28. Jahrgang | Nummer 6 | 24. März 2025

Werde und stirb – eine Pathogenese

von Jürgen Hauschke

Der Funker zu feig, um SOS zu funken.

Klabautermann führt das Narrenschiff.

Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff.

 

Reinhard Mey, Das Narrenschiff

 

Christoph Hein greift einen historisch bekannten Buchtitel auf für seinen mit 750 Seiten umfangreichen Roman, der vor wenigen Tagen bei Suhrkamp erschienen ist. Jahrhunderte vor dem Song von Reinhard Mey ging erstmals 1494 „Das Narrenschiff“ von Sebastian Brant in Druck. Der Buchdruck mit beweglichen Lettern war gerade erfunden worden. Die Moralsatire, heute würden wir sie als Kritik des Zeitgeistes einordnen, avancierte zum erfolgreichsten deutschsprachigen Buch vor der Reformation. Über einhundert Holzschnitte von hoher Qualität dürften wesentlich zum Erfolg beigetragen haben. Einhundert Narren nehmen Kurs auf das fiktive Land Narragonien. Beschrieben werden menschliches Fehlverhalten oder Laster mittels der Allegorie des Narren. Hieronymus Bosch, ein Zeitgenosse Brants, nahm das Buch vermutlich als unmittelbare Anregung für sein ebenso benanntes Triptychon, das heute im Louvre zu sehen ist.

Zunächst fällt der Schutzumschlag bei Heins Buch ins Auge. Das Bild auf dem Cover und die künstlerische Handschrift kennt man doch? Gezeigt wird ein Detail des riesigen Mosaikfrieses „Unser Leben“ von Walter Womacka. Besser bekannt als „Bauchbinde“ am Haus des Lehrers. Das Gebäude war das erste neu errichtete Hochhaus nach dem Zweiten Weltkrieg am Berliner Alexanderplatz. Womacka gestaltete ein Idealbild der sozialistischen Gesellschaft, angelehnt an mexikanische Wandbilder. Das Detail aus der Südwestseite soll die Lebenswelt der Künstler abbilden. Ein erster Ton ist gesetzt.

Christoph Hein erzählt am Beispiel seiner Figuren im Grunde die Geschichte – Aufbruch und Untergang – des deutschen Teilstaates, der sich die Errichtung einer sozialistischen, letztendlich klassenlosen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben hatte. Der Gesellschaftsroman, früher hätte man auch von einem Entwicklungsroman gesprochen, versucht, die gesellschaftliche Totalität als Panorama darzubieten. Dabei rückt Hein sechs Protagonisten der beträchtlichen Anzahl von Romanfiguren in den Mittelpunkt des Interesses: Yvonne und Dr. Johannes Goretzka, deren (Stief-)Tochter Kathinka, Rita und Professor Karsten Emser sowie Professor Benaja Kuckuck. Sie gehören beziehungsweise entwickeln sich zur Intelligenz, sie sind (außer Kathinka) Partei- und Staatsfunktionäre auf verschiedenen Ebenen. So entsteht im Roman überwiegend – mit einigen Ausnahmen – ein Blick von denen da oben auf das Land. Auch Figuren der jeweiligen Zeitgeschichte treten auf, wie zum Beispiel Walter Ulbricht, Anton Ackermann oder Erich Honecker, mitunter auch kaum verschleierte unter Pseudonymen: Markus Wolf als Markus Fuchs oder Rechtsanwalt Vogel als Kanzleichef Amsel.

Erzählt wird – teilweise simultan – von Ende April 1945 (Gruppe Ulbricht) bis zum Ende des Staates DDR im Jahr 1990 mit Rückblicken auf die Vorgeschichte und Ausblicken ins vereinte Deutschland.

Als ein Motto von zweien stellt der Autor einen Vers aus Goethes Faust II voran: „Hartnäckig wird es Welt und Nachwelt leugnen: Du schreib es treulich in dein Protokoll.“ Hier scheint wieder auf, was den Autor seit Jahrzehnten antreibt: Ein getreuliches Zeugnis zu geben als Chronist seiner erlebten Zeit. Was hier literarisch „protokolliert“ wird, ist kaum überschaubar und in seiner Vielfalt einzigartig.

Erst etwa in der Mitte des Romans (auf Seite 384) gibt sich die literarische Figur des Erzählers ein wenig zu erkennen. Es bleibt die einzige Stelle im Umfang von knapp einer Buchseite, und sie ist in Klammern und kursiv gesetzt: „Was das nun Folgende betrifft, kann ich mich nur eingeschränkt für die Wahrhaftigkeit verbürgen. Denn wenn ich ansonsten nur erzählte, was ich mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört habe, wenn ich nur Personen schildere, die ich zu meiner Freude oder zu meinem Leidwesen persönlich kennenlernte, sie schätzen durfte oder fürchten musste, die mir auf meinem Lebensweg behilflich waren oder mir Knüppel zwischen die Beine warfen, […] Ich werde weiterhin berichten, was ich vermag, und der Leser wird erkennen und anerkennen müssen, dass ich beschreibe, wofür ich mich verbürgen kann, für die Kapriolen, welche die deutsche und die Weltgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlugen, sowie für die höchst seltsamen Entwicklungen und unerwarteten Wendungen. Eine solche Bürgschaft kann ich für die folgenden vier Seiten nicht beanspruchen.“ In den besagten Seiten spielt übrigens die Adoptiv-Tochter von Lotte und Walter Ulbricht eine Rolle. Beate Ulbricht geht mit Kathinka Goretzka in die gleiche Pankower Schule. Dieses längere Zitat des Erzählers belegt dessen Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Er agiert allwissend und auktorial, sein Ich meldet sich, wie beschrieben, nur ausnahmsweise. Der Autor Christoph Hein und der Erzähler scheinen identisch zu sein.

Der Roman ist in vier Bücher mit jeweils etlichen Kapiteln strukturiert. Die erzählten 17 Jahre von 1945 bis 1961 nehmen knapp mehr als die Hälfte des Textes ein. Die verbleibenden 29 Jahre vom Mauerbau bis zur Auflösung der DDR und dem Beitritt zum Grundgesetz der BRD umfassen etwas weniger als die Hälfte des Textes. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass Hein sein Hauptaugenmerk auf das Werden richtete. In diesem Werden sieht er schon den krankhaften Keim des späteren Verschwindens des Landes. Ein zentraler Punkt ist dabei die Geißel des Stalinismus und der unzureichende Umgang mit ihm nach dem XX. Parteitag der KPdSU in der Sowjetunion und in der DDR.

Das Bild des Narren und des Narrenschiffs taucht mehrfach bei den beiden Professoren auf. Beide sehen sich in bestimmten Situationen als solche beziehungsweise auf einem solchen treiben. Karsten Emser, das ZK-Mitglied der SED, bereut „das große lange Schweigen“ zum Stalinismus und zu seinen Folgen.

Der Anglist Benaja Kuckuck – Kommunist, Jude, Schwuler, Zweifler, Ironiker, auch Opportunist, wie fast alle handelnden Personen – ist eine schillernde Hauptfigur des Romans. Laut Erzähler ist er ab den siebziger Jahren bis fast zum Schluss Chefredakteur und Herausgeber vom Sonntag, der Wochenzeitung des Kulturbundes. Die für mich interessanteste literarische Figur passt gar nicht zu den realen Chefredakteuren des Sonntags. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Hein selbst neben anderen 1990 als Gründungsherausgeber der Nachfolgezeitung Freitag wirkte. Die Welt Heins und die des Erzählers sind eben nicht immer deckungsgleich (wie es weiter oben noch schien).

Was über Kuckuck gesagt wurde, gilt auch für die anderen Protagonisten des Romans. Opportunismus und Karrierismus, das Klammern an die kleinen Privilegien werfen ihre Schatten, in sehr unterschiedlicher Ausprägung, aber fast bei jedem. Diese zutiefst menschlichen Eigenschaften waren damals verbreitet und sind es noch immer bis heute. Man richtet sich ein, mit der Neigung sich in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzufügen. Es sind keine strahlenden Helden, die gezeichnet werden. Nein, es sind Menschen mit ihren hehren gesellschaftlichen Träumen, ihren kleinen und großen Wünschen nach persönlichem Glück und Erfüllung. Am Ende bleibt fast nichts davon übrig.

Kathinka Goretzka, die im ersten Kapitel als junge Schülerin neben dem „dicken“ Präsidenten Wilhelm Pieck sitzt, was auf einer Postkarte des Verlags Bild und Heimat festgehalten und im ganzen kleinen Lande verbreitet wurde, hat am Ende des Romans vierzig Jahre später als erwachsene desillusionierte Frau die Karte wieder in den Händen – und zerreißt sie. Diese literarische Figur erinnert – der Autor bestätigt die Vermutung – an Heins erste Frau Christiane. Laut Hein sind die Romaneltern Goretzka seinen damaligen Schwiegereltern nachempfunden. In diesem Zusammenhang verwundert mich nicht, was ich beim Lesen des Romans vermutete, das der spätere Ehemann Kathinkas, Rudolf Kaczmarek, gewisse Züge von Christoph Hein selbst trägt. Beide sind zum Beispiel Pfarrerssöhne, Agnostiker und Studenten der Logik an der Leipziger Universität.

Hein erklärte einmal, er sei weder Ankläger, Verteidiger noch Richter seiner literarischen Figuren, er wolle sie lediglich für den Leser verstehbar gestalten. Das gilt in besonderem Maße auch für das Figurenensemble in „Das Narrenschiff“ und ist eine Stärke des Romans.

Bei aller Vielfältigkeit des Berichteten wird mancher Leser auf Desiderata stoßen. Insbesondere wenn er die erzählte Zeit wenigstens zum Teil miterlebt hat. Das ist nur natürlich und kein Mangel für den Gesellschaftsroman. Warum allerdings bei diesem Figurenensemble die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahr 1976 ausgeklammert wird und die sich daraus ergebenden Divergenzen etwa zwischen Künstlern und dem Partei- und Staatsapparat nicht einmal erwähnt werden, bleibt mir rätselhaft (siehe Beitrag von Walter Thomas Heyn zu Biermann in diesem Heft). Das berüchtigte 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965 oder das Sputnik-Verbot in der DDR von 1988 werden andererseits in ihren Auswirkungen auf die Psyche der Romanfiguren ausführlich beschrieben. Stellenweise korrigiert und erweitert der Roman sogar die bisherige Geschichtsschreibung, etwa indem er die Ablösung Ulbrichts durch Honecker 1971 als internen Staatsstreich mit den entsprechenden Zutaten erzählt.

Insgesamt ist das literarisch verarbeitete Werden und Sterben des als antifaschistische und sozialistische Alternative begonnenen gesellschaftlichen Versuchs kurzweilig zu lesen und geht sicher weit über das heutige durchschnittliche Wissen zu seinem Gegenstand hinaus.

Christoph Hein: Das Narrenschiff. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025, 752 Seiten, 28,00 Euro.