28. Jahrgang | Nummer 11 | 16. Juni 2025

Hinkende Geschichtsvergleiche

von Erhard Crome

Bereits 2016, lange vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022, publizierte die FAZ einen Leserbrief, in dem die SPD beschimpft wurde, weil sie damals gegen eine Verschärfung der Russland-Sanktionen eintrat. „Es kommt mir vor“, so der Briefschreiber, „als müsse ich die Jahre 1938/39 noch einmal durchleben mit Politikern, die auf der Appeasement-Welle reiten […] Später erhalten sie dann die Quittung, die aber anders ausfallen wird als erwartet. Ihre Nachsicht wird ihnen nicht als Entgegenkommen, sondern als Dumm- und Feigheit angerechnet werden. Herren wie der, der jetzt in Moskau am Ruder ist, verstehen nur Härte. Insofern sollten die Sanktionen so hochgeschraubt werden, bis sie richtig wehtun. Eine solche Haltung einzunehmen, hat 1938 Chamberlain schon versäumt.“ Die hier geltend gemachte Argumentation durchzieht seither die Propaganda des deutschen öffentlich-rechtlichen Senderwesens und der Mainstream-Medien.

Schon die Grundannahme ist falsch. Die EU bastelt im Juni 2025 bereits am „18. Sanktionspaket“ gegen Russland, nur hat all dies nach wie vor nicht dazu geführt, dass Russland Politik und Kriegsführung ändert. Zugleich meint man hierzulande, für die gewollte Kriegsführungsfähigkeit ein Feindbild brauchen zu sollen. Da kommt „der Russe“ gerade recht. Nur ist die „russische Gefahr“ für die NATO-Staaten weder aus einer ernstzunehmenden Analyse der russischen außenpolitischen oder strategischen Interessen abzuleiten, noch ergibt sie sich aus dem bisherigen Verlauf des russischen Ukraine-Krieges; der bleibt eher deutlich hinter dem zurück, was offenbar Putin von seiner Generalität versprochen worden war. Deshalb wird auf andere Erklärungsmuster zurückgegriffen, darunter intrinsische Expansionsgelüste Russlands, etwa eine „seit dem Mittelalter bestehende Gewaltkultur des Moskauer Staates“ als Handlungsmotiv, meint der Historiker Martin Schulze Wessel. Oder auf angebliche Persönlichkeitsmerkmale des russischen Präsidenten als Ursache für den Krieg, hier die Behauptung von „imperialen, historisch verblendeten Machtfantasien des Herrschers im Kreml“, so der frühere Kanzler Olaf Scholz.

Es lohnt jedoch, sich auch die „Appeasement“-Politik des damaligen britischen Premierministers Neville Chamberlain noch einmal anzusehen. Bereits unter seinen Amtsvorgängern Ramsay MacDonald und Stanley Baldwin war die britische Politik seit Anfang der 1930er Jahre darauf gerichtet, deutschen Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrages nachzugeben und dadurch den Frieden in Europa zu erhalten. So nahm Großbritannien die Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 in Deutschland und die Besetzung der entmilitarisierten Zone im Rheinland 1936 – beides entgegen den Bestimmungen von Versailles – ebenso hin wie den „Anschluss“ Österreichs im März 1938, den es wegen mangelnder Gegenwehr als innere Angelegenheit des Deutschen Reiches und Österreichs betrachtete. Als dann auch die Angliederung des mehrheitlich von Deutschen bewohnten Sudetenlandes an das Deutsche Reich gefordert wurde, kamen die Regierungschefs von Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland Ende September 1938 in München überein, über das Schicksal der Tschechoslowakei zu bestimmen, ohne dass deren Regierung daran beteiligt wurde. Die Zerschlagung der Tschechoslowakei ging jedoch weiter, Polen erhielt aus dem Bestand Schlesiens das Olsa-Gebiet, Ungarn Teile der Südslowakei und der Karpato-Ukraine; im März 1939 wurde die „Rest-Tschechei“ (so der damalige Nazi-Jargon) direkt in das Deutsche Reich eingegliedert, die Slowakei wurde ein formal selbstständiger Staat unter dem „Schutz“ Deutschlands – worauf sich die slowakischen Nationalisten Anfang der 1990er Jahre wieder beriefen. 1939 gab Großbritannien zusammen mit Frankreich jedoch verbindliche Bündniszusagen für Polen und Griechenland ab, die nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wirksam wurden.

Die Lesart, die 1930er Jahre als Jahrzehnt vertaner Gelegenheiten zu betrachten, weil versäumt wurde, rechtzeitig ein Bündnis gegen Deutschland zu schmieden, geht nicht zuletzt auf Winston Churchill zurück. Er war eine starke, wenngleich zunächst recht einsame Stimme der konservativen Opposition gegen Chamberlain und seine Regierung. Sodann hatte er nach Übernahme des Amtes des Premierministers im Mai 1940 das Angebot Hitlers zu einem Verständigungsfrieden abgelehnt und führte den Krieg weiter, am Ende in der Anti-Hitler-Koalition mit der Sowjetunion und den USA bis zum Sieg. Nach dem Krieg hat er ein voluminöses Geschichtswerk über den Zweiten Weltkrieg verfasst, das seine Darstellung der Entwicklungen enthält.

Ungeachtet dessen haben Fachhistoriker auch die Akten Chamberlains und seiner Mitarbeiter ausgewertet. Ihnen gilt er nicht als der „verzagte Tor“, den seine Kritiker beschrieben haben. Vielmehr betrachteten sie die „Beschwichtigung“ als den einzigen Weg, „um die Macht des Vereinigten Königreichs und seines Empires zu erhalten“ (John Charmley). Großbritannien ähnelte Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg: „ein Reich, das im Kriegsfall alles zu verlieren und nichts zu gewinnen hatte“. Es ging darum, die Interessen eines Imperiums zu wahren, das an „Überdehnung“ litt. Chamberlain war überzeugt, „eine Wiederholung des Ersten Weltkrieges würde die Fundamente der britischen Macht vollends untergraben“. Es sei besser, die Kräfte zu schonen, statt sie zu verbrauchen; ein neuer Krieg brachte das Risiko mit sich, das Empire bankrott zu machen und die USA in die Rolle eines Schlichters zu setzen, die sie am Ende des Ersten Weltkrieges bereits beansprucht hatten.

Darüber hinaus kam eine spezifische politische Erfahrung zur Geltung: Es waren dieselben Männer, „die mit Hilfe einer geschickten und wendigen Politik in Indien so viel reale Macht wie irgend möglich zu behalten suchten“. Hintergrund war die Verstärkung der Unabhängigkeitsbewegung in Indien, der wertvollsten „Kronkolonie“ im Empire. Ende 1929 hatte der Indische Nationalkongress das Ziel der Befreiungsbewegung verkündet, die volle Unabhängigkeit zu erreichen. Anfang 1930 rief Mahatma Gandhi die Bewegung des zivilen Ungehorsams ins Leben. 1931 vereinbarte der britische Vizekönig jedoch mit Gandhi den Abbruch des Feldzugs des zivilen Ungehorsams. 1935 wurde ein neues Gesetz zur Regierung Indiens erlassen, das Britannien die wirtschaftliche und politische Herrschaft sicherte und den feudalen und bürgerlichen Schichten Indiens eine Mitsprache einräumte.

Chamberlain und seine Mitstreiter sahen Hitler wie Gandhi „beide als Herausforderungen, denen es sich zu stellen galt. Im Bewusstsein der Fragilität britischer Macht zogen sie es vor, sie nicht mit militärischen Mitteln zur Geltung zu bringen, solange ihnen eine andere Wahl blieb“. Da es in dem einen Fall funktioniert hatte, wurde geschlossen, dass es auch in dem anderen so sein könnte.

Churchill führt in seinem Werk über den Zweiten Weltkrieg all die Fehleinschätzungen an, die in London und Paris seit 1936 getroffen wurden, die alle die militärischen Fähigkeiten Deutschlands zu jener Zeit überschätzten. Dabei konnte er sich allerdings auf die Aussagen stützen, die Nazi-Führer, hohe Militärs und Diplomaten während der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse gemacht hatten. Insofern räumt er einen grundsätzlichen Unterschied ein zwischen Politikern, die von einem Tag zum anderen leben und handeln müssen, und den Historikern, die alles in Ruhe und im Nachhinein analysieren können.

Am Ende schätzt auch Churchill in seinem Geschichtswerk ein, dass Großbritannien 1938 auf Fliegerangriffe auf London „jämmerlich schlecht vorbereitet gewesen“ wäre. Es wurde begonnen, die älteren britischen Doppeldecker durch die modernen „Hurricane“ und „Spitfire“ zu ersetzen, die den deutschen Me 109 ebenbürtig waren. Im Juli 1940 verfügte Britannien über 47 moderne Jagdgeschwader, um die „Schlacht um England“ erfolgreich führen zu können. Der Zeitgewinn war nicht die erklärte Absicht der Appeasement-Politik, aber er wurde genutzt. Historisch lag Chamberlain jedoch richtig: Mit dem Zweiten Weltkrieg wurden die USA und die Sowjetunion globale Weltmächte, während das Empire verschwand und Großbritannien in die Reihe der größeren Mächte europäischen Maßstabs zurücktreten musste.

Das alles hat jedoch nichts damit zu tun, dass heute mit Russland verhandelt werden muss, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Die permanente Verteufelung dessen als „Appeasement“ geht in die falsche Richtung; sie hat weder mit der damaligen britischen Politik noch mit der heutigen Lage zu tun. Es ist lediglich eine Propagandafloskel.