Die Diktatur entsteht natürlich aus der Demokratie,
und die schlimmste Form der Tyrannei
und der Sklaverei aus der größten Freiheit.
Platon
Die liberale Demokratie gilt als die Staatsform, in der Freiheit am umfassendsten verwirklicht ist. Doch schon Platon sah in übersteigerter Freiheit den Ursprung des demokratischen Niedergangs. Seine Analyse in der Politeia wirkt wie eine Warnung an moderne Gesellschaften, in denen individuelle Selbstbestimmung häufig über Gemeinsinn und Maß gestellt wird. Kann also die Freiheit selbst zum Feind der Demokratie werden?
Nur auf den ersten Blick eine erstaunliche Frage… Hierzulande gilt gemeinhin die AfD als die demokratiegefährdende politische Kraft; zu Recht, wie sich zeigen wird, aber auch anders als bisher unterstellt. In einem Blättchen-Artikel sah ich in ihr eine „Führerpartei“ mit deutlichen Inklinationen zum Nationalsozialismus; denke aber, ohne diese Thesen völlig aufgeben zu wollen, dass man die AfD auch anders „lesen“ kann und sollte.
Die AfD ist in ihrem Selbstverständnis eine legitime politische Akteurin, der Verfassungsschutz bescheinigte ihr allerdings eine rechtsextreme Prägung. Die Klage der Partei gegen diese Einstufung wird vor Gericht verhandelt. Sie etablierte sich erfolgreich als Partei – mit einem wirtschaftsliberalen Anspruch; quasi die „bessere“ FDP. Schon die Genese der AfD, erinnert man sich an ihre Anfänge als Anti-Euro-Partei, fußte nicht auf einer explizit antidemokratischen Haltung, sondern man wollte „viel mehr“ Beteiligung. Inzwischen will man mitbestimmen und erkennt Autoritäten, also Politiker, die demokratisch gewählt sind und so das Recht haben zu „bestimmen“, was passiert, zunehmend weniger an. AfD-Politiker, von ihnen beeinflusste Gruppen und Einzelpersonen artikulieren ihren Willen und wollen sich damit auch durchsetzen – brachial; häufig mit kruder Rhetorik und fragwürdigen Aktionen.
Dieser „Freiheitsdrang“ kippt sukzessive in eine paradoxe autoritär-antiautoritäre Haltung. Der Typus „AfD-Wähler“ oder rechter Parteigänger jubelt „starken“ Männern zu, will aber eigentlich keine „Obrigkeit“ mehr, sondern folgt eher einer trotzigen Eigenprofilierung. Er frönt einer Haltung, sich von niemandem mehr etwas vorschreiben zu lassen. Man erkenne das in Alltagssituationen, wie der Moderator Markus Lanz bemerkte: Menschen wollten sich weder von Polizei, Lehrern noch Sanitätern etwas sagen lassen, alles werde als „ultimativer Angriff auf ihr Freiheitsempfinden“ verstanden.
Der Journalist Justus Bender, seit Jahren mit der AfD befasst, sieht es so: „Irgendwann sind diese ,zarten Bürger´ nicht mehr willens, eine Autorität zu ertragen.“ Der Grundwiderspruch der AfD liegt offenbar in der paradoxen Auffassung von Freiheit; Bender meint „einen seltsamen Idealismus an der Spitze der Partei, eine Art ,egozentrische Hyperliberalität‘“ ausmachen zu können.
Mehr als ein halbes Jahr vor dem von Donald Trump im Januar 2021 provozierten Sturm auf das Capitol in Washington versuchten deutsche Rechtsextreme im August 2020 den Reichstag in Berlin zu besetzen. Sie gelangten, mit Reichsflaggen und rechtsnationalen Symbolen bewaffnet, bis auf die Treppen des Parlamentsgebäudes. Diese Ereignisse zeigen, dass sowohl in den USA als auch in Deutschland (und anderswo) die Gesellschaften von der Wechselwirkung rechtsnationaler bis rechtsextremer Bewegungen und eben einer hyperliberalen Toleranz bedroht sind. Selbige stellt sozusagen den Windschatten dar, in dem die radikalisierten Ansichten der Stürmenden sich „normalisieren“ konnten.
Freiheit braucht Grenzen, und zwar dann, wenn die Berufung auf sie demokratische Grundsätze und rechtsstaatliche Grundfesten angreift. Nur wenn alle gleich frei sein können, kann von einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft die Rede sein. Genau diese Einhegung des Freiheitsbegriffs im Sinne der Verbindung von Freiheit und Gleichheit liefern Regeln, das Recht, Gesetze und Gerichte. „Der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“, sagt das Bundesverfassungsgericht. Die Freiheit ist zentral, aber deshalb immer auch schon begrenzt. Die eigene Freiheit reicht also so weit, wie andere sie zu Recht für sich beanspruchen können. Wie sollten wir sonst zivilisiert miteinander umgehen können?
Damit sind auch die Meinungs-, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit gleiche Freiheiten für alle, also desgleichen immer verhältnismäßig begrenzt. So werden jedenfalls die Grundrechte heute in Deutschland und in vielen anderen Staaten verstanden. Auch ein Recht auf freie Meinungsäußerung oder darauf, Waffen zu tragen, wie in der Verfassung der USA verbrieft, kann nicht rechtfertigen, anderen zu schaden oder sie gar zu töten, sondern muss in den Grenzen verstanden werden, die für jede Freiheit gelten. Denn es geht nie um blanke Freiheit, sondern immer um gleiche Freiheit.
Ein wesentliches Kennzeichen der westlichen Modernisierung ist Differenzierung. Sie macht sich nicht nur sozial bemerkbar, sondern verändert auch das politische Leben. Politik wird vielgestaltiger, indem sie unterschiedliche Ebenen, Organisationen, Akteure und Netzwerke hervorbringt und sich immer weiter ausdifferenziert. Dieser Differenzierung unterliegen auch die (politischen) Subjekte. Passt die oben geschilderte Form von „rechter“ Subjektivität noch zur Demokratie?
Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn spricht davon, dass sich im Modernisierungsprozess eine „Emanzipation zweiter Ordnung“ vollziehe, in deren Zuge sich Subjekte progressiver Milieus von den vermeintlichen Zumutungen demokratischer Pflichten emanzipierten mit der Folge, dass ihnen die vernünftige Unterordnung unter demokratische Mehrheitsentscheidungen – und auch der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ – als Form der Heteronomie, der Fremdbestimmung, und als illegitimer Zwang erschiene. Auch er sieht also Anzeichen dafür, dass sich eine postdemokratische Subjektivität herausbildete, die der Demokratie schadet; und zwar nicht nur „rechts“.
Nicht nur die AfD, oder breiter: „Subjekte“ (rechts)extremer Milieus, gefährden die liberale freiheitliche Demokratie, sondern auch im „progressiven“ vulgo linken politischen Spektrum sind gleiche Tendenzen auszumachen. „Verdächtige“ sind weniger einer Partei zuzuordnen, sondern eher unter den „Nachfahren“ der 68er-Bewegung, Befürwortern queer-feministischer Theorien und Anhängern eines als Widerstand gegen autoritäre oder kapitalistische Zwänge politisch verstandenen Hedonismus zu suchen. Die Demokratie gerät also vor allem von den Rändern her unter Druck. Bei der Rechten, der AfD, kommt das Provozieren mit Symbolen und der Sprache des Nationalsozialismus hinzu…
E pluribus unum oder zeitgemäßer Aus vielen eines ist die Wunschformel demokratischer Gemeinschaftsbildung im 21. Jahrhundert. Die westlichen Gesellschaften sind divers und von unterschiedlichen Identitäten geprägt. Dies bietet einen reichen Fundus an kultureller Kreativität und an Möglichkeiten demokratischer Pluralität – zumindest dann, wenn es gelingt, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Identitäten zu einer toleranten Gesellschaft zu bündeln. Wenn aber die auf Individualismus gründenden Identitäten, seien sie nationalistischer, religiöser, sexueller oder weltanschaulicher Provenienz, intolerante Ausprägungen annehmen und keinen Sinn für das notwendig Gemeinschaftliche entwickeln, verliert jedwede Demokratie ihre soziale Basis. Sie zerfällt.
Auch nach Platon warnten Denker vor falsch verstandener Freiheit. Schon im 19. Jahrhundert hatte für Alexis de Tocqueville der neuzeitliche Individualismus, der hinter dem Konzept der Freiheit des Individuums steht, dessen Rechte vor dem Staat geschützt werden sollen, freiheitsgefährdende Züge, weil er die Menschen daran hindere, gemeinsam zu handeln. Was zu politischer Apathie und damit zur Tyrannei führen könne. Isaiah Berlin unterschied zwischen „negativer Freiheit“ – Freiheit von Zwang – und „positiver Freiheit“ – Freiheit zur Selbstbestimmung. Diese bedeutet auch immer eine gewisse Selbstbindung. Demokratie braucht immer beide Freiheiten im Gleichklang. Und Karl Popper betonte, dass unbegrenzte Toleranz als eine Form von Freiheit intolerante Kräfte fördern könne – das „Toleranzparadox“.
Wenn individuelle Freiheit absolut gedacht und praktiziert wird, gefährdet sie die gemeinsame Ordnung, auf der Demokratie beruht. Namentlich an politischen Rändern fordert man oft „Freiheit vom autoritären Staat“, lehnt aber zugleich demokratische Institutionen ab. Das führt zu einem Paradox: Die Freiheitsjünger sägen den Ast ab, auf dem sie sitzen, denn sie zerstörten eben die Institutionen, die die Freiheit, die sie wollen, überhaupt erst garantieren.
Schlagwörter: AfD, Demokratie, Freiheit, Platon, Stephan Wohanka


