28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

Terra est domus nostra

von Jürgen Hauschke

Nach der griechischen Mythologie trägt der Titan Átlas am westlichen Rand der damals bekannten Welt das Himmelsgewölbe. Nach ihm benannt werden seit dem 16. Jahrhundert geographische Kartenwerke, was auf Gerhard Mercator zurückgeht. Ebenso wie sein Bruder Prometheus wurde Atlas von Zeus bestraft. Beide wurden durch die Mythologie „unsterblich“ in ihrer Bedeutung für die menschliche Geschichte.

Vor über zwei Jahren, im Blättchen 24/2022, besprachen wir den Atlas „Die Geschichte der Welt“. Der „Historiker unter den Kartographen“ Christian Grataloup hat einen „Folgeatlas“ geschaffen. Er trägt den Titel „Die Geschichte der Erde“.

Es beginnt mit dem „Urknall“ vor 13,8 Milliarden Jahren. Die Erde entstand vor 4,5 Milliarden Jahren und wird – folgt man Grataloup – in 10 Milliarden Jahren aufhören zu existieren. Unabhängig vom menschlichen Tun oder Unterlassen wird sie in etwa ein bis zwei Milliarden Jahren unbewohnbar für Menschen sein. Abhängig von diesem Tun oder Unterlassen kann der Prozess durch den Menschen beschleunigt werden. Hier liegt die Verantwortung des Menschen für den Planeten als seine Lebensgrundlage. Die Erde ist unser Haus.

Ob das gesamte Universum endlich oder unendlich ist, sei dahingestellt, das weiß auch Grataloup nicht, bekennt sich aber ausdrücklich zu verantwortungsbewusstem menschlichem Agieren.

Er gliedert seinen Atlas in acht große chronologisch geordnete Kapitel: Vom Urknall zum Planeten Erde. Vom Kern zur Stratosphäre. Planet des Lebens. Ein Tier unter Tieren: der Mensch. Domestizierung. Die Ära der Landwirtschaft. Die Globalisierung der Ressourcen. Das Kohlezeitalter. Der überlastete Planet.

Neu gegenüber dem vorherigen Atlas sind in die Kapitel eingestreute Doppelseiten mit dunklem Hintergrund. Auf ihnen werden historische Augenblicke der Wissenschaften vorgestellt. Schwerpunkte, die beispielhaft zeitgenössische gesellschaftliche Themen betreffen, als ein Nachhall von Fragestellungen der Vergangenheit.

Auf den abschließenden „dunklen Seiten“ wird zum Beispiel diskutiert, ob der Begriff „Anthropozän“ für ein neues geologisches Erdzeitalter gerechtfertigt sei. Und wenn ja, wann dieses neu ausgerufene Zeitalter beginnt und das bisher geltende Holozän ablöst. Die Menschheit sei inzwischen eine verändernde Kraft auf dem Planeten, die mit den Bewegungen der Erdplatten, Vulkanausbrüchen und Meteoriteneinschlägen vergleichbar sei. Der Wissenschaftler Paul Crutzen schlägt als Anfangspunkt für das neue Zeitalter die Entwicklung der Dampfmaschine vor – das Symbol der Industrialisierung.

Die über 300 Karten und fast ebenso viele Grafiken des Buches sind eindrucksvoll. Sie ermöglichen dem Betrachter oft überraschende Blicke auf Zusammenhänge und Entwicklungen, die sonst nicht so leicht zu erfassen sind.

Auf der Weltkarte „Der Kolumbianische Austausch“ (nach dem Begriff „Columbian Exchange“ von Alfred Crosby) lässt sich etwa verfolgen, wie der Mensch domestizierte und wilde Pflanzen und Tiere in alle Ökoregionen verbreitet, in denen sie überleben können. Die größte Vermischung ereignete sich in der Folge der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, deshalb diese Kartenbenennung.

Oder die Karte „Kriege und Umweltzerstörung“ – sie besticht durch unzählige Punkte, die Positionen der Wracks des Zweiten Weltkriegs in den Ozeanen kennzeichnen. Eine Nebenkarte bildet den örtlichen und quantitativen Einsatz des Unkrautbekämpfungsmittels Agent Orange durch die US-amerikanische Armee in Vietnam und die dadurch entlaubten Gebiete ab. „Veränderung“ der Umwelt zu militärischen Zwecken.

Christian Grataloup und seinen 29 Mitautoren ist ein rundum empfehlenswertes Buch gelungen, in das der Leser sich immer wieder aufs Neue hineinziehen lassen kann, um darin kreuz und quer zu schmökern. Jedes Mal endet das zielgerichtete oder zufällige Blättern im Buch mit dem Gewinn von Erkenntnissen.

 

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Der Begriff Geopolitik ist in aller Munde. Die Berliner Zeitung am Wochenende etwa benennt ihr außenpolitisches Zeitungsbuch mit der großen Überschrift „Geopolitik und Wissen“. Häufig wird heutzutage Geopolitik als Synonym für das raumbezogene, außenpolitische Agieren von Großmächten im Rahmen einer politischen Strategie bezeichnet. Die engere wissenschaftliche Begriffsbedeutung versteht unter Geopolitik das Einwirken geographischer Faktoren auf politische Vorgänge und Kräfte.

Beide Sichten werden in dem Band von Émilie Aubry und Frank Tétart mit dem Untertitel „Ein geopolitischer Atlas“ eingenommen. Die Welt der Gegenwart wird aus geopolitischer Sicht betrachtet. Ausgewählt wurden von den Autoren „28 Reiseziele“, um die Geopolitik dieser Welt zu beschreiben und zu verstehen. Beispielhaft seien Israel und Palästina (Der wiederentflammte Krieg), China (Machtstreben in alle Richtungen) oder die Türkei von Recep Tayyip Erdoğan (An der Schnittstelle zweier Welten) genannt.

So bestimmt die Geopolitik heute mehr und mehr unser tägliches Leben, von der Pandemie über den Krieg in der Ukraine bis zum beschleunigten Klimawandel. Die Feststellung, dass im 21. Jahrhundert niemand die übrige Welt ausblenden kann, ist eine Binse, die im Grunde auch schon in vorigen Jahrhunderten – vielleicht weniger ausgeprägt – galt.

„Vom Ukrainekrieg über den Nahostkonflikt bis zur Krise in der Sahelzone, von der Grenzfrage und der gesellschaftlichen Spaltung in den USA bis zu Chinas Griff nach der Vorherrschaft im Indopazifik – die Macher der ARTE-Erfolgssendung „Mit offenen Karten“ Émilie Aubry und Frank Tétart führen uns in ihrem einzigartigen Atlas überall dorthin, wo im 21. Jahrhundert die entscheidenden Konflikte um Land, Ressourcen und die Zukunft der Demokratie stattfinden. Sie durchstreifen die Kontinente und berichten von den wichtigsten geopolitischen Umwälzungen der Gegenwart.“ So bewirbt der Verlag sein Buch, das diesen Anspruch weitgehend einlöst. Über die ökonomischen Grundlagen der aktuellen Geopolitik hätte der Verfasser dieser Zeilen mehr erfahren wollen.

Christian Grataloup: Die Geschichte der Erde. Ein Atlas. Unter Mitarbeit von Charlotte Becquart-Rousset, Léna Hespel und Héloïse Kolebka, Aus dem Französischen übersetzt von Frank Sievers, Martin Bayer, Nele Boysen und Jens Hagestedt, C.H. Beck, München 2024, 320 Seiten, 38,00 Euro.

Émilie Aubry / Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart. Ein geopolitischer Atlas. Aus dem Französischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube, C.H. Beck, München 2024, 224 Seiten, 29,00 Euro.