungen wie die hutzlige Bartholomäus-Kirche inbegriffen. Allgegenwärtig hierbei ist natürlich Katharina II., die, wenn auch in Stettin geboren, aus der genetischen Konkursmasse der hiesigen Dynastie hervorging und als einzige Frau der Weltgeschichte den Beinamen „die Große“ trägt. Doch natürlich schwelgt Zerbst nicht ausschließlich im Gestern. Das Franziskanerkloster beherbergt das älteste Gymnasium im Land, das Augustinerkloster ein Altenheim: Die modern times haben Zerbst in einen beachtlichen Industriestandort verwandelt, wobei unter allen übrigen örtlichen Erzeugnissen die Zerbster Wurst besonders hervorsticht. Die kleine Stadt gewinnt also im neuen Jahrtausend wieder an Größe, auch im geografischen Sinn. Dank zahlreicher Eingemeindungen ist Zerbst mit einer Fläche von 467 Quadratkilometern größer als Magdeburg und Frankfurt am Main zusammen. Die knapp 23.000 Einwohner relativieren die durchschnittliche Bevölkerungsdichte allerdings auf eritreische Verhältnisse. Zuletzt ist Zerbst also wieder von überschaubarer Größe. Und jederzeit einen Besuch wert.

Thomas Zimmermann

Landarbeiter in Teilzeit

Der 42-jährige Christoph Braun ist Musikjournalist und -blogger. Diesen Beruf hat er zehn Jahre in Berlin unter anderem für diverse Zeitungen und Magazine ausgeübt. 2005 zog er mit seiner Familie in die niedersächsische Provinz. Dank Internet braucht es nicht die räumliche Anbindung, um in diesem Metier tätig und mit der hippen Hauptstadt verbunden zu sein. „Nicht mehr die Stadt“, so Braun, „sondern das Internet ist jetzt unverzichtbar für dieses Pop Life.“
Seither schreibt der 1970 im Saarland geborene Beute-Berliner seine Texte und Kommentare zur Popmusik nicht mehr in Kreuzberg, sondern auf dem flachen Wolfenbütteler Land. Die Wahl, aufs Dorf zu ziehen war bei Braun verbunden mit der Entscheidung, daselbst auch landwirtschaftlich tätig sein zu wollen. Und so wurde der Kulturjournalist mit seinem Umzug „Landarbeiter in Teilzeit“ in einem kleinen Ort am Höhenzug Elm. Nach gut sieben Jahren Landluft hat er seine Erfahrungen mit der Landlust – die anders ist als jene, die die gleichnamige populäre Zeitschrift suggeriert – nun in einem Buch beschrieben.
Dessen Titel ist deutsch, nicht englisch auszusprechen. Es geht also nicht um das Eindringen in fremde Computersysteme, sondern um das Bearbeiten von Ackerflächen. Hacken zählte zu den ersten Arbeiten, die er probierte: „In dem Moment, da Bianca mir die Pendelhacke überreicht, nützt mir weder meine Popsozialisation etwas, noch der technologische Fortschritt.“
Obwohl Braun gesunde Ernährung wichtig ist und auch das gute Gefühl, mit eigener Hände Arbeit dazu einen Beitrag zu leisten, will er nicht als schnöder Großstadt-Ächter missverstanden werden: „Meine Bewegung hin zum Land hat nichts zu tun mit einer Zivilisationsverdrossenheit oder gar einem Aussteigen“, sondern mit dem Wunsch, kein Berlin-Zombie zu werden. Die digitale Gegenwart macht es möglich, hier und dort zugleich zu sein. Und so lautet das zufriedene Fazit: „Im Netz bin ich zuhause – und in Evessen.“ „Hacken“ ist ein Erlebnisbericht und eine Handreichung für all jene urban Ermüdeten, die einen ähnlichen Schritt wagen wollen.

Kai Agthe

Christoph Braun: Hacken – Leben auf dem Land und in der digitalen Gegenwelt, Tropen/Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 138 Seiten, 14,95 Euro

 

Steuerehrlichkeit da und dort

Dank der unerschrockenen Aufklärungstätigkeit des Boulevards wissen wir, dass und wie korrupt die Griechen sind – nicht zuletzt, weil sie massenhaft Steuern hinterziehen. Nun mag das ja zutreffen, Grund zu moralischer Überhöhung hierzulande ist dies indes ganz und gar nicht. Folgender Auszug aus einem Dokument der Deutschen Steuer-Gewerkschaft mag die Phantasie darüber beflügeln, welche Steuerehrlichkeit in Deutschland obwaltet – wobei der Vollständigkeit halber hinzuzufügen ist, dass Steuerbetrug auch hierzulande nicht nur bei den Hochvermögenden, sondern im Zweifelsfalle selbst bei Otto Normalverbraucher als Kavaliersdelikt verstanden wird:
„Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft weist seit Jahren gebetsmühlenhaft darauf hin, dass das Volumen der Steuerhinterziehung durch unversteuerte Geldanlagen im Ausland ein Ausmaß angenommen hat, welches die öffentlichen Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen hierzulande massiv belastet.
Das im Ausland angelegte Schwarzgeld deutscher Steuerpflichtiger kann auf wenigstens 300 Mrd. Euro geschätzt werden, allein in der Schweiz dürften zwischen 130 und 150 Mrd. Euro Schwarzgeld deutscher Steuerpflichtiger liegen. Dabei ist all zu oft eine ,gestufte’ Steuerhinterziehung festzustellen: Neben dem unversteuerten Schwarzgeld kommt es in aller Regel auch zu einer Nichtversteuerung der auf Grund des Schwarzgeldes erzielten Zinserträge im Ausland. In diesen Fällen muss regelmäßig von einer Hinterziehung von Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, ggf. Kirchensteuer, Umsatzsteuer, ggf. Gewerbesteuer ausgegangen werden. Auch die Hinterziehung von Erbschaft- und Schenkungsteuer steht in diesem Zusammenhang auf der Tagesordnung.
Dem Fiskus entgehen so jährlich viele Milliarden, die entweder von anderen Steuerzahlern aufgebracht werden müssen, oder aber der Staat muss sich die Fehlbeträge am Kapitalmarkt gegen Zinsen beschaffen.
Die jüngste Steueramnestie Anfang dieses Jahrtausends hat gezeigt, dass der überwiegende Teil der hartgesottenen Steuerhinterzieher diese Brücke in die Steuerehrlichkeit zu gehen nicht gewillt war. Die damals von Minister Eichel erhofften Mehrsteuereingänge blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Auch die Entwicklung nach der Zumwinkel-Affäre hat gezeigt, dass zwar ein Teil der Steuerhinterzieher aus Angst vor einer Strafverfolgung zur Selbstanzeige schritt, ein Großteil jedoch weiterhin pokerte und auf eine Fortsetzung der Illegalität setzte.“

Entnommen der Stellungnahme der Deutschen Steuer-Gewerkschaft zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012.

 

Das Blättchen-Rätsel:
Welche Meldung ist echt?

Hamburg Es klingt kurios: Nach einer Entscheidung Bundespatentgerichts ist der Mittelbuchstabe „M“ von BMW als eigenständige Marke schutzfähig. Beim näheren Hinschauen ist die Entscheidung der Markenwächter aber durchaus nachvollziehbar. Denn zum einen gilt der Schutz nur für den Bereich Sportwagen. Und zum anderen ist es plausibel, dass BMW seine Submarke „M“ vor der Konkurrenz absichern möchte.

Brüssel, Berlin – Mit Eil- und Vorrangmeldungen werden dieser Tage alle bedeutenden Nachrichtenagenturen den Entscheid des Europäischen Gerichtshofes verbreiten, dass der Buchstabe „E“ der lateinischen Schriftsprache für Deutschsprachige rechtlich geschützt ist und nicht als Marke für private Zwecke gebunden werden darf. Diese Entscheidung, so heißt es in dem (dem Blättchen bereits vorliegenden) Urteil, gelte auch und vor allem für die Benutzung besagten Buchstabens in verbalen Verbindungen.
In einem Aid memoire versichert die Regierung der Bundesrepublik, dass sich dieser Rechtsakt gegen kein anderes Volk richte. Sie betont vielmehr ihren großzügigen Verzicht darauf, die Gesamtheit der existenten Buchstaben, Ziffern und Zeichen für sich schützen zu lassen . Vielmehr gehe sie explizit davon aus, allen gutwilligen Staaten bei der weiteren Nutzung des „E“ großzügige Rabatte einzuräumen. Zu den entgegenkommenden Regelungen für das Ausland gehöre die von den zuständigen deutschen Stellen unbürokratisch erteilte Blankovollmacht, das „E“ in den Namen Angela Merkel, Erich und Margot Honecker sowie Guido Westerwelle in eigener Verantwortung kostenlos verwenden zu dürfen.
Hingegen, so heißt es in dem Aid memoire weiter, sei allen Bürgern der Bundesrepublik der schriftsprachliche Gebrauch besagten Buchstabens ohne Vorliegen von Gründen aufwandsfrei gestattet. Für Straftäter und feindlich-negative Personen gilt eine Antragspflicht. Diese sei grundsätzlich gebührenpflichtig, die Verwendung des „E“ im Gestattungsfalle dann jedoch kostenlos.
Für den Fall fremdländischer Versuche, die nunmehr völkerrechtlich verbindliche Regelung zu unterlaufen, werden friedensspendende Blauhelmeinsätze in Erwägung gezogen.

 

Silvester

von Renate Hoffmann

Silvester, Silvester –
der Vorsatz wird fester,
ein anderes Leben
anzustreben:

Freundlich, beweglich,
im Umgang verträglich.
Etwas mehr fasten,
weniger hasten.
Höflich zu jedermann,
Eigennutz hintenan.
Was man schon oft gedacht,
wird man jetzt über Nacht:
ein besseres Wesen,
von manchem sich lösen …

Erster Januar, erster Januar
– alles ist, wie’s vorher war.