15. Jahrgang | Nummer 11 | 28. Mai 2012

Die Bergwerke von Falun und Woyzeck in Umeå

von Kai Agthe

In Schweden eine deutschsprachige Buchveröffentlichung zu bekommen, kann ein deutscher Wissenschaftler auch dann als ebenso große wie seltene Ehre betrachten, wenn er, wie Gunnar Müller-Waldeck, ein Germanist mit Vorliebe für norddeutsch-skandinavische Themen ist. In der Reihe „Ethnologische Schriften“ der Universität Umeå publizierte Müller-Waldeck unter dem Titel „Literarische Erkundung des Nordens“ einen Band mit „Notizen zu Skandinavien und Deutschland“. Dem ging ein einjähriger Forschungsaufenthalt voraus, den der heutige Emeritus für deutsche Literatur der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 2002/03 an der schwedischen Universität Umeå verbringen konnte. Mit dem Buch machte sich der 1942 in Bernburg geborene Autor auch ein Geschenk zu seinem 70. Geburtstag, den er 2012 feierte.
Müller-Waldecks Beruf(ung) ist die deutsche Literatur; sein Steckenpferd die Dichtung in Mecklenburg und (Vor-)Pommern sowie deren Rezeption im skandinavischen Raum. Zu diesen Fragen veröffentlichte er zahlreiche Bücher: 2010 gab er den Band „Die Ostsee meiner Erinnerungen – Kindheiten in Mecklenburg und Pommern“ heraus. Zwei Jahre zuvor erschien das Buch „Der eiserne Gustav: Die Geschichte des legendären Droschkenkutschers Gustav Hartmann“. Eine Berliner Persönlichkeit zwar, zu der Müller-Waldeck über den Roman „Der eiserne Gustav“ des in Greifswald geborenen Hans Fallada (1893-1947) fand. Jüngst erschien, von Müller-Waldeck herausgegeben, der Band „Hans Fallada – Sein Leben in Bildern und Briefen“. Auch das Werk von Wolfgang Koeppen (1906-1996), des anderen großen, aus Greifswald gebürtigen Erzählers, hat der Literarhistoriker wiederholt der Analyse unterzogen. So jüngst in der Zeitschrift Sinn und Form (3/2011) in einem Beitrag über Wolfgang Koeppen und Hans Werner Richter, den aus Bansin stammenden Gründer der „Gruppe 47“.
Der Untertitel von Müller-Waldecks Buch, „Notizen zu Skandinavien und Deutschland“, stapelt freilich tief. Denn es handelt sich um eine umfangreiche Sammlung mit Aufsätzen, Essays und Feuilletons, die Aspekte deutscher Literaturgeschichte betrachtet, die, im besten Fall, auch Verbindungen nach Nordeuropa aufweisen. Und so ist es naheliegend, dass sich der Autor im ersten Beitrag an jenes „unverhoffte Wiedersehen“ erinnert, das, oft literarisiert, Johann Peter Hebel so mustergültig erzählt hat. (Neben Johann Peter Hebel haben sich auch E.T.A. Hoffmann und Friedrich Rückert sowie Richard Wagner und Hugo von Hofmannsthal an dem Stoff versucht.) Gunnar Müller-Waldeck gibt einen Überblick über die Rezeption der Geschichte des Bergmannes Matts Israelsson, der 1677 in den Bergwerken von Falun verschüttet wurde und dessen Leichnam 1719 „lebensfrisch“, also gut erhalten, wieder zum Vorschein kam und von seiner einstigen Verlobten identifiziert wurde. Derweil sie alt geworden ist, blieb er so jung wie an jenem Tag, an dem er letztmals das Haus verließ. Was die Literarisierungen dieses Bergmannsschicksals nicht mitteilen: Drei Jahrzehnte wurde der konservierte Leichnam ausgestellt, ehe er, mehrfach exhumiert und wieder begraben, ab 1860 auf einem Kirchboden eingelagert wurde, um erst 1930 endgültig seine letzte Ruhe zu finden.
Wie für den Rezensenten, so dürfte für viele Leser neu sein, dass Selma Lagerlöf, die Autorin der Abenteuer von Nils Holgersson, als erste Frau die Ehrendoktorwürde der Universität von Greifswald erhielt. Müller-Waldeck dokumentiert den Prozess der Entscheidungsfindung von 1928. Der Findungskommission gehörten seinerzeit 27 ausschließlich männliche Gelehrte an. Während der Müller-Waldeck nicht zu ermitteln vermochte, ob Selma Lagerlöf jemals in Vorpommern war, war ihr berühmter Däumling sehr wohl dort. In einer Episode kommt Nils mit dem Storche Ermenrich auf die Insel Usedom, genauer: an den Strand von Koserow, wo sich ihm die Möglichkeit bietet, die Stadt Vineta von ihrem Fluch zu erlösen. Doch fehlt ihm das dafür nötige Geld. Als er eine Münze findet, verschwindet die Stadt wieder in den Fluten.
Erstaunlich auch, dass es der historische Johann Christian Woyzeck als gepresster Soldat wider Willen bis nach Schweden und – wie Müller-Waldeck unter wesentlich komfortableren Bedingungen zweihundert Jahre später auch – sogar nach Umeå kam. Jener Woyzeck also, der als letzter Delinquent am 27. August 1824 in Leipzig öffentlich hingerichtet wurde, weil er seine Geliebte ermordet hatte. Jener Woyzeck mithin, den Georg Büchner – der als Dichter bekanntlich eine Vorliebe für psychopathologische Existenzen hatte – im Jahr 1836 in die Weltliteratur und Alban Berg 1921 mit der Oper „Wozzeck“ in das Musiktheater überführte.
Dem Leben und Werk Ernst Barlachs als Sujet literarischer Gestaltung folgt Müller-Waldeck im Essay „Vom Heidberghaus nach Sansibar“. Alfred Anderschs Roman „Sansibar oder Der letzte Grund“ (1957), Franz Fühmanns Erzählung „Das schlimme Jahr“ (1963) und Johannes Bobrowskis Gedicht „Barlach in Güstrow“ (1963) werden hier ausführlicher interpretiert.
Hedwig Courths-Mahler – die mit ihren Herz- und Schmerzromanen zur „Königin der deutschen Leihbibliotheken“ avancierte und die ihre gebildeten Verächter „Kurz-Malheur“ nennen – verbindet persönlich eigentlich nichts mit Skandinavien. Die Rezeption umso mehr: In Schweden war sie, so weiß der Autor mitzuteilen, die erfolgreichste deutsche Autorin des 20. Jahrhunderts. Müller-Waldeck folgt ihrem Schaffen und erläutert das poetische Verfahren der Schriftstellerin, die nach 1900 die deutsche Literatur in „E“ und „U“ spaltete: „Die Literatur“, so Gunnar Müller-Waldeck, „ist endgültig auseinandergebrochen und besteht aus jenem hochartistischem Strom für die Gebildeten und dem Massenkonsumenten-Strom, der durch eine verlegerische Unterhaltungsindustrie kanalisiert wird.“ Übrigens hat der Germanist im Jahr 2000 unter dem Titel „Da tönt im Herzen mir das Lied“ auch einen limitierten und nummerierten Band mit Gedichten Hedwig Courths-Mahlers herausgegeben. Auf die Feuilletons, die den Band beschließen, hätte der Autor verzichten oder diese, da sich die Themen dafür angeboten hätten, zu umfangreichen Essays ausbauen können. Das Gefälle zwischen den literarhistorischen Aufsätzen am Anfang und den am Ende stehenden, für die Kulturseiten von Tageszeitungen stark komprimierten Beiträgen ist zu groß. Man hätte dem Buch mit seinen klugen Studien an manchen Stellen auch ein besseres Lektorat gewünscht.
Da der schwedische Verlag in Deutschland keinen Vertrieb hat, ist das Buch von Gunnar Müller-Waldeck hierzulande leider nur über die Buchhandlungen in Greifswald erhältlich.

Gunnar Müller-Waldeck: Literarische Erkundung des Nordens. Notizen zu Skandinavien und Deutschland, hrsg. von Kurt Genrup, Umeå universitet, Etnologiska Skrifter 56, Umeå 2011, 15,- Euro