28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Zum NSU-Komplex – Bekanntes & Erwartbares

von Gabriele Muthesius und Ekkehard Sieker

Die Aufklärung des NSU-Komplexes durch die staatlichen Ermittlungsbehörden und die NSU-Untersuchungsausschüsse im Bundestag sowie in verschiedenen Bundesländern war bekanntermaßen äußerst langwierig und verlief insgesamt ziemlich stockend. Vom ersten dem NSU-Trio (Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe) zugeschriebenen Mord am 9. September 2000 in Nürnberg über das Auffinden der Leichname von Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 in Eisenach bis zur Urteilsverkündung im Münchner NSU-Prozess am 11. Juli 2018 waren die Vorgänge eine nicht endende Aneinanderreihung von falschen Ermittlungsansätzen, peinlichen Pannen, multiplem Behördenversagen und nicht zuletzt vorsätzlichen Vertuschungen wie jener Aktenschredderei im Bundeskriminalamt unmittelbar im Anschluss an die Auffindung der beiden Toten in Eisenach. Entscheidende Fragen, die das spätere offizielle Narrativ der Bundesanwaltschaft zum NSU-Komplex grundsätzlich infrage stellen – darunter auch die Annahme, es habe sich um eine isolierte Zelle gehandelt, die sämtliche Taten ohne Unterstützer vorbereitete und ausführte – sind bis zum heutigen Tage nicht geklärt:

  • Der behördlicherseits behauptete Suizid von Böhnhardt und Mundlos in ihrem Camper in Eisenach am 04.11.2011 ist weder mit den von der Gerichtsmedizin an der Uni Jena dokumentierten Totenflecken der Leichen noch speziell mit der Auffindesituation von Mundlos in Übereinstimmung zu bringen. Auch weitere Indizien sprechen für eine Tötung durch dritte Hand – siehe im Detail Blättchen 08/2017.
  • Insgesamt 27 Tatorte von Morden, Bombenattentaten und Banküberfällen haben die Behörden dem NSU-Trio zugeordnet. An keinem einzigen davon wurden jedoch irgendwelche forensischen Täterspuren (DNA, Fingerabdrücke et cetera) nachgewiesen – siehe ausführlich Blättchen 10/2017.
  • Nicht ausgeräumt ist der begründete Verdacht, dass das NSU-Trio nicht elf Jahre (2000 bis 2011) ohne Mittun des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen „unentdeckt“ bleiben konnte – siehe Blättchen 25/2016.

Zum letztgenannten Teilkomplex sowie zu dem Sachverhalt, dass Zschäpe nach Eisenach vier Tage ungehindert auf der Flucht war, bevor sie sich am 8. November 2011 stellte, hat BILD am Sonntag jetzt (30.03.2025) in einem Beitrag – betitelt „Zwölf Anrufe beim Geheimdienst“ – folgendes mitgeteilt: Zschäpe habe auf ihrer Flucht im November 2011 Mobiltelefone und mehrere SIM-Karten mit sich geführt. „Und bis heute wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet, wen Zschäpe anrief auf ihrer Flucht […]. […] BILD sprach nun mit mehreren Personen, die mit dem Fall befasst waren. Und sie bestätigen, unabhängig voneinander, Unerhörtes: Zschäpe rief auf der Flucht zwölfmal eine Nummer der Verfassungsschutzabteilung des Innenministeriums von Thüringen an!“ Und die BILD-Autoren Josef Hufelschulte und Peter Tiede fragen: „Warum meldete sich Staatsfeindin Zschäpe auf ihrer Flucht ausgerechnet beim Verfassungsschutz? Wollte sie Schutz, Hilfe, Rat, sich stellen? Drohte sie gar mit Enthüllungen? Oder: War sie eine Informantin der Geheimen, wie oft vermutet wird?“
Nicht weniger verwunderlich allerdings ist, dass der SPD-Politikerin und Anwältin Dorothea Marx, einst Vorsitzende der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse im Thüringer Landtag, die jetzige BILD-Enthüllung augenscheinlich gar nichts Neues sagt: „Zschäpe ‚hat zehnmal oder mehr‘ die Nummer der Abteilung Verfassungsschutz im Innenministerium Thüringen angerufen. So stehe es in Geheim-Akten. Wen die Terroristin auf der Flucht genau angerufen hat? Untersuchungsausschuss-Chefin Marx: ‚Das ist so lange her, ich kann mich nicht erinnern …‘“

Hat Marx demnach von den Zschäpe-Anrufen im Thüringer Innenministerium nicht nur gewusst, sondern offenbar auch wer da am anderen Ende der Leitung war? Und hat sie das, wie eine kursorische Durchsicht der uns vorliegenden Sitzungsprotokolle der Thüringer Untersuchungsausschüsse nahezulegen scheint, in der gesamten Ausschussarbeit nicht thematisiert? Ja, wie soll man das denn nun interpretieren?

 

PS: Dorothea Marx‘ Arbeit als Ausschussvorsitzende hat allerdings auch in anderen Zusammenhängen Fragen aufgeworfen – siehe Blättchen, 03/2017.

 

Zu weiteren Aspekten des NSU-Komplexes siehe Blättchen 26/2015, Sonderausgabe 05.09.2016, Sonderausgabe 14.11.2016, 23/2017 und Sonderausgabe 06.08.2018.