28. Jahrgang | Nummer 8 | 21. April 2025

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Vatermal“ – Gorki Theater / Paul Lincke, Dorothy Parker und Marlene Dietrich – ein Dreier im Theater im Palais / „Der Revisor“ – Schlossparktheater

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Gorki: Großartig, herzbewegend

Es ist noch nicht lange her, als Ümran abgehauen ist; denn ihr Zuhause bei einer Tante, das war kein Zuhause. Und das Dorf tief in der Türkei, wo sie mit den Eltern lebte, war durch Erdbeben zerstört. Also gingen Mama und Papa nach Deutschland – ohne Ümran. Sie wurde untergebracht bei der lieblosen Verwandten, wo das Kind nicht glücklich wurde. Endlich, als Volljährige, da packte sie ihre Sachen und folgte den Eltern Ende der 1970er Jahre nach Gelsenkirchen. Im Dönerladen fand sich ein Job. Es war harte Arbeit, war Schinderei.

Dann Silvester anno 1982: Big Party, Tanzen, Depeche Mode und ein schmucker Mann namens Metin. Das große Glück! Zwei Kinder kamen, Aylin und Arda, doch Papa Metin verschwand eines Tags nach einem der vielen gewalttätigen Kräche. Und hinterließ einen Berg Schulden (die verdammte Spielsucht!). Da stand sie da, verlassen, verloren, mit den zwei Kindern und kaum Geld. Ümran griff zur Flasche. Und konnte sie lange nicht loslassen.

Tochter Aylin übernahm eine Pflegefamilie, Arda, der künstlerisch begabte Sohn, hielt durch, verfolgte unbeirrt seine Ambitionen, ließ die Kumpels hinter sich, von denen die meisten im Knast landeten oder in der Abschiebe. Er verließ Gelsenkirchen und ging nach Berlin. Ein Literaturstudium, um Schriftsteller zu werden.

Was für eine Familiengeschichte! Was für Daseinskurven zwischen gegensätzlichen Welten, zwischen euphorischen Höhenflügen und grauenvollen Abstürzen, schwerem Leid, wärmender Hoffnung, eiskalter Enttäuschung. Wahrlich ein dramatischer Stoff für Necati Öziris Roman „Vatermal“, in allen Feuilletons gefeiert und platziert auf der Shortlist vom Deutschen Buchpreis 2023.

Im Mittelpunkt von Öziris verzweigter Erzählung, es ist die eines Sohnes der ersten Generation türkischer Einwanderer, steht die traumatisierte Mutter-Sohn-Beziehung Ümran-Arda und das schwärende Wundmal, das Vater Metin einst in die daraufhin zerrissene Familie schlug.

Regisseur Hakan Savas Mican ist berühmt für seine großartigen Adaptionen von Romanen aus dem längst zu Deutschland gehörenden migrantischen Milieu. Im Gorki beispielsweise „Unser Deutschlandmärchen“ von Dincer Gücyeter; eingeladen zum Berliner Theatertreffen jetzt im Mai (Blättchen 12/2024).

Für „Vatermal“ filterte Mican signifikante Szenen und fügte sie zu einer Art theatralischem Skizzenblock. Die einzelnen Blätter sind kontrapunktisch verbunden durch packend gestaltete musikalische Nummern, begleitet von Cello und Percussions (Kristina Koropecki, Mascha Juno).

Das faszinierende Dreier-Ensemble Sesede Terziyan (Mutter Ümran), Flavia Lefèvre (Tochter Aylan) und Doga Gürer (Sohn Arda) singt solistisch oder chorisch; dann spielt es wieder monologisch oder im Dialog Episoden, Anekdoten, Geschichten aus dem doch erschütternd harten Leben der drei. Da fallen Tiefernstes, Schmerzlichstes bis hin zum Tod, Aggression, Wut, Bitterkeit und Verbitterung zusammen. Aber auch schüchternes einander Nähern und Verzeihen, Zartheit und trotzige Lebenslust.

Das alles in einer Art Revue, in der Texte und Musiken, Tempi und Lautstärken mit dramatischer Finesse arrangiert sind. Passenderweise auf einer leuchtend rot ausgeschlagenen Showbühne. – Was schwer zu machen ist, hier gelingt’s: das Aufblättern schicksalsschwerer Lebensläufe ohne theatralisches Ausmalen einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Landschaft. Denn alles ist empfindsam gebunden ins Entertainment. Ein großartiger Abend. Herzbewegend.

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Theater-Dreier im Palais – Eins: Paul Lincke nebst Prinzess in der Luft

Er war stolz auf seinen perfekt gewichsten Wilhelm-Schnauz. Aber auch sonst fühlte Paul Lincke kaisertreu und feierte Triumphe als Komponist schmissiger Parademärsche oder gefühlvoll deftiger Berliner Bierlokal-Romantik.

Der Sohn eines Behördendieners offenbarte früh schon sein musikalisches Allround-Talent, ging nach Wittenberge, um dort in der Stadtpfeiferei sein Handwerk zu lernen. Alsbald fand er Anstellungen in Orchestern diverser Berliner Unterhaltungstheater, avancierte rasch zum tollen Hecht am Dirigentenpult. Zugleich reussierte er als Operettenkomponist. Sein Hit „Frau Luna“ (1899) gilt als Grundstein der Berliner Operette. „Die Berliner Luft, Luft, Luft“ schaffte es gar zur heimlichen Metropolen-Hymne.

Schade nur, dass „Prinzess Rosine“, seine „Große Operette mit Luftballett“, sechs Jahre nach „Frau Luna“ nicht gleichziehen konnte mit dem Sensationserfolg der Mond-Dame, die von heftig erregten Berliner Burschen mit abenteuerlichen Fluggeräten heimgesucht wird. „Rosine“ verschwand in der Versenkung, obgleich auch hier Berliner Burschen, die erstaunlicherweise den freilich ehrenwerten Beruf des Rohrlegers ausüben, sich auf die Socken machen ins Außerterrestrische zu besagter Jung-Aristokratin, die (Luftballett!) gesichert an diversen Drähten einst kunstvoll durch die Wolken schwebte über eine Art Schlaraffenland. Das gibt Gelegenheiten für große Ausstattung. Doch leider, die so lüsternen wie verfressenen Kerle quälen sich allzu albern durch die Handlung.

Nun hat die rührige Kleinbühne am Kastanienwäldchen das Ding ausgegraben, freilich ohne Luft, Drähte, Orchester und Corps de Ballet. Dafür personalgünstig mit einem Musiker und nur zwei Darstellern für zwei Dutzend Rollen. Stefanie Dietrich und Meik van Severen trällern ganz entzückend die Linckeschen Ohrwürmer, begleitet vom musikalischen Leiter Markus Zugehör auf den Tasten (alternierend: Insa Bernds). Ansonsten blödelt das von Stephan Bolz aufwändig, für die rasenden Verwandlungen zugleich praktikabel kostümierte Duo was das Zeug hält übers Brettl. Denn Regisseur Fabian Gerhardt versucht erst gar nicht, uns die luftige Geschichte näher zu bringen. Sondern lässt die Leine los für atemlos absurdes Ping-Pong.

Zwei: Doro, die Skandaldame vom Broadway

Einer solch zwielichtigen Bezeichnung würde Dorothy Parker, die weltberühmte und einzige Theaterkrtikerin New Yorks, sehr wohl zustimmen. Doch ist sie seit 1967 tot. Miriam Kohler hat die legendäre Bohémienne der 1920er Jahre jetzt mit fein komödiantischer und sängerischer Begabung wiederbelebt im TiP.

Die mannstolle, partygeile, alkoholsüchtige und mit fast allen Berühmtheiten ihrer Ära mehr oder weniger intime Dame war – nicht ohne Selbstironie – ein unentwegt Bonmots ausschüttender rhetorischer Wasserfall: „Reden, reden, aber bitte bösartig.“ Inwieweit ihre Urteile stichhaltig sind, lässt der so quirlige wie kurze Abend leider offen. Dafür erfahren wir ihre beiden Lieblingswörter: „Scheck“ und „beiliegend“, dem beizupflichten wäre.

Immerhin der Abend liefert einen Cocktail kleiner unterhaltsamer Spielszenen aus dem skandalumwitterten Dasein der scharfsinnigen Tochter deutsch-schottisch-jüdischer Einwanderer. Etwa ihr einsamer 30. Geburtstag anno 1923 („allein Walzer“); oder das Martini-Mixen (Gin!!!) und die verzweifelte Suche des beim Erotissimo im Taxi verlorenen Filmskripts „Der große Gatsby“ (F. Scott Fitzgerald).

Alles süffige Unterhaltung mit Klavierbegleitung (Peter-Philipp Röhm). Alice Asper hat sie szenisch arrangiert und für das Skript die Gedichtsammlung der Parker (übersetzt von Frank-Petrick Steckel) geplündert, noch dazu Michaela Karls Parker-Biografie. Sie erschien mit dem in jeder Hinsicht passenden Titel, der zugleich der Chose den Namen gibt: „Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber“. Prost!

Drei: Marlenes Mythen

TiP zum dritten: Wieder szenisch-musikalisch ein Mäandern – diesmal durchs Leben von Marlene Dietrich. Titel: „Eine Schöpfungsgeschichte“. Der annonciert den Schwerpunkt des von Paul Kaiser geschickt gebauten und spitz formulierten 70 Minuten kurzen (aber kurzweiligen) Stücks: Nämlich dem Nachspüren der Entstehung der Mythen, die den Weltstar umwehen.

Die großartige Alina Lieske kann tanzen, singen, spielen (am Pianoforte: Jürgen Beyer). Sie packt uns und überzeugt als raue Diseuse, sarkastische Lebenskennerin und politisch Hellsichtige. Bravo!

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Schlosspark: Krawall mit Blödköppen

Hallo Regie, es ist doch alles da! Und zwar im Bestzustand: Das perfekt gebaute, klug gestraffte Stück (Nikolai Gogol /Philip Tiedemann); die gewitzte Überarbeitung mit trefflichen Einschüssen zeitgenössischer Pointen (John von Düffel), das malerische Bühnenbild auf praktikabler Drehscheibe für flinke Szenenwechsel (Alexander Martynow), ein fein dynamischer Soundtrack (Peer Neumann) und ein wendiges Ensemble: Frank Kessler, Helene Barke, Krista Birkner, Lukas Benjamin Engel, Steffen Melies, Oliver Nitsche, Oliver Seidel.

Und warum läuft das verrückte Ding aus dem Tollhaus, Gogols Satire aus dem zaristischen Russland von 1835 „Der Revisor“, trotzdem nicht rund? – Weil die Regie, weil der kampferprobte Recke Philip Tiedemann den überflüssigen Ehrgeiz hatte, uns zu beweisen, dass er auch Slapstick kann. Kann er; kann er viel zu gut.

Deshalb wird aus jedem Auftritt, jeder Szene ein hechelndes Hin und Her, Spring und Stürz, Klipp und Klapp. Die gepeitschten Akteure können den Text nur noch schweißtreibend rauskeuchen. Lauter hektische Hampelmänner. Das nervt, anstatt zu packen.

Dabei geht es um einige handfeste Probleme, die uns alle umtreiben: Da ist ein korrupter sadistischer Stadthauptmann eines Provinznests, der die verlotterten Honoratioren der elenden Örtlichkeit, Pope, Postmeister, Schuldirektor, Gerichtsvorsteher, terrorisiert und Schmiergelder erpresst. Plötzlich tritt ein armer Schlucker auf, der fälschlicherweise für einen Revisor aus Moskau gehalten wird, von dem man weiß, dass der inkognito anreist. Und nun buhlt und bettelt die versoffene, verkommene Bagage untertänigst um die Gunst des (vermeintlichen) Kontrollchefs aus der Hauptstadt.

Opportunismus, Gemeinheit, Neid und Lüge wuchern. Man wirft bestechend mit Rubeln nur so um sich. Und der falsche Revisor spielt mit, lässt sich‘s gut sein, schlägt aber am Ende grinsend alle mit hämischem Wumms vor die Blödköppe.