15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Manches war doch anders*:
Der Streit der Ideologien – eine persönliche Erinnerung

von Wolfgang Schwarz

In der vorangegangenen Ausgabe des Blättchens wurde das gemeinsame SED-SPD-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ aus Anlass des 25. Jahrestages seiner Veröffentlichung am 27. August 1987 gewürdigt. Verfasser des Beitrages war Rolf Reißig, der seinerzeit seitens der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Gewi-Akademie) zu den Mit-Autoren und maßgeblichen Ideengebern des Dialog-Papiers gehörte.
Die das gesamte Dokument tragende Leitidee bestand darin, den Ost-West-Konflikt – die politische, wirtschaftliche und ideologische Systemauseinandersetzung – durch kontinuierlichen Dialog zwischen beiden Seiten so zu zivilisieren und durch breit gefächerte Zusammenarbeit so einzuhegen, dass der Umschlag in eine militärische Auseinandersetzung unter allen Umständen verhindert werden konnte. Angesichts der damaligen thermonuklearen und anderen Militärpotenziale der Blöcke NATO und Warschauer Vertragsorganisation wurde für den Fall einer solchen Auseinandersetzung mit Fug und Recht eine Gefährdung, wenn nicht Vernichtung der globalen Existenzgrundlagen der menschlichen Zivilisation befürchtet.
Dies war umso mehr der Fall, als seit Anfang der achtziger Jahre im militärstrategischen Denken der USA wieder Vorstellungen vom Sieg im Atomkrieg en vogue waren. Mancher wird sich noch an den programmatischen Aufsatz „Victory is possible“ von Colin S. Gray und Keith Payne in der renommierten Zeitschrift Foreign Policy von 1980 erinnern, der als eine Inkarnation dieser Denkschule galt. In der Sowjetunion waren Veröffentlichungen solcher Art zwar nicht üblich, aber dass führende Militärs durchaus in eine ähnliche Richtung dachten, schien zumindest hin und wieder durch – 1981 äußerte der damalige 1. Stellvertreter des Ministers für Verteidigung der UdSSR, Nikolai Ogarkow: Ein „neuer Weltkrieg würde […] der entscheidende Zusammenstoß der beiden entgegengesetzten Systeme sein. Er würde alle Kontinente der Welt erfassen und von den Koalitionsgruppierungen der Streitkräfte mit den entscheidendsten Zielstellungen unter Einsatz des gesamten Arsenals der Mittel des bewaffneten Kampfes geführt werden.“
Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt als Quintessenz vielseitiger und komplexer Diskussionen, Symposien und Publikationen in West und Ost und – auf unterschiedlichsten Ebenen – auch zwischen Vertretern beider Seiten zu diesen Fragen während der gesamten achtziger Jahre nahm das SED-SPD-Papier einen Kerngedanken des auf den so genannten Palme-Bericht von 1982 und speziell auf Egon Bahr zurückgehenden konzeptionellen Ansatzes der Gemeinsamen Sicherheit auf: „Friede kann heute nicht mehr gegeneinander errüstet sondern nur noch miteinander vereinbart werden. Daher muß gemeinsame und gleiche Sicherheit für alle organisiert werden.“ Eine entscheidende Voraussetzung dafür wurde folgendermaßen formuliert: „Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen.“ Und das Papier schlussfolgerte für den bis dato aus dem Ost-West-Dialog praktisch weitgehend ausgeklammerten Bereich der Ideologien: „Gemeinsame Sicherheit ist nicht zu erreichen, wenn ideologische Gegensätze in Formen ausgetragen werden, die zwischenstaatliche Beziehungen gefährden oder vergiften oder gar Machtkonflikte als unversöhnlichen und unausweichlichen Kampf zwischen Gut und Böse erscheinen lassen.“ Bis dahin hatte in der SED sowie im gesamten sowjetischen Machtbereich und aufseiten der SPD nicht minder das ebenso stereotype wie apodiktische Postulat gelautet: friedliche Koexistenz – zwischen den Systemen, auf staatlicher Ebene: ja; im ideologischen Bereich: nie!1
Wenn Rolf Reißig zur Veröffentlichung des Dialog-Papiers pointiert vermerkt: „Die Überraschung war perfekt.“, so traf das hinsichtlich einer gemeinsamen Erklärung von SED und SPD, deren Novum darin bestand, erstmals ideologische Grundfragen ins Zentrum des Gedankenaustauschs zu stellen, zweifellos zu. Zwar hatte es – zumindest intern am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW), wo ich von 1978 bis 1990 arbeitete, – bereits zuvor Hinweise auf einen intensiven Gesprächsprozess zwischen der Gewi-Akademie und der Grundwertekommission der SPD gegeben, nicht aber auf einen derartigen Paukenschlag. Anschließend „dominierte“, da kann Reißig grundsätzlich zugestimmt werden, „ein Gefühl der Erleichterung und der Hoffnung, […] nun endlich die ideologischen Schützengräben verlassen […] zu können“. Das Papier musste ja, davon konnte bei einer Veröffentlichung des Wortlautes im Neuen Deutschland (Auflage seinerzeit um die 800.000 Exemplare) ausgegangen werden, von SED-Generalsekretär Erich Honecker höchst selbst „abgenickt“ worden sein – was jetzt auch Reißig erneut bestätigte. Da Honecker aber das personifizierte Synonym für die gesamte SED-Führung inklusive Parteiapparat war, wurden damit praktisch wesentliche Inhalte des Neuen Denkens in der DDR quasi verbindlich autorisiert. Das bewirkte unter anderem, dass innerparteiliche Gegner das Neue Denken oder einzelne seiner Kerngedanken nun nicht mehr ohne weiteres ablehnen oder gar als blasphemische Abweichungen vom Klassenstandpunkt disqualifizieren konnten.
In der Sache selbst allerdings – den ideologischen Bereich ausgenommen – waren die deutsch-deutsche Praxis und auch die Politikwissenschaft in der DDR seinerzeit bereits einige Schritte weiter, so dass dem stereotypen Beharren auf ideologischer Feindschaft seitens der SED-Führung auch etwas Anachronistisches anhaftete. Seit Abschluss des Grundlagenvertrages von 1972 waren – zunächst zögerlich, dann aber mit zunehmender Schlagzahl und in einem noch wenige Jahre zuvor völlig undenkbaren Ausmaß – Verträge, Abkommen und Vereinbarungen bis hin zu Kommunalpartnerschaften zustande gekommen. Während DDR-Chefunterhändler Alexander Schalck-Golodkowski mit diversen bundesdeutschen Verantwortungsträgern und später auch direkt im Kanzleramt wirtschaftliche und politische Übereinkünfte mit und ohne offizielle oder inoffizielle Junktims verhandelte, war de facto eine politische Atmosphäre entstanden, die insbesondere ab 1984 von dem Begriff einer „Koalition der Vernunft“ geprägt war. Der Begriff selbst war von Herbert Häber, dem Gründungsdirektor des IPW und nachmaligen Leiter der Westabteilung im ZK der SED sowie Mitglied des Politbüros, geprägt worden und hatte in einem Brief Honeckers an Bundeskanzler Helmut Kohl vom 5. Oktober 1983 das Licht der Welt erblickt. Kohl hat die Formulierung in seiner Antwort aufgegriffen.
Darüber hinaus hatten sich ebenso regelmäßige wie umfangreiche Gesprächskontakte zu führenden bundesdeutschen Politikern, vor allem auch der SPD2, direkt zu Honecker entwickelt. Hans-Jochen Vogel etwa, SPD-Vorsitzender von 1987 bis 1991, war ein häufiger Gast. Zu Herbert Wehner lebte gar das persönliche Verhältnis aus den 30er Jahren wieder auf.
Und der Ansatz der Gemeinsamen Sicherheit war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Dialog-Papiers längst integraler Bestandteil politologischer Überlegungen und Publikationen geworden, die unter dem Oberbegriff Neues Denken insbesondere auch am IPW entwickelt wurden.3
Vor diesem Hintergrund war das Dialog-Papier – bei aller Wertschätzung seines Vorstoßes in diskursives Neuland zwischen Ost und West, nämlich in den ideologischen Bereich, – in bestimmtem Maße zugleich auch ein theoretischer Nachvollzug von voraus geeilten praktisch-politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Und da in der DDR Praxis und Theorie damals in der Funktion und Person des SED-Generalsekretärs zusammenliefen, erklärt das wohl auch die manchen heute noch umtreibende Frage, wieso Honecker auf das Papier seinerzeit quasi über Nacht mit dem bekannten „Einverstanden – E.H.“ reagierte.4 Otto Reinhold als der verantwortliche „Unterhändler“ der Delegation der Gewi-Akademie hatte das Papier bekanntlich am Apparat des Politbüros und an seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Kurt Hager, vorbei per Boten direkt zu Honecker in dessen Urlaubsdomizil auf der Insel Vilm gesandt. In kürzester Zeit lag die Zustimmung vor.
Apropos Otto Reinhold: Wie konnte der ohne weiteres und vor allem ohne negative Konsequenzen den „kurzen Dienstweg“ einschlagen? Das setzte – den sakrosankten Charakter von Hierarchien und Zuständigkeitsbereichen im damaligen SED-Apparat in Rechnung gestellt – eigentlich ein Sonderverhältnis zu Honecker voraus. Ob es ein solches gab oder ob hier doch nur mit dem Mut der Verzweiflung alles auf eine Karte gesetzt wurde, da die Inhalte des Papiers seine Autoren aus der Gewi-Akademie – wie Rolf Reißig am 23. August auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus Anlass des 25. Jahrestages der Veröffentlichung des Dialog-Papiers eine Äußerung Reinholds wiedergab – mit der Alternative konfrontierte, „entweder groß herauszukommen oder unterzugehen“, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Dass Reinhold im persönlichen Auftrag Honeckers aber praktisch parallel zu den Diskussionen zwischen Gewi-Akademie und Grundwertekommission auch einen offiziösen Gesprächskontakt zu BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher realisierte und darüber an den Generalsekretär berichtete (fünf Treffen allein 1986/87, deren Gesprächsnotizen dokumentiert sind5), kann zumindest als Indiz dafür gelten.
Vor diesem Hintergrund hätte nicht zuletzt eine genauere Prüfung der Bewertung Rolf Reißigs, dass das Papier „kein Auftragswerk und nicht mit der SED-Führung abgestimmt“ gewesen sei, ihren Reiz. Vielleicht, so kann zumindest gefragt werden, hat Reinhold ja doch „im Auftrag“ Honeckers gehandelt, aber zugleich mit der Weisung, dies nach außen, auch den eigenen Mitarbeitern gegenüber, zunächst „auf die eigene Kappe“ zu nehmen. Das würde zugleich erklären, wieso Reinhold dem bereits in der zweiten Gesprächsrunde von Gewi-Akademie und Grundwertekommission geäußerten Vorschlag Erhard Epplers, des nachmaligen verantwortlichen SPD-Autors des Dialog-Papiers, „nicht nur zu reden, sondern auch etwas aufzuschreiben“, sofort – also ohne Rücksprache mit Hager – zustimmen konnte. Das hat seinerzeit die SPD-Gesprächsteilnehmer als aus dem Rahmen fallend verwundert, wie sich Eppler auf der erwähnten Veranstaltung der Luxemburg-Stiftung erinnerte. Üblich für DDR-Vertreter war in solchen Fällen stets die Einholung der Zustimmung der Zentrale.
Warum aber solches Spielen Honeckers über die Bande? Vielleicht mit Blick auf Moskau. Schließlich war dort der Apparat auch nach dem Wechsel zu Michail Gorbatschow und in einem gewissen Gegensatz zu dessen wiederholten öffentlichen Äußerungen, die Verbündeten seien nunmehr in ihren Handlungen unabhängig und frei, durchaus weiter auf die eigene Führungsrolle und Exklusivität fixiert. Eppler bekam dies höchstselbst zu spüren, wie er ebenfalls auf der Veranstaltung der Luxemburg-Stiftung berichtete: Er sei zum damaligen sowjetischen Botschafter in Bonn, Juli Kwizinzki, „einbestellt“ und mit dem Vorwurf konfrontiert worden, dass so grundsätzliche Inhalte wie die des Dialog-Papiers doch wohl in Moskau zu verhandeln gewesen wären …
Für die Arbeit am IPW war das Papier vor allem unter außen- und sicherheitspolitischen Aspekten von Bedeutung. Das betraf zum Beispiel solche Aussagen des Papiers wie: „Nicht die Qualität der Waffen, sondern die Qualität der Politik entscheidet über Sicherheit und Stabilität in der Welt. […] Ein wirksames und dauerhaftes System internationaler Sicherheit muß nicht nur den militärischen, sondern auch den politischen, den wirtschaftlichen und den humanitären Bereich umfassen. […] Beide Systeme müssen sich gegenseitig für friedensfähig halten.“
Indem das Dialog-Papier – und das hatte außen- und sicherheitspolitisch in vergleichbarer Weise auch bereits für die vorangegangenen SED-SPD-Papiere über eine chemiewaffenfreie Zone in Zentraleuropa (1985) und einen von Atomwaffen freien Korridor (1986) gegolten – solche Postulate „kodifizierte“, konnten eigene Überlegungen, nunmehr „abgedeckt“, als Basis genutzt werden, um die dem Neuen Denken in der DDR trotz allem gesetzten Grenzen, die es praktisch bis Ende 1989 gab, ein ums andere Mal weiter hinauszuschieben – mit dem Ziel, dem für unumgänglich gehaltenen Brückenschlag zwischen Ost und West nachhaltigen Charakter zu verleihen, um einen heute gebräuchlichen Begriff zu verwenden.
Der von Rolf Reißig ausführlich beschriebene Rückzug der SED-Führung von wesentlichen Inhalten des Dialog-Papiers, der bereits kurze Zeit nach dessen Veröffentlichung einsetzte, blieb im Übrigen auf den innen- und insbesondere auf den parteipolitischen Bereich beschränkt. In seinen außen- und sicherheitspolitischen Aspekten war das Papier jederzeit „voll zitierfähig“.
Hatte ich bei meiner persönlichen positiven Wertung des Dialog-Papiers damals praktisch ausschließlich die SED-Seite der Sache im Blick, so korrespondierten wesentliche seiner Inhalte doch zugleich auch mit meinen eigenen Erfahrungen mit SPD-Gesprächspartnern auf unterschiedlichen Ebenen (vor allem bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der SPD-Bundestagsfraktion, am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg – IFSH – unter Leitung von Egon Bahr und bei der Führung des SPD-Landesverbandes Schleswig-Holstein) sowie mit meinen analytischen Beobachtungen der Entwicklung des sicherheitspolitischen Denkens in der SPD seit Anfang der 80er Jahre. Nicht zuletzt sah ich Kontinuitätslinien von einer SPD, die unter Willy Brandt und Egon Bahr bald nach dem Mauerbau die neue Ostpolitik konzipiert und über lange Oppositionsjahre nicht aus dem Auge verloren, sondern diese nach der eigenen Regierungsübernahme im Herbst 1969 praktisch verzugslos in Verträge mit der UdSSR (August 1970), Polen (Dezember 1970) und der DDR (1973) umgesetzt, innenpolitisch gegen den erbitterten Widerstand der Union im Bundestag durchgesetzt und außenpolitisch gegenüber den Vertragspartnern eingehalten hatte.
Grundsätzlich „Innovatives“ enthielt das Dialog-Papier vor allem in ideologischer Hinsicht – insbesondere zum Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten, womit mir Lehren aus dem verhängnisvollen Schisma der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung des XX. Jahrhunderts gezogen worden zu sein schienen. (Wobei ich allerdings außer acht ließ, dass Kommunisten und Sozialdemokraten längst keine gemeinsame soziale Basis im „Proletariat“ mehr hatten und sich auf beiden Seiten vielmehr von eher staatstragenden strategischen Überlegungen leiten ließen.) Unter ausführlichen Verweisen auf die fortbestehenden ideologischen, gesellschaftstheoretischen und politökonomischen Divergenzen zwischen den beiden (ehemaligen) Hauptströmungen der Arbeiterbewegung hieß es in dem Papier: „Der Streit über […] gegensätzliche Grundpositionen läßt sich weder durch Kompromißformeln noch durch Appell an den Friedenswillen beenden. Es wäre auch niemandem damit gedient, wenn die Gegensätze verwischt würden. Aber der Streit über Grundpositionen kann Teil eines produktiven Wettbewerbs […] werden, wenn er so ausgetragen wird, daß Kommunisten und Sozialdemokraten die Grundentscheidungen des jeweils andern beachten, keine Feindbilder aufbauen, die Motive der andern Seite nicht verdächtigen, deren Überzeugungen nicht absichtlich verzerren und ihre Repräsentanten nicht diffamieren.“ Dies wurde noch ergänzt durch Postulate wie: „Es muß zum Normalfall werden, daß wir miteinander handeln, verhandeln und zusammenarbeiten […].“ Und: „Niemand darf für sich ein Recht der deutlichen Kritik und der polemischen Darstellung in Anspruch nehmen, ohne es dem Kritisierten in gleichem Maße zuzubilligen.“
Ich sah seinerzeit allerdings keine Veranlassung, mich zu fragen, inwieweit die SPD-Führung, von der Partei insgesamt ganz zu schweigen, auch unter völlig veränderten Rahmenbedingungen ein verlässlicher Partner für derartige gemeinsame Überlegungen zum Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten sein würde. Ein Ende der Systemauseinandersetzung war in dem Dialog-Papier schließlich nicht nur nicht vorgesehen – „Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen“ – es wurde 1987 für die überschaubare Zukunft auch von niemandem erwartet.
Gleichwohl gab es anderswo Hinweise, die bei genauer Betrachtung zumindest in die Richtung einer Fragestellung wie der von mir vernachlässigten wiesen. Die blieben jedoch auf engste Zirkel beschränkt, wo sie überdies zum Teil zurückgewiesen wurden. So erfuhr ich – von einem der direkt Beteiligten, der seinen Namen allerdings nicht genannt wissen möchte – erst unlängst von folgendem Vorgang: Kurz nach der Veröffentlichung des Dialog-Papiers weilte ein leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des IPW am IFSH – ein im Rahmen der deutsch-deutschen Beziehungen damals bereits routinemäßiger Vorgang – und wurde auch von dessen damaligen Direktor Egon Bahr empfangen. Im Verlaufe des Gesprächs ließ Bahr mit unmittelbarem Bezug auf das Papier die Bemerkung fallen, dass die Führung der SED daraus keine falschen Schlüsse im Hinblick auf die Grundpositionen der SPD ziehen solle; die seien bezüglich der politischen Lage in der Bundesrepublik und im Hinblick auf die DDR eindeutig: „Die CDU/CSU, das sind unsere innenpolitischen Gegner – aber Sie sind unser Feind!“6 Vom IPW wurde diese Information über die HV A dem Minister für Staatsicherheit, Erich Mielke, zugeleitet, der seinerseits Honecker in einem persönlichen Gespräch davon in Kenntnis setzte. Der wies die Information als unglaubwürdig zurück – mit Hinweis auf das jüngste seiner zahlreichen Gespräche mit dem seinerzeitigen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Der habe ihm nachdrücklich versichert, dass die SPD trotz aller Angriffe (die es seinerzeit wegen des Papiers in der BRD gegen die Partei, aber auch innerhalb derselben gegen die Parteiführung gab – Anm. d. Red.) zu dem Papier stehe; was Mielke, im Gegensatz dazu, vorgetragen habe, sei gezielte Desinformation, um die sich entwickelnden besonderen Parteibeziehungen zu unterminieren. Er, Honecker, wolle davon nichts mehr hören.
Offenbar nahm der Staatssicherheitsminister, immerhin selbst Mitglied des Politbüros, diese Ablehnung so ernst, dass es zu einer mündlichen Weisung – den Dienstweg hinunter – kam: Bei künftigem Informationsaufkommen sei dies taktisch zu beachten. Innerhalb des Sicherheitsapparats, so mein Gesprächspartner, sei die positive Bewertung des Generalsekretärs allerdings wohl nicht geteilt worden. Jedenfalls hätte es keine inhaltliche Kritik an der vermeintlichen „Desinformation“ gegeben.
Heute kann man sagen, dass bestimmte Entwicklungen zu Wendezeiten und vor allem nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zumindest auch als späte Bestätigung jener „Desinformation“ gewertet werden können. Insbesondere gilt dies für die jahrelange rigorose Absage der SPD an jegliche Kooperation mit der SED-Nachfolgepartei sowie die auch von der SPD exekutierte pauschale Ausgrenzung ehemaliger SED-Funktionsträger von verantwortlicher gesellschaftlicher Teilhabe in der Bundesrepublik und selbst „kleinster“ SED-Mitglieder von einem Beitritt zur SPD.7 All dies lag auf einer Linie, wie sie die damalige Bundesgeschäftsführerin der SPD, Anke Fuchs, Ende 1989 markiert hatte, als sie das Dialog-Papier als „erledigt und abgearbeitet“ bezeichnet und hinzugefügt hatte: „Man kann es auch zerreißen.“8
Wenn es im Kreise der Befürworter, die das Dialog-Papier in der SED in breitem Umfang gefunden hatte, die Erwartung gegeben haben sollte, dass grundlegende Inhalte des Papiers zum Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten über den Wegfall seiner Voraussetzungen durch den Zusammenbruch der DDR und das Ende der Systemauseinandersetzung hinaus Relevanz und Bindungswirkung entfalten könnten oder gar müssten, dürften sich diese rasch als illusionär und von Fall zu Fall auch persönlich als schmerzhaft erwiesen haben, wie etwa das Beispiel Manfred Uschners zeigt. Der frühere enge Mitarbeiter von SED-Politbüromitglied Hermann Axen – über viele Jahre auch sozialdemokratischerseits wohl gelittener Teilnehmer an zahllosen SED-SPD-Gesprächsrunden – war noch im Februar 1989 wegen angeblich zu enger Kontakte zu Egon Bahr auf Weisung Honeckers als „unzuverlässig“ aus dem Parteiapparat entfernt worden. Uschner bemühte sich nach 1990 um Aufnahme in die SPD – wiederholt, hartnäckig, aber trotz Fürsprache durch Egon Bahr und selbst Hans-Jochen Vogel vergeblich.
Für die Bewertung der historischen Bedeutung des Dialog-Papiers sind die zuletzt behandelten Aspekte aus meiner Sicht allerdings nicht von grundlegender Relevanz. Das Papier, diese Überzeugung teile ich mit Rolf Reißig, hat „schließlich zum friedlichen Verlauf des zunächst nichtintendierten Umbruchs 1989 beigetragen“9.
Selbst wenn dies seine einzige positive Wirkung gewesen sein sollte – sie wäre von bleibendem Wert.

* – Bisherige Beiträge dieser Reihe deutsch-deutscher Reminiszenzen in den Ausgaben 4, 7, 10 und 16 / 2012.

  1. In einer späteren historischen Betrachtung vermerkte Egon Bahr zum Verhältnis zwischen Willy Brandt und Leonid Breshnew, dass „beide ein Interesse teilten: Friedliche Koexistenz durfte keine ideologische Koexistenz bedeuten. Die Partner der Entspannung mußten ideologische Gegner bleiben. Der Sozialdemokrat hatte zu Hause darauf zu achten, der Opposition keine zusätzliche innenpolitische Munition zu liefern; der Kommunist hatte die ideologische Geschlossenheit aller Bruderparteien zu garantieren und zu wahren.“ (E. Bahr: Krieg der Systeme, in: Der Spiegel, 6/1999.)
  2. Siehe dazu zum Beispiel die Veröffentlichungen „ Die geheimen Kontakten zwischen SED zur SPD“ (so die Ankündigung auf dem Spiegel-Cover der Ausgabe 35/1992):
    www.spiegel.de/spiegel/print/d-13689909.html und www.spiegel.de/spiegel/print/d-13680970.html
  3. Der Begriff Neues Denken war 1984 zuerst in der Sowjetunion von Georgi Schachnasarow, der seinerseits auf das Russel-Einstein-Memorandum von 1955 zurückgriff, „reaktiviert“ und später von Michail Gorbatschow in dessen ständigen politischen Sprachgebrauch übernommen worden.
  4. Während der Arbeit an diesem Beitrag sagte mir Egon Bahr, dass ihn die Zustimmung Honeckers zu dem Papier seinerzeit nicht überrascht hätte, weil Honecker ihm in einem persönlichen Gespräch schon Jahre zuvor gesagt habe, dass „die Zeit vernünftiger Parteienbeziehungen“ zwischen SED und SPD kommen werde.
  5. Vgl. D. Nakath / G.-R. Stephan: Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Dietz-Verlag, Berlin 1995.
  6. Zum grundsätzlichen Verhältnis Egon Bahrs zu dem Dialog-Papier gab Erhard Eppler kürzlich in einem Interview zu Protokoll:
    Frage: „Das Papier war eine Facette der von Egon Bahr begründeten Politik „Wandel durch Annäherung?“
    Eppler: „Ja, so kann man das sagen, obwohl das, was wir da getan haben, nicht ganz auf der Linie von Egon Bahr gelegen hat.
    Frage: „Inwiefern nicht?“
    Eppler: „Insofern, als die Grundwertekommission eben nicht etatistisch, also in Kategorien von staatlicher Politik und Diplomatie gedacht hat, sondern in gesellschaftlichen und historischen. […] Unsere Unternehmung ist […] von ihm nicht ganz unkritisch gesehen worden.“
    (Neues Deutschland, 18./19.08.2012)
  7. Dieser Rückfall in tradierte Verhaltensmuster betraf offenbar auch unmittelbar Honecker selbst. In den Erinnerungen von Helmut Kohl findet sich jedenfalls folgende Passage: Er, Kohl, habe im Juli 1990 mit Gorbatschow auf dem Flug von Moskau in dessen kaukasische Heimat über „die juristische Aufarbeitung des DDR-Unrechts“ gesprochen. „Gorbatschow fragte mich, was aus den großen Führern der DDR werden würde. Vor allem interessierte ihn die Zukunft von Erich Honecker. […] Ich erklärte ihm, dass ich persönlich nicht sonderlich daran interes­siert sei, eine große Verfolgungsjagd zu inszenieren, gab dem Kreml-Chef jedoch zu verstehen, dass mein Einfluss als Bundes­kanzler auf die Rechtsprechung und damit auf Gerichtsverfahren nahezu null sei. […] Später versuchte ich bei einem Vieraugengespräch mit Hans-Jochen Vogel dieses Thema vorsichtig anzusprechen und musste sofort einsehen, dass ich beim SPD-Oppositionsführer, der mit sei­ner Partei auch die Bundesratsmehrheit stellte, auf Granit stieß. Wie aus der Pistole geschossen verwies er auf die Regeln des Rechtsstaats, die es unmöglich machten, politisch irgend etwas zu bewirken. […] Hans-Jochen Vogel, der dem Staatsratsvorsitzenden jahrelang politisch wie mensch­lich mit großem Entgegenkommen begegnet war, zeigte Honecker jetzt die kalte Schulter.“ (H. Kohl: Erinnerungen 1990-1994, Droemer Verlag, München 2007, S. 320.)
  8. Zit. nach Welt Online vom 26.08.2007
    (www.welt.de/politik/article1136454/Als-SPD-und-SED-ueber-Reformen-plauderten.html).
  9. Egon Bahr hatte dazu bereits 1999 geurteilt, dass „das gemeinsame Papier von SPD und SED […] Friedenspolitik über alle ideologischen Unterschiede stellte und Regeln für eine Kultur des Streits entwickelte. […] Es gibt keinen monokausalen Grund für den Zusammenbruch des kommunistischen Systems. Wirtschaftliche und technische Überlegenheit des Westens, sein Lebensstandard, die Bewegungsfreiheit und viele andere Faktoren sind zusammengekommen. Ein bisher unterschätztes Element war die Entideologisierung. Sie kann sogar entscheidend für den unblutigen Zusammenbruch gewesen sein […].“ (E. Bahr: Krieg der Systeme, a. a. O.)