20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

NSU. Wann, wie und wo starben Mundlos und Böhnhardt?

von Gabriele Muthesius

Am Vormittag des 4. November 2011 fahndete die Polizei in Eisenach nach zwei Bankräubern, die gegen 9:10 Uhr[1] eine Sparkassenfiliale überfallen hatten. Im Zuge dieser Fahndung stießen um 12:00 Uhr zwei Streifenpolizisten im Eisenacher Ortsteil Stregda, in der Straße Am Schafrain, auf ein Wohnmobil vom Typ FIAT „Capron“. Während ihrer Annäherung, um 12:05 Uhr, hörten sie aus dem Camper Knall- oder Schussgeräusche, worauf sie in Deckung gingen. Sehr kurz darauf bemerkten sie im Fahrzeug ein Brandgeschehen, durch das der Camper in der Folge teilweise zerstört wurde. Während, respektive nach den Löscharbeiten der herbeigerufenen Feuerwehr wurden in dem FIAT zwei leblose menschliche Körper entdeckt – die Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, wie behördlicherseits später verlautbarte.
Auf Veranlassung des zuständigen polizeilichen Ermittlungsleiters vor Ort, des damaligen Gothaer Polizeidirektors Michael Menzel, wurde die kriminaltechnische Tatortbearbeitung am 4. November in Stregda und später in der Lagerhalle eines örtlichen Abschleppunternehmens, wohin das Fahrzeug auf Anweisung Menzels verbracht worden war, nicht nach der üblichen polizeilichen Routine durchgeführt. So wurden etwa vom Innenraum des Wohnmobils vor dessen Verladung über eine schräge Rampe auf das Abschleppfahrzeug keine dreidimensionalen Spheron-Aufnahmen gemacht, und auch die gesetzlich vorgeschriebene amtliche Totenschau sowie damit jegliche Untersuchungen zur Bestimmung des Todeszeitpunktes unterblieben. Letzteres gilt – ausweislich der Sektionsprotokolle – auch für die Obduktion der beiden Leichen, die am 5. November 2011 im gerichtsmedizinischen Institut der Universität Jena erfolgte. Leitender Obduzent: Dr. Reinhard Heiderstädt.
Trotzdem ist auf den amtlichen Totenscheinen, ausgestellt von Heiderstädt am 5. November, als Todeszeitpunkt exakt 12:05 Uhr am 4.11.2011 eingetragen.[2] Dies erfolgte durch direkte Einflussnahme von Menzel, wie aus einer von dessen späteren Einlassungen vor dem zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages hervorgeht.[3]
Auf welche Art und Weise Mundlos und Böhnhardt zu Tode kamen, war Gegenstand von Ermittlungen des Bundeskriminalamtes (BKA), das den Fall wenige Tage nach dem 4. November 2011 an sich gezogen hatte. Die BKA-Ergebnisse wurden der Bundesanwaltschaft übergeben und flossen in deren Anklageunterlagen für den Münchner NSU-Prozess ein – seltsamerweise in zwei Varianten:

  • In der Anklageschrift heißt es zunächst: Nachdem Mundlos und Böhnhardt durch das Auftauchen der Streifenpolizisten „nunmehr davon ausgehen mussten, dass ein Entkommen nicht mehr möglich sein würde, setzten sie (Hervorhebung – G.M.) das Wohnmobil in Brand. Einem schon zuvor für den Fall der Entdeckung gefassten Entschluss entsprechend töteten sie sich selbst, wobei Uwe Mundlos zunächst Uwe Böhnhardt und sodannsich (sic! – G.M.) selbst erschoss.“[4]
  • Etwa 200 Seiten weiter hinten findet sich die andere Version, der zufolge Mundlos allein den Brand gelegt haben soll: „Uwe Mundlos erschoss […] Uwe Böhnhardt mit einer Flinte Winchester und legte in dem Wohnmobil Feuer, bevor er sich selbst […] erschoss.“[5]

Es habe sich mithin um einen „erweiterten Suizid“[6] gehandelt. Die laut Ermittlungsbehörden dazu benutzte Pumpgun vom Typ Winchester 1300 Defender wurde neben der Leiche von Mundlos sichergestellt – „Verschluss offen, im Röhrenmagazin mind. 1 Patrone sichtbar“[7].
Da Mundlos und Böhnhardt aus behördlicher Sicht zum Zeitpunkt der Entdeckung des Wohnmobils durch die Streifenpolizisten noch am Leben waren[8], bestand somit auch Klarheit über den Ort des Versterbens der beiden Uwes.
Zusammengefasst lauten die offiziellen amtlichen Antworten auf die Frage, wann, wie und wo Mundlos und Böhnhardt zu Tode kamen, also bis zum heutigen Tage:

  • Wann? Am 4. November 2011, um 12:05 Uhr.
  • Wie? Durch erweiterten Suizid, das heißt, ohne Fremdeinwirkung.
  • Wo? Im Wohnmobil FIAT „Capron“ in der Straße Am Schafrain in Eisenach-Stregda.

Dieser offiziellen Version des BKA und der Bundesanwaltschaft widersprechen allerdings zahlreiche gravierende Indizien, Tatsachen und Ungereimtheiten, die vielfach recherchiert und publiziert worden sind – unter anderem von dem Sachthriller-Autor Wolfgang Schorlau und seinem Partner, dem Wissenschaftsjournalist Ekkehard Sieker. Schorlau hat dazu 2015 den dokumentarisch unterlegten Roman „Die schützende Hand“ publiziert. Auf der Grundlage des damaligen Erkenntnisstandes.
Dazu gehörte zuvorderst eine Kombination von Sachverhalten, die mit einem erweiterten Suizid nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Diese Sachverhalte beginnen damit, dass die angebliche Tatwaffe, eine Pumpgun, entladen war, was aufgrund der konstruktiven Eigenheiten dieses Waffentyps bei Selbstmord extrem unwahrscheinlich ist, und dass schusshandtypische Schmauchspuren an Mundlosʼ Händen und Bekleidung ebenso wenig nachzuweisen waren wie eine entsprechende, bei einem Brandgeschehen zu Lebzeiten zu erwartende Kohlenmonoxidkonzentration in Mundlosʼ Herzblut. Fortsetzen sich diese Sachverhalte damit, dass weder auf der vorgeblichen Tatwaffe noch auf den Patronen in deren Munitionskammer Fingerabdrücke gefunden wurden (auch nicht von Mundlos) und dass es sich bei der einen von zwei im Wohnmobil asservierten leeren Patronenhülsen, die aus der vorgeblichen Tatwaffe verschossenen worden sein sollen, um eine (von einem einschlägigen Experten befundete) volle Patrone handelt. Und diese Sachverhalte enden noch längst nicht damit, dass im Wohnmobil keinerlei organische Spuren asserviert wurden[9] und keine tatorttypischen Spritzmuster (Blut, Gewebereste und Knochensplitter) vorhanden waren, wie sie bei aufgesetzten Schädeldurchschüssen, sogenannten Krönlein-Schüssen, mit einer großkalibrigen Waffe üblicherweise entstehen.
Abgesehen von der von ihm verhinderten Leichenschau hat der leitende Ermittler vor Ort am 4. November 2011 überdies durch die Art und Weise des von ihm angeordneten sofortigen Abtransportes des Wohnmobils irreversible Veränderungen an der Spurenlage im Inneren des Fahrzeuges herbeigeführt und auch systematische kriminaltechnische Untersuchungen des Fahrzeuginnenraumes um Stunden verzögert. Die Leichenbergung begann überhaupt erst um 18:00 Uhr – zu einem Zeitpunkt, als eine teilweise oder vollständig ausgeprägte Totenstarre keinen sofortigen Hinweis mehr darauf ergeben musste, dass Mundlos und Böhnhardt zum Zeitpunkt ihres Auffindens schon längere Zeit tot waren und der Tatort Wohnmobil demzufolge von dritter Hand entsprechend hergerichtet worden sein musste. Von dieser Warte her erscheinen nicht zuletzt die teils dilettantischen und willkürlichen, von üblicher Tatortpraxis jedenfalls grob abweichenden Verhaltensweisen und Entscheidungen Menzels am 4. November in Stegda plötzlich durchaus schlüssig und „zielführend“.
All dies ist in früheren Blättchen-Beiträgen zum NSU-Komplex, beginnend mit einer Besprechung von Schorlaus Buch in der Ausgabe 26/2015, bereits ausführlich zur Sprache gekommen und belegt worden.[10]
Am 6. April nun ist eine Taschenbuch-Ausgabe von Schorlaus Roman erschienen, die gänzlich neue forensische Betrachtungen, Überlegungen und Schlussfolgerungen im Hinblick auf den Tod von Mundlos und Böhnhardt unterbreitet. Wolfgang Schorlau und Ekkehard Sieker hatten noch einmal die Todesumstände nachrecherchiert. Sieker sagte der Autorin zum Ausgangspunkt für die neuen Untersuchungen: „Schorlau und mir war aufgefallen, dass die Sektionsprotokolle der Gerichtsmedizin Jena nur Spärliches zu den Totenflecken der Leichen von Mundlos und Böhnhardt enthalten. Wir haben das in der Taschenbuch-Ausgabe so zusammengefasst: ‚Im Sektionsprotokoll der Gerichtsmedizin der Universitätsklinik Jena vom 28. November 2011 zu Uwe Böhnhardt findet man unter Punkt 13 folgenden Vermerk: ‚Zeichen des Todes vorhanden: […] Spärliche Totenflecke an der linken Körperrückseite unter Aussparung der Gesäßflächen […].‘ Weitere Totenflecken sind bei Böhnhardts Leiche nicht vermerkt worden. Im Sektionsprotokoll […] zu Uwe Mundlos findet sich überhaupt nichts Entsprechendes zu etwaigen Totenflecken.“[11]
Das sei verwunderlich, denn: „Erstens sind auch auf Obduktionsfotos von Mundlos Totenflecken erkennbar[12], und zweitens geben diese Flecken gegebenenfalls Auskunft darüber, ob die Körper der beiden nach deren Herzstillstand noch bewegt worden sind. Und das sind sie ohne Zweifel. Aber auch dazu – nichts in den Sektionsprotokollen, obwohl das schon ein Obduktionseleve mit Basiswissen über die Physiologie von Totenflecken festzustellen vermag.“
Die Taschenbuchausgabe enthalte zu dieser Physiologie, so Sieker weiter, einen auch für Laien verständlichen „Grundkurs“.[13]
Dessen Kurzfassung lautet folgendermaßen:
Die Ausbildung von Totenflecken – sie zählen zu den sogenannten sicheren und früh zu erkennenden Anzeichen des Todes – setzt bereits etwa 20 bis 30 Minuten nach Herzstillstand ein, weil sich nach dem Stopp der Blutzirkulation durch die Wirkung der Schwerkraft das Blut im Körper immer in den am tiefsten gelegenen Gewebepartien sammelt und dort grau-violette bis rötliche Flecken bildet, soweit es nicht durch den Gegendruck eines entsprechenden Untergrundes, auf dem der Körper aufliegt, am Eindringen in die Gefäße und das Gewebe der unmittelbaren Auflagestellen der Leiche gehindert ist.
Wird ein toter Körper in den ersten fünf bis sechs Stunden nach Herzstillstand umgelagert und dabei etwa von einer Rücken- in eine Seiten- oder Bauchlage bewegt, verschwinden die ursprünglichen Totenflecken vollständig wieder, und es bilden sich an den veränderten tiefsten Bereichen der Leiche neue.
Nach etwa sechs Stunden ist die Konsistenz des Blutes bereits soweit verändert, dass bei Umlagerung die ursprünglichen Totenflecken nicht mehr komplett verschwinden, sondern nur noch verblassen. Es bilden sich bei Positionsveränderungen der Leiche aber weiterhin neue Flecken aus. Man spricht daher von doppelten Totenflecken. „Die gab es“, so Sieker, „bei Mundlos und Böhnhardt eindeutig nicht.“
Nach etwa zwölf Stunden ab Todeseintritt verändert sich dann die Position der Totenflecken bei Umlagerung einer Leiche nicht mehr.
Soweit der Forensikern seit langem bekannte Ablauf.
Und welcher Befund ergab sich nun bei Mundlos und Böhnhardt?
„Betrachten wir zunächst die Auffindesituation der Leichen, wie sie polizeilich protokolliert wurde. Da finden wir“‚ Sieker zieht die Kopie eines amtlichen Dokumentes[14] bei, „für Mundlos: ‚[…] wurde sitzend zwischen dem Schrank und der geöffneten Tür vom Hygieneraum aufgefunden‘[15] und für Böhnhardt: ‚[…] liegt in Bauchlage auf der linken Körperseite […]‘.“
Ekkehard Sieker fährt fort: „Und nun zu den Schlussfolgerungen, die ich hier gegenüber der Beweisführung im Taschenbuch auf ihren Kern verkürze: Wären die beschriebenen Auffindesituationen diejenigen, in denen Mundlos und Böhnhardt starben – und das behaupten BKA und Bundesanwaltschaft ja weiterhin unverdrossen –, dann hätte Mundlos Totenflecken im Gesäßbereich und auf der Rückseite beider Oberschenkel aufweisen müssen und Böhnhardt auf der linken vorderen Körperseite. Ausweislich der Sektionsfotos befanden sich die Totenflecken aber bei beiden Leichen – auf dem Rücken. Und für Mundlos ist überdies im Sektionsprotokoll unter Punkt 18 ausdrücklich vermerkt: ‚Gesäß und Oberschenkelrückseiten unauffällig‘. Das heißt, als die beiden Toten in die Position gebracht wurden, in der man sie auffand, ist schon keine Veränderung an den Totenflecken mehr eingetreten. Ergo müssen Mundlos und Böhnhardt zu diesem Zeitpunkt bereits mindestens zwölf Stunden tot gewesen sein. Da der Camper am 4. November 2011 mittags, um 12:05 Uhr, entdeckt wurde, liegt beider Todeszeitpunkt praktisch zwangsläufig vor Mitternacht am 3. November. Das Wohnmobil, dafür sprechen ja auch weitere Sachverhalte, ist also als Tatort inszeniert und nach Stregda verbracht worden, um – neben der Zwickauer Wohnung des Trios Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe – als eine der zwei maßgeblichen Grundlagen dafür zu fungieren, der Öffentlichkeit eine bestimmte Geschichte zu erzählen: die Geschichte vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), mit der unter eine ganze Palette bis dato unaufgeklärter Verbrechen – zehn Morde, 15 Banküberfälle, zwei Bombenattentate – ein Schlussstrich gezogen werden konnte. Und zwar einer, der zugleich Dienste wie den Verfassungsschutz von jedem Verdacht federführender Beteiligung exkulpieren sollte.[16]
Nun ja, den Banküberfall am Morgen des 4. November in Eisenach jedenfalls – von den Behörden ebenfalls Mundlos und Böhnhardt zugeschrieben – können die beiden schon rein physisch nicht mehr begangen haben. Damit sind wir zugleich auch wieder bei der Frage, ob und wenn ja bei welchen der dem Duo von den Behörden zugeordneten Verbrechen die beiden überhaupt die Täter waren. Aber darüber haben Sie ja bereits bei früherer Gelegenheit[17] ausführlich berichtet.“

*

Wann, wie und wo also starben Mundlos und Böhnhardt?
Sieker: „Schorlaus und mein Fazit nach derzeitigem Stande lautet:

  • Wann? Genau wissen wir das nicht. Aber nicht später als am 3. November 2011 gegen Mitternacht, also mindestens zwölf Stunden vor dem Auffinden des Wohnmobils. Bei dieser Sachlage muss beider Todeszeitpunkt im Übrigen nicht übereinstimmen.
  • Wie? Das ist bisher nicht abschließend geklärt. Krönlein-Schüsse mit einer Pumpgun führen zwar zwangsläufig zu tödlichen Verletzungen, aber diese Schüsse könnten bei Mundlos und Böhnhardt auch post mortem erfolgt sein – etwa um Spuren einer andersartigen Tötung zu beseitigen. Immerhin ist Mundlos die Pumpgun vor dem Schuss in den Rachen geschoben worden, ohne dass es Spuren von Abwehr seinerseits gäbe.
  • Wo? Das ist bislang völlig unklar. Im Wohnmobil und in Stregda allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht.“

Und nach einigen Augenblicken: „Lassen Sie mich, um einigen möglichen Spitzfindigkeiten gegen unsere Darstellung von vorn herein den Wind aus den Segeln zu nehmen, noch etwas hinzufügen: Unser Abriss über die Physiologie von Totenflecken im Taschenbuch konzentriert sich im Wesentlichen auf das, was üblicherweise passiert, auf den, wenn Sie so wollen, Regelablauf. Natürlich gibt es Ausnahmetatbestände, die diesen Ablauf merklich oder auch stark modifizieren können. Darauf muss ich hier aber nicht im Einzelnen eingehen, denn eines bleibt in jedem Fall ausgeschlossen: Dass der Herzstillstand bei Toten, die in sitzender Position oder bäuchlings aufgefunden wurden, deren einzige Leichenflecken jedoch auf dem Rücken manifest waren und sich überdies nach der Bergung und wiederholten Umpositionierung der Leichen – wie bei Mundlos und Böhnhardt – nicht mehr veränderten, in der Auffindeposition eingetreten ist. Solche Toten sind weder in dieser Position gestorben, noch in den ersten zwölf Stunden nach dem Stopp der Blutzirkulation auch nur in diese Position gebracht worden.“

*

Sollten sich Schorlaus und Siekers Überlegungen und Schlussfolgerungen bestätigen, dann wäre ein erweiterter Suizid im Camper in Stregda am Mittag des 4. November 2011 definitiv ausgeschlossen. Die Causa Mundlos/Böhnhardt würde damit endgültig zum Mordfall, und die Frage, ob Menzel beauftragt oder genötigt wurde, vor Ort so zu „ermitteln“, wie er es tat, nämlich offensichtlich um den Mord zu vertuschen und insbesondere die bereits voll ausgeprägte Totenstarre der Leichen nicht feststellen zu lassen, müsste dann wohl auch vom zweiten Thüringer NSU-Ausschuss endlich offiziell gestellt werden.[18] Und der von einem der dortigen Ausschussmitglieder, der Linken-Abgeordneten Katharina König, Menzel ausgestellte Persilschein[19] erweist sich im Lichte von Schorlaus und Siekers neuen Darlegungen und Schlussfolgerungen einmal mehr als – gelinde gesagt – voreilig.
Nun sind Schorlau und Sieker natürlich keine Gerichtsmediziner. Insofern bedürfen ihre jetzigen Ausführungen einer fachwissenschaftlichen Überprüfung und Expertise.
Der gegenwärtige NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages etwa dürfte damit wohl kein Problem haben: Quasi in der Nachbarschaft waltet Michael Tsokos seines Amtes – Chef der hauptstädtischen Gerichtsmedizin und einer der ausgewiesensten Kompetenzträger seiner Zunft hierzulande.
Sollte allerdings auch der zweite Thüringer NSU-Ausschuss entsprechende Aufklärungsambitionen entwickeln, dann muss zwingend davor gewarnt werden, erneut die Jenenser Morgue-Koryphäen mit einer entsprechenden Expertise zu beauftragen.[20]
Es war übrigens ausgerechnet Michael Menzel, der die Chuzpe hatte, den Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs für ihre Dokumentation „Der NSU-Komplex“ (Erstausstrahlung: 6. April 2016) in die Kamera zu sagen: „Wenn man die Bewaffnung gesehen hat […] Also die (Mundlos und Böhnhardt – G.M.) hätten sich ja nicht unbedingt selbst erschießen müssen. Sondern vielleicht gibt’s da ʼne Geschichte, die wir noch nicht kennen.“[21]

Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand. Denglers achter Fall, Taschenbuch-Ausgabe, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 427 Seiten, 9,99 Euro.


[1] – Diesen Zeitpunkt nennt die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft für den Münchener NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und andere; vgl. 2 BJs 162/11-2. 2 StE 8/12-2. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Anklageschrift, Karlsruhe, 5.11.2012 (im Folgenden: Anklageschrift), S. 22.

[2] – Überhaupt ist an der Rolle der Jenenser Gerichtsmedizin im Fall Mundlos/Böhnhardt und nicht zuletzt an den Aussagen von deren Leiterin, Prof. Dr. med. Else-Gitta Mall, vor den bisherigen zwei NSU-Untersuchungsausschüssen des Thüringer Landtages einiges höchst zweifelhaft; siehe ausführlicher:

[3] – Menzel erklärte konkret: „Die Todesbescheinigung ist […] in Absprache mit der Gerichtsmedizin passiert, das war […] unter meiner Führung, das heißt, wo die Gerichtsmedizin da war (Gemeint ist hier offenbar ein Zeitpunkt am 4. November 2011 kurz nach 13:00 Uhr, also nur wenig mehr als eine Stunde nach Entdeckung des Wohnmobils, als G. Mall, die Chefin der Jenenser Gerichtsmedizin, und Dr. Reinhard Heiderstädt, der spätere leitende Obduzent von Mundlos und Böhnhardt, beim Wohnmobil in Stregda eintrafen und sich dort kurzzeitig aufhielten; zu diesem Zeitpunkt hatten noch keinerlei kriminaltechnische Untersuchungen im Wohnmobil oder medizinische, respektive forensische an den Leichen stattgefunden; letztere wurden von den Gerichtsmedizinern dort auch nicht vorgenommen! – G.M.), wurde auch darüber gesprochen, wie dann entsprechend der Totenschein zu fertigen ist.“ Siehe Thüringer Landtag, 6. Wahlperiode, Untersuchungsausschuss 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 15. Sitzung am 28. April 2016: Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme, S. 60.

[4] – Anklageschrift, S. 22 f.

[5] – Ebenda, S. 214 f.

[6] – Ebenda, S. 215.

[7] – TH1309-023340-11/9, Stregda, publiziert am 27.12.2011, S. 514.

[8] – So heißt es in der Anklageschrift: „Als Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt […] in dem in Eisenach-

Stregda in der Straße Am Schafrain geparkten Wohnmobil […] entdeckt wurden, feuerten sie noch aus einer Maschinenpistole auf die sich zu Fuß nähernden Polizeibeamten, um durch deren Tötung ihre Entdeckung zu verhindern und unerkannt entkommen zu können.“ (Anklageschrift, S. 22.)

[9] – Legt man die Angaben der Sektionsprotokolle zugrunde, so liegen keinerlei beweiskräftige Belege aus dem Wohnmobil für den Verbleib von etwa zwei Kilogramm Hirnmasse der beiden Toten vor.

[10] – Siehe Gabriele Muthesius: Das NSU-Phantom, Das Blättchen 26/2015; http://das-blaettchen.de/2015/12/das-nsu-phantom-34760.html – aufgerufen am 24.03.2017;
dieselbe: „Besenrein“ – oder: „Wie viel Staat steckt im NSU?“, a.a.O.;
dieselbe: Fünf Jahre NSU-Ermittlungen – Fakten, Fakes & Fehler, a.a.O.;
dieselbe: NSU. Michael Menzel und der Tatort Eisenach-Stregda, Das Blättchen 3/2017; http://das-blaettchen.de/2017/01/nsu-michael-menzel-und-der-tatort-eisenach-stregda-38815.html – aufgerufen am 24.03.2017.

[11] – Siehe Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand. Denglers achter Fall, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, S. 384. (Für diesen Abschnitt des Buches, beginnend auf S. 367, ist Ekkehard Sieker als Ko-Autor ausgewiesen.)

[12] – Zum entsprechenden Foto hier klicken.

[13] – Siehe ebenda, S. 384 ff.

[14] – Siehe Bundeskriminalamt, Kriminaltechnisches Institut, Gutachten zur Tatrekonstruktion. Aktenzeichen KT21-2011/6171/35, S. 9 f.

[15] – Damit ist exakt die Position von Mundlosʼ Leiche beschrieben, wie sie von der Polizei auch fotografisch dokumentiert wurde; zum Foto hier klicken.

[16] – Zur Rolle des Verfassungsschutzes im Kontext des NSU-Komplexes siehe ausführlicher Gabriele Muthesius: NSU – Teilkomplex: Verfassungsschutz, Das Blättchen, 25/2016; http://das-blaettchen.de/2016/12/nsu-–-teilkomplex-verfassungsschutz-38193.html – aufgerufen am 24.03.2017.

[17] – Sieker bezieht sich hier auf Gabriele Muthesius: Fünf Jahre NSU-Ermittlungen, a.a.O.; dort lautete die Zusammenfassung zur Spurenlage bei den Mundlos und Böhnhardt zugeschriebenen Verbrechen: „Für keinen der neun Mordtatorte, für die diese Ceská 83 als Tatwaffe identifiziert wurde, sind Spuren von Mundlos und Böhnhardt nachgewiesen.
Keine Fingerabdrücke, keine DNA.
Ähnlich sieht es bei Zeugenaussagen aus.
Dass Mundlos und Böhnhardt überhaupt mit diesen Morden (an acht Kleinunternehmern türkischer und einem griechischer Abstammung – G.M.) in Verbindung gebracht werden können, beruht im Kern allein auf dem Auffinden des ‚Bekenner‘-Videos und dieser Ceská 83. Auf der wiederum ebenfalls keine Spuren von Mundlos und Böhnhardt festgestellt werden konnten.
Da der Ermittlungsstand bezüglich Fingerabdrücke, DNA sowie Zeugenaussagen zum Heilbronner Polizistenmord, zu den beiden Attentaten in Köln sowie zu den 15 Raubüberfällen vergleichbar dürftig ist, bleibt als Zwischenstand zu konstatieren: Ermittlungsbehörden, Dienste und Staatsanwaltschaften haben definitive Beweise für die Anwesenheit von Mundlos und Böhnhardt an den Tatorten der ihnen zur Last gelegten Morde, Attentate und Raubüberfälle bisher nicht erbracht. Und zwar nicht für einen oder zwei Tatorte, das soll schon vorgekommen sein, sondern für alle 27 Tatorte (zehn Morde, zwei Attentate, 15 Raubüberfälle).“

[18] – Inoffiziell ist das durch die Vorsitzende der beiden Thüringer NSU-Ausschüsse, Dorothea Marx (SPD), praktisch bereits geschehen. Zur Erinnerung: Mein vorangegangener NSU-Beitrag zur Rolle von Michael Menzel im Zusammenhang mit dem Tatort Stregda hatte mit einer Mutmaßung von Marx geendet. Diese hatte auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Erfurt am 03.11.2016 geäußert, dass Menzel „möglicherweise doch von höherer Stelle gesagt bekommen hat: Schaffʼ das Ding dort mal weg. Das könnte […] sehr schlüssig sein […].“ (Fünf Jahre NSU – Aufklärung unerwünscht?; https://www.youtube.com/watch?v=HRXWIl6jJjc – Aufruf und Download am 22.01.2017, Minute 13:35.)

[19] – König hatte nach Menzels erneuter Einvernahme durch dem zweiten Thüringer NSU-Ausschuss, die am 28.04.2016 erfolgt war, in einem Interview auf Radio FSK 93,0 erklärt: „Ich glaube, wenn Herr Menzel da ’n Stück weit von, ich nenn’s jetzt mal verletzte Eitelkeit oder auch generell verletzte Persönlichkeit, wenn er das ’n bisschen lassen könnte und an zwei, drei Stellen einfach sagen könnte, das mag aus heutiger Perspektive ’n Fehler sein, aus damaliger Sicht war’s die richtige Entscheidung, dann wärʼ das alles [was am 4. November in Stregda an kriminaltechnischer Routine auf Menzels Veranlassung hin unterblieb oder gröblich missachtet wurde; siehe dazu ausführlich Muthesius: NSU. Michael Menzel, a.a.O. – G.M.] überhaupt keine […] Frage mehr.“ (http://www.freie-radios.net/76977; Aufruf und Download am 09.05.2016, ab Minute 21:10.)

[20] – Siehe dazu Endenote 1.

[21] – Stefan Aust / Dirk Laabs, Der NSU-Komplex; http://media.ndr.de/progressive/2017/0131/TV-20170131-1245-2400.hq.mp4 – Aufruf und Download am 03.02.2017, ab Minute 1: 24:19.