24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „jedermann (stirbt)“ und „Fräulein Julie“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters.

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Er gilt als einer der schnellsten und erfolgreichsten Aufsteiger im – immer wieder erstaunlich! – so konkurrenzreichen Gewerbe der Stückeschreiberei. Ferdinand Schmalz. Gerade mal dreißig, da hatte er vier unverständlich, dafür kurios betitelte Stücke – „am beispiel der butter“, „dosenfleisch“, „die herzelfresser“, „Der thermale Widerstand“ – in die deutschsprachige Bühnenwelt geschleudert. Und wurde sofort überall gespielt.

„Es war eine große Umstellung, als plötzlich alle mit mir wollten“, erinnert sich der studierte Theaterwissenschaftler. Denn es sei schon ein Problem, nicht nur für Künstler, wenn der Erfolg schneller wachse als die Seele mithält. Dennoch ist offensichtlich, den knuffigen Burschen aus der Steiermark mit Schnauzer und feschem Hütchen stützten ein starkes Gemüt sowie ein originelles Talent. Man könnte sagen: Es ist der seltsam heftige Schmalz-Sound, ein raffinierter Schreibstil aus Dialekt und Kunstsprache – Vorbild Nestroy, der österreichische Volkstheater-Klassiker, der „selbst in sehr einfach gestrickte Witzen sehr subtile Stiche setzt“.

Das Stichwort ist gefallen: Stiche. Dass dieser Kerl Humor hat, ist klar. Schon Schmalz, sein Pseudonym, steht dafür; er wurde 1985 als Matthias Schweiger in Graz geboren. Doch kunstfertige Gewitztheit allein macht noch keinen inzwischen vielfach preisgekrönten Dramatiker. Den macht vielmehr seine genaue Beobachtungsgabe, sein scharf analytischer Blick auf Menschen, die zu signifikanten Figuren werden, gezeichnet mit ätzender Ironie und scharfem Sarkasmus. Satire, Groteske, Farce sind mithin die Spielwiesen seiner phantastischen Menschenkomödien.

Übrigens, soeben erschien sein Debüt-Roman „Mein Lieblingstier heißt Winter“. Ein morbider, aufregender, verrückter Text, krächzend und ächzend vom Töten und Sterben – prompt nominiert für den diesjährigen Deutschen Buchpreis. Und im Büro der Wormser Nibelungenspiele liegt sein Königinnendrama „hildensaga“ (wie immer kleingeschrieben) zur Festival-Uraufführung 2022 parat. Es geht um den Kampf der hohen Damen Krimi und Bruni gegen kriegerischen Männerwahn.

Bereits 2018 bekam Ferdinand Schmalz, Bachmann-Literaturpreisträger 2017, vom Wiener Burgtheater den Auftrag zur „Überschreibung“ des, wie er sagt, „Salzburger Heiligtums“; nämlich Hugo von Hofmannsthals Festspiel-Erbauungsstück „Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“. Schmalzens logischerweise überhaupt nicht schmalzige, sondern bissig-böse, packend sprachspielerische Neu-Schreibe des Klassikers – pfiffig-lakonischer Neu-Titel „jedermann (stirbt)“ – wurde von Stefan Bachmann als zynisch glitzernde Show der Menschendeformationen uraufgeführt. Deftig und giftig. Ein Mix, der begeisterte.

Noch kurz vor Corona-Ausbruch inszenierte der Georgier Data Tavadze das Spektakel am DT. Gleich nach der Premiere war Schluss mit lustig. Seither ruhte das Stück im Spind wie andere Schmalz-Stücke auch, die Rede ist von 50 Aufführungen im deutschsprachigen Raum.

Die Regie wurde dem Chef des Royal District Theatre Tiflis eigens vom DT vorgeschlagen, seltsamerweise. Denn: Der Mann aus Tiblissi kannte das Stück nicht. Es musste ihm erst übersetzt werden, weil: Er versteht auch kein Deutsch.

So ruhmreich der Regisseur in seiner Heimat auch sein mag, diesen „jedermann“ hat er offensichtlich missverstanden. Freilich, es geht ums Große und Ganze: Um das Verhältnis von Mensch und Geld und Welt und Tod. Und auch noch und vor allem um Moral. Doch Tavadze versetzt das „Spiel“ auf leerer Bühne von vornherein ins Trübe und Graue, in eine Art Agonie kurz vorm Tod. Eine muffig-kühle Abstraktion, die sowohl der prallen Sinnlichkeit als auch dem spitzen, überspitzten Ton des Textes entgegen steht. Jörg Pose als jedermann hockt meist apathisch auf einem Stuhl oder liegt gleich am Boden. Einzig Paul Grill und Niklas Wetzel dürfen in wortlosen Vor- und Nachspielen für etwas Bühnensport sorgen, indem sie sich – wir ahnen: als Gott & Teufel – wie junge Hunde hübsch miteinander balgen. Ansonsten wird in hingebungsvoller Müdigkeit in steifer oder verrenkter Körperhaltung an verschiedenen Mikrophonen rezitiert, teils atonal begleitet von Gefiedel und Gebläse (Kontrabass, Posaune, Klarinette). Beliebig aufgezogene Sprechmaschinchen labern also den starken Text schwach. So langweilt ein ausgelutschter Performancebtrieb von vorgestern.

Dabei geht es eigentlich hoch her, bevor der Tod unbarmherzig zuschlägt: Jedermann feiert – ganz Schmalz-Art – in seinem üppigen Garten, diesem „ungequälten ort“, ein rauschendes Fest. Aber da drängen durch den Sicherheitszaun ungebetene Gäste mit schrillen Forderungen: „gib uns genug, damit auf Dauer sich was ändert…“ Der – tolle Volte – so moralisch wie komisch aufgedonnerte Konflikt zwischen reichem Mann und armem Nachbar, der wäre doch prima für ordentlich bösen Komödienkrach. – Denkste! Alles matt und mau. Bis auf die beiden balgenden Bengel, die trotz aller Drolligkeit aber auch kaum aufmuntern. Weder auf der Bühne noch im Parkett.

Wieder am 3. Oktober.

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Bleiben wir in den DT-Kammerspielen. Vor Corona geprobt, jetzt gezeigt: „Fräulein Julie“ nach August Strindberg. Das Wörtchen „nach“ annonciert: Kein Wort vom Autor, alles neu vom russischen Regisseur Timofej Kuljabin (und dazu: Roman Dolzhanskij), übersetzt ins Deutsche von Olga Fediania.

Blick weit zurück: Vor einem Halbjahrhundert probten Jutta Hoffmann und Jürgen Holtz den politisch aufgeladenen Psycho- und Sex-Thriller mit einer Herrin Julie und ihrem Knecht Jean am Berliner Ensemble. Die beiden Stars des DDR-Theaters erzählten noch nach Jahrzehnten hingerissen, wie sie beim Proben zuweilen tagelang nur an einem einzigen Satz getüftelt hätten; derart komplex sei ihnen das psychosoziale Gespinst, derart groß die Angst, an Oberflächlichem oder bloß sexuell Nervenkitzeligem kleben zu bleiben. Deshalb suchten sie derart intensiv mit den Regissseuren B. K. Tragelehn und Einar Schleef nach stark Sinnbildhaftem im so Sinnlichen wie auch Sozialen der Konflikte zwischen Mann und Frau. Suchten nach Ausdruck für die Klüfte zwischen Unten und Oben, zwischen gesellschaftlichem Aufsteigwillen des einen und Aussteigwillen der anderen. Dreht sich doch alles um die steinigen, gefährlichen Wege zur Selbstfindung überhaupt, auf die ein jeder seinen Anspruch hat und auf denen Gemeinsamkeiten, Gegensätzlichkeiten, Machtgelüste, Abhängigkeiten, Unterwerfungen oder Hilflosigkeiten meist entsetzlich über Kreuz liegen. Die Produktion war epochal. Und wurde alsbald verboten.

Jetzt im DT sagt der Regisseur/Neu-Autor, „einer der derzeit aufregendsten Regisseure Russlands“ (PR-Ansage), der Text sei nicht das Wichtigste im Theater, es gehe vielmehr darum, was hinter oder unter ihm liege. Und geprobt habe man in einem „mitteleuropäischen Englisch“ (mit Sprachmittler-Assistenz).

Das Ergebnis ist nun genau das, was man damals am BE durch präzise Texterforschung zu verhindern wusste: Das Plattmachen der Figuren durch sozialpsychologische Kasperspielchen. Linn Reusse als Julie im roten Kleidchen muss am laufenden Band bloß Weibchen-Klischees produzieren – das durchtriebene Girlie, die Rache-Furie, hysterische Tussi, beleidigte Leberwurst, das heulende Elend oder verlogene Miststück. Immerhin, sie macht das gekonnt! Und Felix Goeser als Jean im grauen Angestelltenanzug ist verdonnert zum bloß Dauer-Deppen, der sich anzustrengen hat, gelegentlich den geilen Bock herauszulassen.

Man darf sagen, Timofej Kuljabin hat „unter oder hinter“ Strindbergs Worten wenig Brauchbares gefunden. Außerdem ist er der besserwisserischen Ansicht, man könne die „soziale Ungleichheit“ von Julie und Jean heut nicht mehr so wie anno 1892 erzählen. Meint obendrein, Strindberg ein geniales Schnippchen geschlagen zu haben durch eine Hinzu-Erfindung: Jean agiert neuerdings ferngesteuert via Knopf im Ohr. Julies übel gedemütigter Ex-Verlobter Thomas (Bozidar Kocevski) hockt im Sonderstudio vor Mikro und Monitor auf dem Dachboden und gibt Verhaltensbefehle nach unten. Jean soll nämlich Julie zu schmierigen Sauereien vor der Küchenzeile treiben, um sie mit versteckter Kamera aus einer Kaffeekanne zu filmen. Mit dem Schmuddel-Video aus der soften S-M-Pornoabteilung will Thomas Julie, die steinreich Verflossene, erpressen, derweil Jean, mittellos und degradiert zum Handlanger des kindischen Racheaktes, ein sattes Honorar winkt. – Einziger Lichtblick dieser unfreiwilligen Persiflage auf die beliebte TV-Sendung „Verstehen Sie Spaß“: Christine, Dienstfrau und Jeans ernüchterte Geliebte, zeigt der dämlichen Bagage – dem Regisseur etwa auch? – einen Vogel und haut ab.

Wieder am 4. und 5. Oktober.