28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

Vorwärts mit dem Blick in den Rückspiegel

 von Joachim Lange

Auch wenn neben dem unerwarteten Triumph Österreichs beim European Song Contest die Wiener Festwochen von Mitte Mai bis Ende Juni das Kulturleben der österreichischen Hauptstadt dominieren, kann man unabhängig davon wie immer zwischen den Opernhäusern und Theatern pendeln und wird allemal gut bedient.

In diesem Jahr mit einem ganz besonderen Schmankerl. Die Festwochen können sich derzeit mit dem Elfriede-Jelinek-Stück „Burgtheater“ schmücken. Das ist zwar nicht neu, denn seine Uraufführung erlebte es schon 1985 in Bonn. Da es aber um das den Österreichern heilige Burgtheater und da vor allem um die Verstrickungen der Schauspieler-Dynastie Hörbiger mit der Nazivergangenheit geht, führte das seinerzeit (lange bevor es den Begriff gab) zu einem solchen Shitstorm gegen die Autorin, dass die spätere Literaturnobelpreisträgerin mit einem Aufführungsverbot ihres Stückes an eben diesem Burgtheater reagierte. Jelinek und ihre Landsleute haben sich längst vertragen – 1998 wurde Einar Schleefs ausufernde Uraufführung ihres „Sportstücks“ ein spektakulärer Schlusspunkt der Land und Leute aufregenden Ära von Intendant Claus Peymann.

Zu einer ähnlich markerschütternden Singularität bringen es jetzt weder das „Stück zum Haus“ in der Bearbeitung des regieführenden Festwochen-Intendanten Milo Rau noch die aufgebotene Frauenpower von Birgit Minichmayr über Caroline Peters bis Mavie Hörbiger. Die spielt hier ihren Großvater Paul Hörbiger. Als Deutsche im Ensemble spielt die Peters Attila Hörbiger und Birgit Minichmayr dessen Ehefrau, die Ikone Paula Wessely. Die Trauerbeflaggung an der Fassade des Hauses galt Elisabeth Orth, der am Vortag verstorbenen Tochter der beiden. Die hatte schon mit ihrer Namens(ab)wahl ein Zeichen gesetzt, war eine grandiose Schauspielerin und die engagierte Doyenne des Ensembles. Birgit Minichmayr hatte in der „Posse mit Musik“ das heikle Privileg, jenen deutschtümelnden Wessely-Monolog aus dem Nazi-Machwerk „Heimkehr“ vorzutragen, der nach dem Krieg für die ungebrochen zu ihren Bühnenidolen haltenden Österreicher zum Exempel einer Konfrontationstherapie mit der eigenen Vergangenheit avancierte. Dass sie den Balanceakt zwischen aufgerufener Erinnerung und gleichzeitiger Distanzierung brillant bewältigen würde, war klar. So sensationell an diesem Ort, wie es tut, ist dieses kontaminierte Zitat allerdings auch wieder nicht. Johann Kresnik hatte die unsägliche Passage bei seiner „Wiener Blut“-Inszenierung schon 1999 als filmisches Originalzitat auf dieser Bühne wirken lassen. Die Minichmayr-Wessely sagt danach: „Auch ich bin das Volk. Ich bin ganz allein das Volk. Ich ganz allein bin ein ganzes Volk, weil ich so vielseitig bin.“ Und glaubt es sich. So, wie man es der Wessely einst glaubte.

Milo Rau hat die Vorlage kräftig gekürzt, das Personal mit zwei jungen Theater-Podcastern erweitert und den Darstellern Raum für Eigenes gegeben. Attila-Darstellerin Caroline Peters berichtet, dass sie als junges Mädchen in Bonn mit ihrem Vater bei der Uraufführung sogar dabei war. Und dass deutsche Schauspieler im Ausland noch immer mit Vorliebe auf bestimmte Rollen festgelegt sind. In der Beziehung kann auch die Ungarin Annamária Láng mithalten. Sie wurde zwar ins bei Marin Kusej bewusst diverse Ensemble engagiert, ist dort aber meist die ungarische Bedienstete. Der Israeli Itay Tiran wagt sich sogar auf das verminte Gelände der gegenwärtigen Kriegsführung Israels vor.

Wenn auf der Bühne „Gebt Gas, ihr Germanen, wir schaffen die 7. Million“ grölend zitiert wird, stockt einem schon mal der Atem. Da glaubt man für einen Moment die Jelinek-These, dass Österreich das einzige Land ist, das durch Erfahrung dümmer wird.

Wenn man aber das Privileg der immerwährenden Wiener Festwochen nutzt und in der Volksoper „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ besucht, verlässt man das Haus mit der Hoffnung, dass dieses Jelinek-Zitat doch nicht für das Buch der goldenen Worte taugt. Obwohl diese exemplarisch geglückte Melange aus Operetten-Schmäh und packend verhandelter Zeitgeschichte aus dem Jahr des „Anschlusses“ Österreichs an Hitlers Nazi-Reich schon 2023 Premiere hatte, bringt es diese Produktion immer noch auf ausverkaufte Vorstellungen, die gebannt verfolgt und mit stehenden Ovationen honoriert werden.

Es geht um die Proben zu einer Operette, in die die politischen Umbrüche des Jahres 1938 erst verhalten und dann mit voller Wucht hineingrätschen. Was hier in der Volksoper passiert, bricht den Rassenwahn der Nazis auf die Ebene des Alltags der jüdischen Künstler. Mit einem Redeausschnitt des austrofaschistischen Kanzlers Kurt Schuschnigg und Hitlers Gebrüll auf dem Heldenplatz als Video-Einspieler. Und mit SA-Uniformen samt Hakenkreuz, mit denen plötzlich einige Choristen zur Probe kommen und den Intendanten und den Regisseur provozieren. Vor passender Kulisse wird die Operette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ des tschechischen Komponisten Jara Beneš (1897-1949) einstudiert, von der nur der Klavierauszug erhalten ist und den Keren Kagarlitsky neu orchestriert hat. Zeitgeschichtliche Verbindlichkeit wird durch musikalische Zugaben von Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Viktor Ullmann unterstrichen. Librettist Theu Boermans hat daraus ein so spannendes wie packendes und berührendes Gesamtkunstwerk gemacht, wie man es dem Genre Operette im Allgemeinen gar nicht zutraut.