27. Jahrgang | Nummer 12 | 3. Juni 2024

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal „Unser Deutschlandmärchen“ – Gorki Theater / „hildensaga. ein königinnendrama“ – Deutsches Theater

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Gorki: Vieles war schlimm, vieles schön

Es passiert einfach nicht: Fatma wird und wird nicht schwanger. In ihrer Verzweiflung ruft sie nach Maria, betet inbrünstig (Allah möge verzeihen!). Denn Maria kennt sich ja aus mit komplizierter Empfängnis … Und endlich: Es hat geklappt; freilich unter Mithilfe des Frauenarztes in Köln, Dincer kommt zur Welt, 1979; ihr ein und alles, das nur ihr gehört – und nicht dem lieblosen Vater, dem Säufer und Nichtsnutz, den sie hat heiraten müssen. Und der sie, als „Gastarbeiter“ fünf Jahre zuvor aus der Türkei nach Deutschland geholt hat. Nach Nettetal im Ruhrpott. Und dort ist sie es vor allem, die sich abrackert fürs Geldverdienen in der Fabrik. Und noch dazu als Erntehelferin auf den Gurkenfeldern.

Dincer aber, der soll so werden, wie Fatma sich einen ordentlichen, glücklichen Mann erträumt: Schule, Beruf, fleißig sein, Familie gründen, Nest bauen. Und wenn sie alt ist, wird er sich um seine Mama kümmern.

Aber Dincer ist anders, ganz anders als Fatma sich das vorstellt. Zwar hängt er rührend liebevoll an Mama, bewundert sie, macht ihr verrückte Geschenke (als Achtjähriger teure Schuhe vom ersten selbstverdienten Taschengeld). Ansonsten aber steckt er seine Nase in Bücher, schreibt Gedichte, Geschichten – statt sich für Mädchen und Fußball zu interessieren wie die anderen Jungs. Trotzdem quält er sich durch eine Schlosserlehre, doch abends fährt er nach Düsseldorf, will zum Theater. Fatma ist entsetzt. Normale Leute gehören dort nicht hin. Künstler – was ist das, wie soll man da sein Geld verdienen für Familie, Kinder, womöglich für ein Haus?

Doch Dincer bleibt stur, stellt rigoros klar: Mama, ich bin anders als du es willst! Er verlässt sie schweren Herzens, trollt sich, hungernd nach Abenteuer, neugierig durch die Welt. Und reift zum Dichter.

Der autobiografisch grundierte Roman „Unser Deutschlandmärchen“ von Dincer Gücyeter erzählt so herzbewegend wie spannend von einem schwierigen Leben des „Dazwischen“ – zwischen Herkunft und Dasein. Als türkischer Sohn (schwierig) und (auch schwierig) deutscher Ruhrpottjunge in zunächst ärmlichen Verhältnissen in einem Deutschland, das es seinen fürs Arbeiten gerufenen „Gästen“ schwer macht, hier anzukommen, heimisch zu werden. Und sich die „Gäste“ untereinander auch nicht grün sind. Erst recht sind sie gegen eine praktisch Alleinerziehende wie Fatma, die sich behaupten muss in einem ausbeuterischen, auch verflucht übergriffigen Arbeitsalltag und, nach Feierabend, im Klima türkischer Männerdominanz.

Der Regisseur Hakan Savas Mican hat aus Dincer Gücyeters Debütroman, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023, eine Art Revue gefiltert. Und diese opulent aufgefächerte, weit ins Historische greifende, ungewöhnlich freimütige Migrations- und Integrationsgeschichte konzentriert auf die bittersüße Mutter-Sohn-Geschichte zwischen Fatma (Sesede Terziyan) und Dincer (Taner Sahintürk).

Die beiden Gorki-Stars erzählen monologisch oder quasi im dramatischen Duett signifikante, von inniger Zuneigung und kritischer Ablehnung geprägte Momente der Selbst- und Identitätsfindung. Von Enttäuschung, vom Zweifeln, dem inneren Zerrissen-Sein. Da wechseln feindselige Härte, beklemmendes Befremden, Unverständnis, Tapferkeit, Wut, Mut, Liebe und Lebensfreude.

Eine faszinierender, mit Komik und Tragik durchsetzter Abend packender Szenen und musikalisch tollem Entertainment, gestützt von einer virtuosen Band: elegische türkische Lieder für Mama, westliche Pophits für den Buben – und natürlich Grönemeyer.

Was für ein Mix: Drama mit Show. Und einem Hauch betörender Sentimentalität über allem. – Tief bewegend. Beglückend.

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DT: Die wölfische Bestie in uns

Blutgetränkt sind die Fäden, mit denen seit Urzeiten die Nornen stricken am elenden Schicksalskleid der Menschen. Und sie wissen: Wir alle sind, was war. Nämlich Krieger im Krieg. Im gegenseitigen Gemetzel. Was sie nicht wissen: Wo und wie wohl der Fehler sich eingeschlichen hat ins tödliche Gestrick, in diesen „Schlamassel“, in dem die Menschheit steckt.

Große Klage, große Frage als Ouvertüre zur „hildensaga“ von Ferdinand Schmalz. Der für seine poetische Stärke auch von uns bewunderte österreichische Autor (und Bachmannpreisträger; Blättchen, 20/2021) erzählt mit heiligem Ernst für existenzielle Fragen, die er zugleich lakonisch kommentiert oder gewitzt zuspitzt, vom Lied der Nibelungen.

Dabei folgt er mit seiner famosen „Überschreibung“ erstaunlich dicht der Sage vom Drachentöter Siegfried, der für den rundum schwächlichen, doch umso machtgierigeren Burgunderkönig Gunther Islands Königin Brunhild erst freit und dann im Hochzeitsbett begattet. Denn die Eismeeramazone ist dank ihres Zaubergürtels „stark wie zehn Kerle“. Da muss Gunther passen. Und Siegfried helfen. Möglich machts seine Tarnkappe, mit der er Gunthers Gestalt anzunehmen imstande ist. Zum Lohn der bösen Kumpanei darf er, wie nett!, Gunthers Schwester Krimhild heiraten.

Was für ein Betrug an beiden Hilden! Der Kardinalfehler, der sich da einschlich in den von den Nornen beschworenen Schlamassel. Das Verbrechen, ausgeheckt von Gunthers ruchlosen Mannen am gesetzlosen Wormser Hof, wird aufgedeckt. Brunhild und Krimhild, erniedrigt und gedemütigt, eifersüchtig und rachsüchtig, entfesseln wie von Sinnen eine Spirale der Gewalt. Zur Alternative unfähig – Verzichten, Verzeihen, Verlassen –, kommt es zum nächsten Fehler. Die Opfer werden Täter. Und verkrampfen sich mit den auf Machterhalt gepolten Männern. Ein Drama aus Intrige, Lüge, Verrat, Egozentrik und Wahn. Angst, Feigheit nimmt seinen grauenvollen Lauf.

Der Autor umkreist in seiner aus Tragik und Groteske zusammengeschobenen Mär die Frage, inwieweit diese Macht-Mechanismen uns eingeschrieben sind. Schlummert in jedem von uns die Bestie? Macht erst Gewalt uns zum Menschen? Sind wir selbst die Katastrophe? Oder können wir das blutige Schicksalsgewebe der Nornen zerreißen? Können lassen; können verzichten?

Der „hildensaga“ Untertitel heißt „ein königinnendrama“. Wer da an Feminismus denkt, denkt zu klein. Zwar lodert Frauenpower, doch die hohen Hilden gehen im Krieg entfesselter Leidenschaften und eherner Prinzipien mit den fatalen Helden gemeinsam zugrunde.

Julischka Eichel als Kriemhild und Svenja Liesau als Brunhild spielen zwei Weibchen und zugleich zwei kluge stolze Frauen, aber auch zwei waidwunde Furien und Göttinnen der schlimmen Rache. Aufregend. – Und unverständlich, dass in der Regie von Markus Bothe auf dem von königlichen Frauenhänden ächzend ins Blutbad getriebenem Schicksalsrad (die Drehscheibe auf leerer Bühne: Kathrin Frosch), dass dort bloß Hampelmännchen sich aufspielen in kunterbunten Latzhosen und schrillfarbigen Zottelpelzen (Kostüme: Justina Klimczyk).

Da ist Janek Maudrich als albern muskelposender Schlaks Sigi, der einzige in Alltags-Jeans und T-Shirt, dem das Schwert ziemt, die Tat, und nicht etwa das Denken; daneben Florian Köhler als Läppisch-Gunther, Jonas Hien als Intrigenchef Hagen, Jeremy Mockridge als Hübsch-Höfisch-Gernot und Andri Schenardi als Softy-Giselher. Was für ein eitles, deppenhaft gespreiztes Gegenüber für die geschändeten Königinnen. Solch zeitgeistiges Verkaspern der bösen Kerle nimmt dem Ganzen Größe und Wucht.

Wenigstens Ulrich Matthes im kardinalsroten Gewand als einsame Stimme der Nornen hält die Balance zwischen existenzieller Not und gnadenlos höherem Witz. Er zelebriert im mitfühlend entrückten, zugleich eindringlich insistierenden, ja göttlich nüchtern wissenden Ton Klage, Kommentar, Warnung.

„Da draußen lauern wölfische Zeiten.“ So die Einsicht der einen, der letzten, grausam verreckenden Königin; dann sind alle tot. Es ist das schaurige Schlusswort des Abends.