28. Jahrgang | Nummer 14 | 18. August 2025

Werte-Eifer als Konflikttreiber

von Bernhard Romeike

Donald Trump, der USA-Präsident der außenpolitischen Abwendung von der globalistischen Einmischungspolitik, und Wladimir Putin, der russische Präsident der nationalen Wiederauferstehung, haben vereinbart, sich am 15. August 2025 in Alaska zu treffen. John Bolton, der während Trumps erster Präsidentschaft für einige Zeit dessen Sicherheitsberater war, fand das degoutant – weil Alaska mal russisch war und 1867 von den USA gekauft wurde. Aber das scheint gerade eine interessante Marginalie zu sein: Man kann Grenzen auch verändern. In der russischen Regierung wurde diese Entscheidung damals nicht nur getroffen, weil man Geld brauchte wegen der Staatsschulden infolge des Krimkrieges (1853-1856), sondern weil die Militärs in St. Petersburg davon ausgingen, dass die russische Marine und die Landstreitkräfte nicht in der Lage wären, Alaska gegen einen britischen Angriff zu verteidigen – das Problem der imperialen Überdehnung.

Trump und Putin werden sich nun also getroffen haben – wenn dieses Heft erscheint, ist das bereits Geschichte. Verhandlungsort ist die Militärbasis Elmendorf-Richardson im Nordosten von Anchorage; damit ist die Sicherheit des Treffens von vornherein gewährleistet und mit Scharen von Protestlern vor dem Verhandlungsgebäude ist kaum zu rechnen.

Kanzler Friedrich Merz, die anderen EU-europäischen Zwerge und Ukraine-Präsident Selenski hatten sich zuvor voller Eifer getroffen, um Trump möglichst in den Arm zu fallen. Der ukrainische Präsident wurde extra nach Berlin eingeflogen, die anderen waren am Bildschirm zugeschaltet. Die Neue Zürcher Zeitung vom nächsten Tag nannte das politische Signal „eindeutig“: „Europa“ stehe „geschlossen hinter der Ukraine“. Ein Erfolg für Kanzler Merz, allerdings „eher ein symbolischer“: Die schönen Bilder könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Verhandlungen über einen Frieden in der Ukraine ohne „die Europäer“ gebe; sie „sitzen bei den Verhandlungen noch nicht einmal am Katzentisch“.

Allerdings gilt es zu beachten: Trump hatte bereits während seiner ersten Präsidentschaft betont, Russland sei das Land, das über ebenso viele Atomwaffen verfügt, wie die USA. Deshalb sei es gut, friedliche Beziehungen zueinander zu unterhalten. Aus Sicht russischer Außenpolitiker ging es daher in Alaska nicht nur um die Ukraine, sondern um die Gesamtheit der russisch-amerikanischen Beziehungen. Dazu gehören insbesondere auch die Begrenzung der nuklearen Raketensysteme, die Wirtschaftsbeziehungen – darunter im Bereich Seltene Erden, die Kooperation bei Erdöl und Erdgas. Die Aufhebung von Wirtschaftssanktionen dürfte ein Anreiz aus Sicht der US-amerikanischen Regierung sein. Erst danach sollte es um die Beendigung des Krieges in der Ukraine gehen. Aus Sicht Trumps war dies immer „Bidens Krieg“, nicht einer im Interesse der USA.

Um die derzeitigen Konstellationen im Verhältnis zu den USA zu verstehen, ist das jüngste Buch von Marco Overhaus (Jahrgang 1975) „Big Brother Gone“ sehr zu empfehlen. Overhaus befasst sich seit Jahren mit der Politik der USA. Er hat am französischen Institut für internationale Beziehungen gearbeitet, war bei der RAND-Corporation in den USA, im Planungsstab des Auswärtigen Amtes im Nordamerika-Referat und ist jetzt in der Forschungsgruppe Amerika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Es geht jetzt – und dafür steht Overhaus‘ Band exemplarisch – darum, einerseits die alten westdeutschen Scheuklappen in Bezug auf die USA abzulegen, andererseits jedoch eine neue geopolitische Perspektive in Bezug auf deutsche/EU-europäische Interessen und die der USA zu wahren. Mit anderen Worten: Es geht um geopolitischen Realismus ohne blinden emotionalen Eifer.

Die USA sind laut Overhaus nicht nur „selbst ein polarisiertes Land“, sondern haben „eine polarisierende Wirkung“ auf ihr internationales Umfeld, auf die internationale Politik. Die Vorstellung von einer Pax Americana folgte bisher der Idee, es gehe „um die spezifische Ausübung amerikanischer Macht unter liberalen Vorzeichen“. So stützten sich „Deutschland und andere europäische bzw. westliche Länder“ in Bezug auf ihre Sicherheit auf diese Vorstellung der Pax Americana. Die Regierungen dieser Länder stünden „nun vor der Aufgabe, alte Annahmen hinter sich zu lassen und die Beziehungen zu Amerika auf eine neue Grundlage zu stellen“.

Der Vorwurf an Trump lautet im Grunde, dass er diese Vorstellungen der politischen Klassen außerhalb der USA nicht mehr bedient. Eigentlich jedoch ist nicht Trump das Problem, sondern das sind die Illusionen in den anderen „westlichen“ Staaten. Overhaus merkt an, der klare Wahlsieg Trumps im November 2024 deute darauf hin, dass das liberale Verständnis der Pax Americana nun endgültig Geschichte sein könnte. Zugleich erinnert er an die Kritiker US-amerikanischer Politik, deren Auffassung zufolge die USA durch das Drängen auf die NATO-Osterweiterungen das Problem mit Russland überhaupt erst geschaffen haben, „bei dessen Bewältigung sie unter Präsident Joe Biden dann eine führende Rolle beanspruchten“.

Overhaus behandelt das Thema „Europa und das Ende der Pax Americana“ in sechs Kapiteln. Das sind: (1) Der Niedergang der Idee; (2) die politische Erosion im Innern der USA und deren außenpolitische Folgen; (3) die Frage, ob EU-Europa „Sicherheit gegen Russland“ ohne die USA erlangen könnte; (4) die Rivalität der USA mit China im Indopazifik; (5) die Frage, ob die USA einen „Exit“ aus den Krisen des Nahen Ostens erreichen könnten; (6) die „schwindende Macht“ der USA und die Unsicherheit des westlichen Europas.

Die „schwindende Macht“ der USA hat vor allem auch mit einer abnehmenden militärischen Glaubwürdigkeit zu tun. So hätte China es vor einem Vierteljahrhundert gewiss nicht gewagt, die USA in der Taiwan-Straße herauszufordern, Russland wäre nicht in die Ukraine einmarschiert und Iran hätte sich nicht getraut, Israel mit Raketen anzugreifen. Dabei spielen zunächst militärische Faktoren eine Rolle; aber der Verlust eigener militärischer Dominanz hat – so ein Fazit von Marco Overhaus – auch die USA selbst verunsichert, trotz der welthöchsten Militärausgaben. Zugleich hat das Bestreben, liberal-demokratische Werte weiter zu verbreiten, der Welt nicht mehr Sicherheit oder das „Ende der Geschichte“ gebracht, sondern wurde immer deutlicher zu einem „Konflikttreiber“. Die Frage nach wirtschaftlicher Offenheit wird heute nicht mehr danach beantwortet, ob der wirtschaftliche Austausch allen Seiten nützt, „sondern wer den größten Profit daraus zieht bzw. bei wem dieser Austausch größere Abhängigkeiten schafft“. Insofern gelte es, die transatlantischen Beziehungen neu zu denken.

Am Ende folgert der Autor, dass die Multipolarität, die von Russland, China oder Iran betont wird, „eine illiberale Weltordnung“ beschreibe. Die europäische Sicherheit dagegen müsse mit „liberal-demokratischen Werten verknüpft“ sein. Sie würden die politische und rechtliche Grundlage von EU und NATO bleiben. Das westliche Europa müsse damit „einen effektiven Beitrag zu diesem Modell der ‚multilateralen Multipolarität‘ leisten“. Overhaus benutzt den Begriff „friedliche Koexistenz“ nicht, stellt sich das Ringen auf dem Feld der multilateralen Multipolarität aber eher als Wettbewerb denn als Kampf vor. Allerdings bedürfe es dafür „eines kollektiven politischen Willens“ innerhalb der EU. Doch der sei immer weniger zu sehen.

In Bezug auf das Verhältnis der USA zu Russland und den Ukrainekrieg betont Overhaus, die „eigentliche Ursache“ liege „weniger in militärischen oder territorialen Fragen, sondern vor allem in den unvereinbaren Wertvorstellungen über die innere und äußere Ordnung Europas. Genau das hat den Konflikt mit Russland so schwer verhandelbar gemacht.“ Verfechter der Pax Americana würden hier eine entscheidende Rolle im Verhältnis zu Russland sehen. Kritiker dagegen sehen diese Werte „als zweitrangig bzw. vorgeschoben“ an. Entscheidende Konflikttreiber seien „amerikanisches Dominanzstreben und westliche Arroganz“. Entscheidend sei daher, ob unter der zweiten Trump-Regierung Werte und Sicherheit in Europa entkoppelt werden.

In diesem Sinne war Merzens Versammlung der „Sieben Zwerge“ möglicherweise das letzte Aufbäumen des Werte-Eifers. Und Trumps Anchorage-Treffen womöglich der Ort, an dem die Entkopplung vollzogen wurde.

Marco Overhaus: Big Brother Gone. Europa und das Ende der Pax Americana. Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt a.M. 2025, 288 Seiten, 24 Euro.