Die Violine ist Sherlock Holmes‘ wichtigstes Requisit. Der Grafiker Klaus Ensikat hat ihn so porträtiert – die Geige am Kinn, exakte Bogenhaltung, mit langer Nase und langen Fingern, hässlich wie Paganini. Aber kaum jemand hat sich gefragt, welche Rolle diese Geige im Leben des Detektivs aus der Londoner Baker Street 221 B spielt. Die Quellenlage ist schlecht, besonders wenn man weder in den Archiven von Scotland Yard gewühlt noch wenigstens eine Biografie des Holmes-Erfinders Arthur Conan Doyle gelesen hat. Doch schon die ersten Leser der Sherlock‑Holmes‑Geschichten gingen davon aus, dass der 1859 geborene britische Arzt und Schriftsteller Conan Doyle und Sherlock Holmes ein und dieselbe Person sind. Mit anderen Worten – dass in den phantastischen Geschichten ein Gran autobiografische Wahrheit steckt.
Ich gehe also wie Sherlock Holmes selbst vor, indem ich die zutage liegenden, aber stets übersehenen Fakten kombiniere. Die Frage lautet: Warum spielt Sherlock Holmes Geige? Daran schließt sich die zweite: Warum wird das von Dr. Watson, den der Autor als Kunstfigur zwischen sich und seinen Helden schiebt, verschwiegen? Denn wir treffen auf die auffallende Tatsache, dass die Geige am ausführlichsten in der allerersten Detektiv‑Erzählung, der „Studie in Scharlachrot“, abgehandelt wird, später immer seltener und schließlich gar nicht mehr vorkommt.
Die Erklärung ist simpel: Dr. Watson litt an einer pathologischen Überempfindlichkeit des Gehörs. Das Leiden rührte, wie er selbst in der erwähnten Erzählung mitteilt, aus der blutigen Schlacht von Maiwand in Afghanistan, in der die Briten am 27. Juli 1880 unterlagen – wie Sowjets und Amerikaner ein Jahrhundert später. Der Knall einer afghanischen Granate aus britischen Beständen schädigte das Gehör des Stabsarztes und machte es überempfindlich gegen Musik. Fortan wich er ihr aus. Nie besuchte er gemeinsam mit Sherlock Holmes ein Konzert, und wenn Holmes selbst zur Geige griff, riss er aus, weil ihn dessen Spiel an die Granate erinnerte.
Diesen Umstand machte sich Sherlock Holmes zunutze. Er verwendete das Instrument als Waffe, mit der er den redseligen Freund vertrieb, wenn er der Ruhe bedurfte. Der arglose Watson erwähnt das selbst, ohne allerdings den auf ihn gerichteten Zweck zu begreifen, wenn er davon spricht, dass Holmes die Angewohnheit hatte, die Augen zu schließen und unachtsam auf der Violine herumzukratzen. Entsprechend klingt es. Das ist die Violine als Waffe.
Freilich pflegte Holmes die „nervenzermürbenden Soli“, wie sie Watson nennt, am Ende mit einem Potpourri von dessen vermeintlichen Lieblingsmelodien zu mildern, die der unmusikalische Arzt für „Lieder von Mendelssohn“ hält, während es in Wirklichkeit Schlager von Arthur Sullivan gewesen sein dürften. So musikalisch geht es noch in der „Studie in Scharlachrot“ zu. Später ertönt kein einziger Geigenton mehr in den Erzählungen, ob in den „Tanzenden Männchen“, dem „Verschwinden der Lady Carfax“ oder dem „Teufelsfuß“. Wahrscheinlich war Watson immer schon auf der Flucht, ehe Holmes zur Geige griff. Auch Holmes selbst spricht auffallend wenig von seinen musikalischen Interessen. Er verhehlt sie geradezu. Auf den vielen tausend Seiten seiner Abenteuer tritt nur ein einziges Mal eine namhafte Geigerin auf, die tatsächlich beim Namen genannt wird. Es ist „Lady Norman Neruda“. In der fiktiven Welt rätselvoller Verbrechen wahrscheinlich der einzige Mensch, der wirklich existiert hat. Wilma Franziska Neruda entstammte einer böhmischen Musikerfamilie und wurde 1838 in Brno geboren. Als sie 1911 in Berlin starb, hatte sie den Zenit ihres Ruhms längst überschritten, und kaum einer erinnerte sich noch ihrer großen Tage. Aber in den 80er Jahren, als Conan Doyle seine Schriftstellerlaufbahn begann, galt sie in London als „Geigenfee“ und „weiblicher Paganini“. Kein Geringerer als Hans von Bülow verlieh ihr die ehrenvollen Titel. In London wirkte sie seit 1864, wo sie den schwedischen Komponisten Ludvig Norman heiratete und fortan den Doppelnamen Norman-Neruda führte, den sie beibehielt, als die Ehe fünf Jahre später scheiterte. Conan Doyle könnte von Kindheit an ihr Verehrer, möglicherweise sogar ihr Schüler gewesen sein.
Erzogen war die Geigerin in der Mendelssohnschen Tradition, sie liebte Spohr und Brahms und verabscheute Wagner, was ihr den Spott George Bernard Shaws eintrug, der an krankhafter Wagneritis litt. In einer seiner Kritiken im Londoner Star erinnerte er sie wenig gentlemanlike an ihr Alter, als sie die Fünfzig bereits überschritten hatte, und setzte sie ironisch gegen das junge belgische Geigengenie Eugène Ysaye herab. Als sie am 4. März 1881 im Londoner Kristall‑Palast ein Violinkonzert von Louis Spohr vortrug, befand Shaw: „Ich hörte sie vor zwölf Jahren dasselbe Konzert so vollendet spielen, dass es ungerecht gegen sie wäre, wollte ich behaupten, sie wäre damals nicht besser gewesen als heute.“ Watson erwähnt in der „Studie in Scharlachrot“, dass Sherlock Holmes das gleiche Konzert besucht hat und enthusiasmiert war. Auf jeden Fall ist es eine bahnbrechende Vorstellung, dass Shaw und Holmes im gleichen Konzert gesessen haben könnten, womöglich nebeneinander – der eine verzückt den Klängen nachlauschend und die Spielerin mit Augen verschlingend, der andere griesgrämig („Wieder eine antiwagnerische Veranstaltung!“) und mit zusammengekniffenen Mundwinkeln über die Witze nachdenkend, die er anderntags den Zeitungslesern auf Kosten der Künstlerin auftischen könnte.
Sherlock Holmes muss die Neruda abgöttisch verehrt haben, denn das Konzert beschäftigt ihn den ganzen Tag, und er nervt den armen Watson inmitten detektivischer Kombinationen mit Exkursen über Stradivari‑ und Amati‑Geigen. Das Idol spielte nämlich eine Stradivari, die ihr der Herzog von Edinburgh und der Earl von Oudley und Hardwicke geschenkt hatten. Das war für einen Detektiv, der in einem leeren Hause in der Brixton Road gerade einen toten Mann gefunden hatte, auf jeden Fall ein etwas abgelegenes Thema. Vom toten Mann kommt er zur Stradivari und von dort zum Konzert: „Der scharlachrote Faden des Mordes verläuft durch das farblose Knäuel des Lebens, und unsere Pflicht ist es, ihn zu entwirren … Und jetzt ein Lunch und danach die Norman‑Neruda.“
Musik ist ihm aber kein bloßes Mittel der Entspannung und Ablenkung. Sie ist das Tor zu einer uralten, prälogischen und begriffslosen Anschauungswelt. Dr. Watson lehnt diese Spekulationen ab. Er sieht in seinem Freund ausschließlich den strengen, unbestechlichen Logiker. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Seinen Scharfsinn verwendet Holmes beim Sammeln von Indizien und Spuren. Da legt er die Logik beiseite und taucht in den abgründigen See der Meditation, und dorthin begleitet ihn – wie Winnetou im Film bei seinen Ritten durch die Savanne – ein sinfonisches Orchester oder wenigsten eine Violine. Er begibt sich damit zurück in die Kindheitsphase der Menschheit, wo Sprache, Logik und das Lügen noch nicht erfunden waren. Wenn die sprachlogische Verhüllung fällt, zeigen sich die nackten Tatsachen und der „rote Faden des Mordes“ tritt hervor. Auf die Meditation folgt die Inszenierung der Täter‑Entlarvung. Sie ist melodramatisch und verwandelt die Wirklichkeit in eine theatralische Szenerie, die den Täter überrumpelt und zum Geständnis zwingt. Während Verdi ein Libretto benötigte, um die Musik zu erfinden, brauchte Holmes die Musik, um das Libretto des Verbrechens zu erfinden. So dachte nur ein einziger Komponist: Arnold Schönberg. Er komponiere seine Lieder „berauscht vom Klang der ersten Worte“ und ohne die Texte zu Ende zu lesen. Wenn er mit dem Komponieren des ungelesenen Gedichts fertig war, fand er, dass er den Sinn der Verse besser getroffen habe als der Dichter selbst. Das könnte auch von Sherlock Holmes stammen.
Zurück zu Lady Norman‑Neruda. Unter Pseudonymen und falschen Berufen geistert sie durch mehrere Geschichten. Eine davon heißt „Skandal in Böhmen“. Auf den ersten Blick eine Parodie auf deutschen Adelsstolz, denn darin treten als handelnde Personen ein „Wilhelm Gottsreich Sigismund von Ormstein, Großherzog von Kassel‑Falstein und erblicher König von Böhmen“ und seine adlige Braut „Clothilde von Sachsen‑Meiningen“, die zweite Tochter des „Königs von Skandinavien“ auf. Der heiratslustige König leistete sich eine voreheliche Liebschaft zu einer Sängerin, und weil er den Skandal fürchtet, bittet er Sherlock Holmes um Hilfe. Aber die Sängerin, weit entfernt, den künftigen Herrscher mit ihrer Affäre zu erpressen, erweist sich als hochsinniger als der König und als scharfsinniger als Holmes, so dass beide am Ende beschämt bekennen müssen, dass sie eine bessere Königin gewesen wäre als die blasse Clothilde. Watson berichtet: „Für Sherlock Holmes ist sie die Frau geblieben. Selten habe ich gehört, dass er sie unter einer anderen Bezeichnung erwähnte. In seinen Augen beherrscht sie ihr ganzes Geschlecht und stellt es in den Schatten.“
Diese Frau, die in der Erzählung Irene Adler heißt, erinnert in vielem an Wilma Norman‑Neruda. Sie ist, um eine Generation verrückt, gleichsam deren spiegelverkehrtes Porträt. Die Wilma ist in Brno geboren, die fiktive Irene in New Jersey; Wilma errang in Paris ihre ersten Erfolge, Irene erringt sie in Warschau. In den 80er Jahren werden beide in London gefeiert. Die Geschichte der Irene Adler beginnt am 20. März 1888, und ihr wesentlicher Inhalt besteht darin, dass sie, statt die heimliche Geliebte des böhmischen Königs zu bleiben, einen angesehenen Londoner Juristen heiraten will. 1888 heiratete auch Wilma Norman‑Neruda zum zweiten Male, und zwar den Komponisten und Konzertunternehmer Sir Charles Hallé. Ob sie als Wilma dem Schriftsteller Arthur Conan Doyle begegnete, wissen wir nicht. Aber Doyle lässt sie als Irene Adler auf Sherlock Holmes treffen und ihn ؘ– dieses Idol der Allwissenheit – an der Nase herumführen. Sie verkleidet sich als Mann so geschickt, dass sogar das scharfe Auge des Detektivs sie nicht erkennt. Doch sein geigerisch geschultes Ohr vermag sie nicht zu täuschen. Als die Verkleidete ihn ironisch grüßt, murmelt er selbstvergessen: „Ich habe die Stimme schon einmal gehört.“
Sie entschwindet aus der Kriminalgeschichte wie ein Geigenton am Ende eines Konzerts. Zurück bleibt ein weiberfeindlicher Hagestolz, der künftig im Dienste Scotland Yards wahre Wunder an logischer Deduktion vollbringt, aber kaum je noch eine Gefühlsregung verraten wird. Sherlock Holmes – der Maschinenmensch, die zweibeinige Künstliche Intelligenz, die, scheinbar der Gerechtigkeit dienend, nur ein gefühlsamputierter Racheengel in Knickerbockern und kariertem Jackett ist. Alles Schöne ist aus diesem Gehirn entschwunden. Als ihm eine hübsche Musiklehrerin in der Erzählung „Die einsame Radfahrerin“ mitteilt, sie wohne „in der Nähe von Farnham, an der Grenze zu Surrey“, wird Sherlock Holmes ungerührt antworten: „Eine herrliche Gegend, und für mich voll der interessantesten Erinnerungen. Sie wissen doch, Watson, dass wir dortherum Archie Stamford, den Fälscher, geschnappt haben.“ Und trotzdem – durch diesen trockenen Kopf und durch die Geschichten von Arthur Conan Doyle schwebt die feine, von der Musikwelt längst vergessene Gestalt der Geigerin Wilma Norman‑Neruda, der bezaubernden Geigenfee, und ihr Spiel ist es, in deren Erinnerung die schwierigsten Kriminalfälle entwirrt werden. Das ist das wunderlichste Lob, das der Musik je gesungen wurde.
Schlagwörter: Arthur Conan Doyle, Gerhard Müller, Musik, Sherlock Holmes, Wilma Norman-Neruda