28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 202

Hakenkreuz bis zum Pazifik

von Jörn Schütrumpf

Der nachstehende Beitrag wurde uns vom Blättchen-Gründer mit dem Zusatz übermittelt: Wenn wir ihn nicht veröffentlichten, werde er auf einer anderen Website erscheinen – „natürlich mit dem Hinweis, dass Ihr eine Veröffentlichung verweigert habt“.

Des unfreundlichen Appendixes freilich hätte es nicht bedurft. Das Blättchen steht dem – auch scharf kontroversen – Austausch von Meinungen und Argumenten offen.

Jürgen Hauschke
Detlef-Diethard Pries
Wolfgang Schwarz

Erhard Cromes – so viel sei unterstellt: ernstgemeinte – Ausführungen („Vergeblicher Friedensgeist“, Blättchen 15/2025) zu Ende gedacht, können nur ein Ergebnis zeitigen: Adolf Hitler und Leonid Breshnew haben sich 1938 beziehungsweise 1968 als humanistische Menschen bewährt, ließen sie doch – sieht man von dem im Juni 1942 dem Erdboden gleichgemachten Lidice ab – den Böhmen, Mährern, Südschlesiern und Slowaken die Städte stehen: aus Dankbarkeit für deren den Frieden erhaltende Kapitulation. Was kaputt ging, waren lediglich Ústí nad Labem und Plzeň, doch fielen die den heimtückischen Luftangriffen des „Westens“ zum Opfer.

Ebenso wie unsere Nachbarn im Südosten verhielten sich bei einem Besuch aus dem Ausland – ganz friedlich – andere Kleinstvölker, 1940 zum Beispiel die Litauer, Letten und Esten. Vilnius, Riga und Tallinn erstrahlen bis heute in altem Glanz; die Zehntausenden Stalin-Opfer, gleich an Ort und Stelle gemeuchelt beziehungsweise im GULag zu Tode gesiecht, müssen unter den den Frieden erhaltenden Kollateralschäden abgebucht werden; wo gehobelt wird, fallen halt Späne. Außerdem: Was sind Menschenleben schon? Städte zählen! Zudem lassen sich menschliche Wesen leichter vergessen, denn sie hinterlassen keine Ruinen, manchmal nicht einmal Grabsteine. Die Asche der auf Stalins Befehl – friedlich – hingemordeten tschechoslowakischen Kommunisten Rudolf Slánský & Co wurde im Dezember 1952 auf den vereisten Straßen Prags verteilt; zu irgendetwas können sogar Juden noch zu gebrauchen sein – ganz friedlich, versteht sich.

Überhaupt Stalin: Bis heute hat die Geschichtswissenschaft es unterlassen, die Frage zu beantworten, warum der selbsternannte Führer des Weltproletariats sich nach dem 22. Juni 1941 nicht genauso vorbildlich verhielt wie die Balten im Jahr zuvor. Den sowjetischen Völkern hätte eine umgehende Kapitulation Unmengen an Opfern erspart. Das ist eine ebenso zwingende wie humanistisch überzeugende Folgerung aus Erhard Cromes originellem Historismus. Heute lebten wir in einem urgemütlichen Deutschen Reich – vom Atlantik bis zum Pazifik – fast ohne Tschechen und andere Slawen, die als „Untermenschen“, bis auf unverzichtbare Sklaven, versteht sich, „dezimiert“ wären; das alles unter der Hakenkreuzflagge und ganz und gar – was sonst? – friedlich.

Um – wie es der geistig nicht erst unlängst verblichene Wolf Biermann noch 1991 spitz zu formulieren in der Lage war – richtig missverstanden zu werden: Ich bin gegen die Unterwerfung der Ukraine, trotz aller Unsinnigkeit also für diesen Krieg, gilt doch vom Krieg immer noch das Diktum des Carl von Clausewitz als einer „bloße[n] Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“.

Dass sich mit dem Westen einerseits und Russland, China plus nordkoreanischem Annex zwei imperialistische Blöcke gegenüberstehen, ist eine Binsenweisheit. Allerdings lassen die Erinnerungen an meine ersten Jahrzehnte in der russisch-sowjetisch besetzten DDR keine Sehnsucht nach einer dümmlich-autoritären Diktatur aufkommen. Das Intelligenzniveau der meisten – friedlich – funktionierenden Funktionierer (wären sie doch, unangenehm genug, wie einst im alten Ägypten wenigstens Funktionäre gewesen) lässt mich für den Westen optieren, nicht wegen seines Imperialismus, sondern trotz dieses. Auf dieser Seite der Front dürfen nicht nur meine Texte erscheinen, ohne dass morgens um vier zwei Herren vor der Wohnungstür erscheinen oder man nach Mode des Moskauer Mussolini – zufällig, etwas anderes kommt selbstverständlich gar nicht in Frage – aus dem Fenster fällt.

Doch zurück zum Gewesenen: Die Anti-Hitler-Koalition war ein Bündnis aus Feuer und Wasser, aus Moskaus Menschenschlachthaus und New Yorks Wallstreet – beides Geißeln der Menschheit, keine Frage. In dieser Konstellation war der kalte Krieg, der – in Europa – friedlich blieb, programmiert. Diese als heißer Krieg nicht geführte Auseinandersetzung brachte immerhin einen kalten Frieden und zudem Mäßigung, und zwar auf beiden Seiten. Der im sowjetischen Block behauptete und nach Stalins Tod 1953 in einigen Staaten zumindest zum Teil verwirklichte Sozialstaat erzwang im Westen, als Reaktion, eine sozial regulierte kapitalistische Produktionsweise. Bis 1989/91 war es deshalb jenseits der Elbe unabdingbar, die Scham bedeckt zu halten. Unterdessen drohen nun – nach Russland – auch die USA ins Faschistische zu degenerieren.

Was dazwischen liegt? Europa. Von dort ging einst die Aufklärung wie – zuvor – die Unterjochung dessen aus, was heute globaler Süden heißt, jedoch bis an die Nordgrenze Kanadas reichte.

Und heute: Finis Europe?

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Doch das Glas ist nicht leer, sondern nur zur Hälfte ungefüllt. Optimisten meinen sogar, es sei halbvoll. Egal, ob die USA und das Sozialismus simulierende China sich in einen Großkrieg verheddern oder zusammen mit Russland eine autoritär-„sozialistisch“-faschistische Achse bilden werden, steht Europa vor der Wahl, sich – à la „Realpolitiker“ Erhard Crome – Russland „friedlich“ zu ergeben, also sich friedenserhaltend in die Sklaverei zu stürzen oder: sich neu zu definieren. Die Voraussetzungen für Letzteres sind durchaus gegeben.

Heute ginge das noch friedlich. Der kalte Krieg, der von russischer Seite schon seit Jahren geführt wird, müsste dafür von Europa nur endlich, dieses Mal – mindestens vorübergehend – ohne die USA angenommen werden. Das wäre immerhin noch besser als die Alternative: ein heißer Krieg.